Neulich mussten wir an dieser Stelle eine Philippika vom Stapel lassen. Ist ja auch zu toll, wie sie es treiben, unsere Technokraten der Kulturpolitik. Am Werk vorzugsweise Verwaltungsjuristen, damit beschäftigt, Bibliotheken zu schließen, Orchester wahlweise zu fusionieren, bestehende Fusionen aufzulösen, Kulturpartnerschaften aufzukündigen. Schützenhilfe leisten so genannte Manager des Kulturinfarkts. In schöner Koinzidenz zur "marktförmigen Demokratie" (Angela Merkel) soll eine "marktgerechte" Kunst her: Was sich verkauft, darf bleiben. Die andere Hälfte dichtmachen, lautet die Parole. Kurz, was Populismus wirklich ist - bei Haselbach/Klein/Knüsel/Opitz: Der Kulturinfarkt, Knaus-Verlag 2012, ließe es sich lernen. Soweit so schlecht.
Doch immerhin, so ließe sich argumentieren, gehören zu der hier beschriebenen Sorte Schandtat immer zwei: der, der sie macht, und der andere, der sie zulässt. Wie und weshalb, könnten wir also fragen, ist es überhaupt so weit gekommen, dass wir die "Experten" gewähren ließen und lassen? Haben wir - gewissermaßen die demokratische Basis aller Kunstfreunde - sie womöglich nur dort hinberufen - mit unserem Kreuz, mit unseren Gebühren -, um uns dazu selber keine Gedanken mehr machen zu müssen?
Eine Frage, die schon andere umgetrieben hat. Beispielsweise einen älteren Autor - ein ziemlich kluger Kopf, muss man im nachhinein sagen - der diesbezüglich ebenfalls einen Zusammenhang vermutete: Wenn wir, so sein Argument, "unmündig" bleiben, haben "es die anderen leicht, sich zu Vormündern aufzuwerfen". Wir, so die These, arbeiten mit an unserer Entmündigung. "Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt und so weiter, so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann." Ein Blick auf die mit Ratgeberliteratur vollgestellten Auslagen der Buchhandlungen und Zeitschriftenverkäufer, auf die Talk- und Showrunden, die Vormach-Sendungen unserer schönen neuen Radio- und Fernsehwelt zeigt: Das Bedürfnis, das hier beschrieben wird, scheint noch immer intakt zu sein. Hat etwa der Boom von Kochsendungen dazu geführt, dass selber gekocht wird?
Unseren Autor hätte dies alles kaum gewundert, wohl aber bestätigt in seinem nüchternen Blick auf die Wirklichkeit. Sicher hätte er, in seiner Manier, "Faulheit und Feigheit" ins Spiel gebracht, als "Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen, dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen". Und er hätte nicht davor zurückgescheut, für unsere expertensüchtige Denkungsart einen drastischen (wenn auch nicht ganz hoffnungslosen) Vergleich beizubringen - das liebe Vieh nämlich. "Nachdem sie," besagte 'Experten' und 'Vormünder' nämlich, "ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig verhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperreten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen drohet, wenn sie es versuchen, allein zu gehen. Nun ist diese Gefahr zwar eben so groß nicht, denn sie würden durch einigemal Fallen wohl endlich gehen lernen; allein ein Beispiel von der Art macht doch schüchtern und schreckt gemeiniglich von allen ferneren Versuchen ab." De nos fabula narratur, diese Geschichte wird über uns erzählt. Sicher nur eine der Fragen, die der kleine aber feine Aufsatz, erschienen im Dezember-Heft 1784 der Berlinischen Monatsschrift aufwirft. Titel: "Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?" Der Autor: Immanuel Kant.
Georg Beck