Ich schreibe keine neue Musik. Meine Musik ist eine Antwort und ein Echo auf das, was bereits da ist", hat Valentin Silvestrov einmal im Interview gesagt. Seinen Werken ist das deutlich anzuhören; anders als bei vielen zeitgenössischen Komponisten hat man nicht das Gefühl, sich in einem unbekannten Terrain zu befinden, sondern ist von vertrauten Landmarken umgeben, die freilich in einem ungewohnten Licht scheinen.
Diese Herangehensweise prägt auch die "Sacred Songs", die gerade auf ECM erstmals erschienen sind. Sie wurzeln unverkennbar in der Tradition der russisch-orthodoxen Liturgie, ergänzt um Einflüsse aus der russischen Kunstmusik von Glinka bis Rachmaninoff.
Die CD schreibt allerdings auch einen Wandel fort, den das 2004 veröffentlichte "Requiem for Larissa" eingeleitet hat: Der 75-jährige Ukrainer, der Zeit seines Lebens bevorzugt für Klavier sowie für Kammer-Ensembles und Orchester schrieb, mit der menschlichen Stimme hingegen wenig anfangen konnte, hat sich in seiner späten Schaffensphase der Chor- und explizit der A-cappella-Musik zugewandt. Unter der Leitung von Mykola Hobdych hat der Kammerchor Kiew die "Sacred Songs" in der golden überdachten Kathedrale des St.-Michaels-Klosters am Dnepr eingesungen. Der Raum hat einen ungeheuren Nachhall, der den Liedern prachtvolle Klangfülle verleiht. Es ist der perfekte Ort für eine Technik, die Silvestrov häufig und meisterlich anwendet: Eine Stimme bleibt gefühlte Ewigkeiten als Bordunfläche stehen, während sich die anderen Stimmen langsam darüber entfalten. Manchmal übernehmen die Bässe diesen Bordun in solch einer Tiefe, dass in Resonanz mit dem Raum ein faszinierendes Phänomen entsteht: Man glaubt, nicht mehr Stimmen, sondern den Nachhall einer großen Glocke zu hören.
Ob Vesper-Lieder, Psalmgesänge oder "Spiritual Songs": Durchweg sind sie durch einen meditativen Atem gekennzeichnet, eine friedvolle Stimmung. Leider sind keine Übersetzungen der Texte beigefügt, so dass sich nicht sagen lässt, ob die musikalische Haltung im Einklang oder im Kontrast zu den Worten steht.
Es lässt sich gut leben damit. Als "Harmonien, die die Stille suchen" beschreibt Paul Griffiths im Booklet den Ansatz Silvestrovs. Besser kann man es wohl kaum ausdrücken, den Rest darf man getrost der Musik überlassen. Wenn die CD mit einem ätherischen "Alleluia" ausklingt, ist alles gesagt. Dazu braucht man kein einziges Wort zu verstehen.
Valentin Silvestrov - Sacred Songs. Kiev Chamber Chor, Leitung Mykola Hobdych. ecm New Series 2279.
Ralf Neite