Der erste Eindruck ist positiv: Das Buch ist innen wie außen schön gestaltet. Das Layout ist ansprechend, der Text sorgfältig bearbeitet und durch einen "Anhang des Verlags" (mit Abkürzungsverzeichnissen, einem Glossar und drei Registern) auf den üblichen Buchumfang gebracht. Auf dem Schutzumschlag finden sich ebenso wie auf dem roten Leineneinband, dort allerdings in Silber- und Goldgravur, drei Namen: Joseph Ratzinger, Benedikt xvi., Jesus von Nazareth - die ersten beiden silbern, letzterer in Gold. Die Namen vergrößern sich in der angegebenen Reihenfolge, so dass der Papstname die Mitte zwischen "Ratzinger" und "Jesus" einnimmt, quasi von diesem zu jenem hinleitend. Verkaufstechnisch ist das zu verstehen, nur liegt mit diesem Buch nach Ausweis von Klappentext und Vorwort eben kein "lehramtlicher Akt" vor, sondern Ausdruck eines "persönlichen Suchens". Der Autor ist also quasi eine Doppelfigur, changierend zwischen dem Theologieprofessor Ratzinger und dem verkaufsfördernden Papst.
Ebenfalls unklar bleibt die Gattung des Buches: Es schwankt in eigenartiger Weise zwischen Predigtmeditation, Glaubensbezeugung und exegetisch-wissenschaftlicher Darlegung. Dabei bewegt sich letztere durchgehend im Kontext traditioneller römisch-katholischer Dogmatik, was zu einigen Zusammenstößen mit dem Konsens neuerer historisch-kritischer Untersuchungen zu den ausgelegten Texten führt: Für den Autor ist praktisch alles tatsächlich historisch geschehen, was in den beiden ersten Kapiteln des Matthäus- und Lukasevangeliums zu lesen ist: Engelsverkündigungen, Jungfrauengeburt, Besuch der Magier, Flucht nach Ägypten und vieles mehr werden als historische Ereignisse dargestellt, letztlich aus Marias Erinnerungen überliefert, in denen sich die alttestamentlichen Prophezeiungen tatsächlich erfüllt haben.
Die Erkenntnis, dass gerade in diesem Kapiteln des Neuen Testaments vieles erzählt wird, was seinen Ursprung eben jenen Prophezeiungen verdankt, wird beiseitegeschoben; tatsächliche Textprobleme, wie etwa die widersprüchlichen Angaben zu den Wohnortswechseln zwischen Nazareth und Bethlehem bei Matthäus und Lukas, werden eingeebnet; religionsgeschichtliche Parallelen mit Verweis auf die prinzipielle Andersartigkeit neutestamentlicher Texte ignoriert.
Das Rätsel der vier Frauen im matthäischen Stammbaum, die dort hinführend auf Maria genannt sind, ist dahingehend gelöst, dass alle diese Frauen keine Jüdinnen gewesen seien, damit die Sendung Jesu zu "Juden und Heiden" sichtbar werde. Dies ist eine alte Interpretation, die allerdings daran scheitert, dass Maria, die fünfte Frau auf der Liste, keine "Heidin" war. Allerdings wurde die Liste zur Zeit des Nationalsozialismus eben gerade als Beleg interpretiert, sie sei es doch gewesen, um Jesus zum Arier zu machen. Wahrscheinlicher ist, dass sich alle fünf Frauen durch ein nicht-gesellschaftskonformes Sexualleben auszeichnen, was im vorliegenden Buch allerdings nicht thematisiert wird.
Am Ende kann kaum noch überraschen, dass auf den vier Seiten mit Literaturhinweisen ausnahmslos Titel von männlichen Autoren verzeichnet sind (die Mehrheit katholisch, einige Protestanten) und auch keine einzige Veröffentlichung von jüdischer Seite erwähnt wird.
Das Buch soll laut Vorwort "vielen Menschen auf ihrem Weg zu Jesus und mit Jesus" helfen. Ich habe versucht, mich darauf einzulassen, aber bei meiner Lektüre überwogen letztlich Ärger und Langeweile. Es gibt viele interessante Bücher zum Thema, wenn dieses wegen seines Verfassernamens mehr gelesen wird als jene, so ist es schade.
Joseph Ratzinger/ Benedikt XVI.: Jesus von Nazareth. Prolog: Die Kindheitsgeschichten. Herder Verlag, Freiburg 2012, 176 Seiten, Euro 20,-.
Silke Petersen
Silke Petersen
Silke Petersen ist Professorin für Neues Testament an der Universität Hamburg.