Wolke der Zeugen

Autobiographischer Blick
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Im Ganzen wird auch für dieses neue Buch Schorlemmers gelten: Zustimmung und Kritik liegen dicht beieinander.

Die Autobiographie von Friedrich Schorlemmer hat es in sich: Wer hier eine der in den vergangenen Jahren häufig erschienenen autobiographischen Texte eines "wendeerfahrenen" Kirchenmannes erwartet, wird nicht enttäuscht; er muss sich aber bei der Lektüre sehr anstrengen. Das Inhaltsverzeichnis verspricht eine chronologische Abfolge der Lebensabschnitte des 1944 geborenen Pfarrerssohnes. Diesen äußeren, zeitlichen Rahmen verlässt Schorlemmer immer wieder, es finden sich Kapitel mit inhaltlichen Schwerpunkten über die Zeiten hinweg. Auch dabei sind Erinnerungen an einzelne Lebensereignisse eingeflochten. Der Leser gewinnt den Eindruck Lebensereignisse, Freud und Leid dieses so umtriebigen Pfarrerlebens dienten nicht der chronologischer Genauigkeit, sondern viel mehr der Illustration des Themas dieses Buches. Diese Art der Darstellung führt zu Dubletten und Redundanzen. Eine Straffung des Textes wäre deshalb nicht von Schaden gewesen. Besonders ratlos ist der Leser bei den Fußnoten, denn eine Systematik ist nicht zu erkennen. Viele Zitate werden nicht belegt, andere dafür mehrfach.

Im Ganzen wird auch für dieses neue Buch Schorlemmers, der in etlichen vorangegangenen Büchern Erlebnisse als "Inspektor" eines Konviktes, als Gemeinde- und Studentenpfarrer, als Dozent des Predigerseminars und Studienleiter der Evangelischen Akademie berichtet hat, gelten: Zustimmung und Kritik liegen dicht beieinander. Etwa in der Darstellung zum Wirken Manfred Stolpes, die ich hundertprozentig teile, oder in den Bemerkungen zu Joachim Gauck, die ich so nicht zu teilen vermag.

Schorlemmer hat Politikerinnen und Politikern und auch unserer Kirche viel zu sagen. Er tut das als heftiger Kritiker, aber eben nicht von "außen". Er ist und bleibt unserer Gesellschaft und unserer Kirche innerlich mit großer Liebe zugetan, auch wenn er deshalb an ihnen leiden muss. Er kann auf eine klare Kontinuität seines Denkens und Handelns über die Zeiten hinweg verweisen. Und er hat oftmals - früher und heute - allein gestanden, musste das aushalten und Enttäuschungen verarbeiten. Ihm ist zuzustimmen, wenn er heute feststellt: "Ich vermisse in der Tat seit Jahren den Protest einiger der lautesten Bürgerrechtler, die auf dem stinkenden Erbe des Mielke-Imperiums beruflich sitzen, gegen das, was in Tschetschenien angerichtet wurde, gegen Morde an Journalisten, die in Russland begangen wurden und werden ... Und ich denke an diverse Machenschaften der cia, an Guantanamo ..."

Für seine früheren Äußerungen und Texte muss er sich wahrlich nicht schämen. Obwohl ihm deutlich ist, dass Texte, Erklärungen, Synodalreden und Leserbriefe - formuliert unter den Bedingungen der Diktatur - sich im Nachhin schwerfällig, umständlich und anbiedernd lesen, wiewohl sie zum Zeitpunkt ihrer Erarbeitung voller Sprengkraft waren: "Wenn ich meine Texte heute lese, berührt mich der devote Ton peinlich ... Ich wollte meine Kritik ausdrücken, aber gleichzeitig vermeiden, als Staatsfeind gebrandmarkt zu werden." Das Bemühen zu erklären, wie es sich unter den Bedingungen der DDR anfühlte, Kritisches öffentlich auszusprechen, ist immerfort erkennbar. Kann das je gelingen? Friedrich Schorlemmer führt eine gewaltige "Wolke der Zeugen" an, mit vielen Zitaten, Texten und guten Fotos. Er selbst ist eine besondere "Ausbuchtung" an dieser Wolke, für die wir sehr dankbar sein können.

Friedrich Schorlemmer: Klar sehen und doch hoffen. Aufbau Verlag, Berlin 2012, 523 Seiten, Euro 22,95.

Peter Noack

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