Von Tranquebar nach Teterow

Mission war einst eher Dialog als Kolonialismus. Und das zahlt sich heute aus.
Pater Emeka Nzeadibe mit Jugendlichen in Teterow. Foto: Martin Rothe
Pater Emeka Nzeadibe mit Jugendlichen in Teterow. Foto: Martin Rothe
"Mission" ist heute ein heikler Begriff. Aber nur in Europa. Im Süden der Welt hat das Wort "Mission" dagegen einen guten Klang. Das hat mit Pioniertaten der Missionare aus dem 19. Jahrhundert zu tun. Der Journalist Martin Rothe unternimmt mit einem Besuch bei der evangelischen Basler Mission eine Zeitreise in deren Vergangenheit - und trifft im Mecklenburg der Gegenwart einen katholischen Missionar aus Afrika.

Unweit der Basler Altstadt, vom trutzigen Spalentor einige Meter stadtauswärts, steht ein wuchtiges Gebäude aus dem 19. Jahrhundert. Wer in dessen Keller hinabsteigt, findet sich inmitten einer Schatzkammer wieder: Hier steht wohlkonserviert das Archiv einer der einflussreichsten europäischen Missionsgesellschaften, der Basler Mission. Es enthält zweitausend Laufmeter Akten, Fotografien und Landkarten, hunderte Bibeln und Grammatiken in dreihundert Sprachen sowie 30000 inzwischen digitalisierte Fotos von Missionaren aus Ghana, Kamerun, Ostafrika, Indien, Südchina und Indonesien.

Stolz zeigt Archivleiter Guy Thomas einige seiner Schätze: eine Sammlung von Schallplatten, die ein Panorama der ghanaischen Volksmusik aus den Fünfzigerjahren bieten. Eine Westafrika-Karte des britischen Geheimdienstes aus dem Jahre 1888. Daguerreotypien aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, auf denen Missionare und Häuptlinge abgelichtet sind. Und dann ein riesiger Atlas, über hundert Jahre älter als die Basler Mission selbst: Fein säuberlich sind darin die Landschaften des alten China aufgezeichnet, garniert mit exotischen Bildern aus dem Reich der Mitte. Es handelt sich um die ersten Landkarten von China überhaupt. "Jesuiten-Missionare entwarfen sie für den chinesischen Kaiser", berichtet Thomas, der auch Missionshistoriker an der Universität Basel ist. "Anders als die katholischen Missionare, die zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Lateinamerika oft selbstherrlich und brutal auftraten, zeigten sich die Jesuiten lernbereit: Sie interessierten sich für die Lebensweisen, Kulturformen und für die Spiritualität, die sie vorfanden."

Während der Vatikan für die "Heidenmission" 1622 eine eigene Behörde schuf, die "Propaganda Fide", war von protestantischer Mission zunächst kaum etwas zu hören. Erst 1706 wurde die erste evangelische Weltmissionskampagne in Gang gesetzt: Im Auftrag des Königs von Dänemark, unterstützt vom Pietisten-Patriarch August Hermann Francke, segelte Bartholomäus Ziegenbalg nach Tranquebar (heute: Tarangambadi) in Südindien. In den Franckeschen Stiftungen zu Halle erinnert heute ein Kabinett mit exotischen Souvenirs an die bald weltweiten Einsätze dieser Dänisch-Halleschen Mission.

1732 begann dann die Mission der Herrnhuter Brüdergemeine, die unabhängig von der Obrigkeit operierte. Nach dem Vorbild der Urchristen entsandte sie Gruppen von Männern und Frauen in alle Kontinente, darunter auch Laien. Und von den Herrnhutern sprang der Missionsfunke nach England über. Auch die dortige Erweckungsbewegung nahm den Missionsbefehl ihres Heilandes, Matthäi am Letzten, ernst und zog hinaus in alle Welt, um den "Heiden" die Frohe Botschaft zu bringen. Das war auch als Wiedergutmachung für den Sklavenhandel der Kolonialmächte gedacht; viele Missionsbewegte engagierten sich für die Abschaffung der Sklaverei.

In den pietistischen Zirkeln württembergischer Dörfer las man begeistert von diesen Aktivitäten - und beschloss zu helfen. Gemeinsam mit Kaufleuten aus der deutschen Schweiz wurde 1815 die Basler Mission gegründet. In den folgenden Jahren wurde sie zum Vorbild für viele andere Missionsgesellschaften auf dem ganzen Kontinent. In die Welt hinaus zogen überwiegend württembergische Dorfpietisten. Koordiniert und finanziert wurden sie von den Basler Geschäftsleuten.

Die Akte Hesse

Das leitende "Missions-Collegium" in der Basler Zentrale war stets auf dem Laufenden über jeden einzelnen Mitarbeiter auf dem Globus. Beleg dafür sind die im Missionsarchiv schlummernden Personalakten aller Missionare seit 1815 und deren Tagebücher - eine wunderbare Fundgrube für süddeutsche Familienforscher und für Historiker aus Süd und Nord. Archivar Guy Thomas holt aus einem Regal ein Bündel vergilbter Papiere, beschrieben mit zierlichen Handschriften. Es ist die Akte der Familie von Hermann Hesse. Dessen Großvater mütterlicherseits, Hermann Gundert, hatte lange Jahre im Auftrag Basels in Indien missioniert und sich als Sprachforscher einen Namen gemacht: Er verfasste die erste Grammatik der südindischen Sprache Malayalam und übersetzte anschließend die Bibel.

Und seine Erzählungen, Schriften und Souvenirs entzündeten die lebenslange Indien-Sehnsucht seines Enkels Hermann Hesse. Heute, 150 Jahre nach den Pioniertaten eines Hermann Gundert, ist "Mission" in weiten Teilen Europas ein verseuchter Begriff. Bis hinein in kirchliche Kreise wird Mission eher negativ konnotiert. Viele assoziieren damit Feuer und Schwert, Zwangstaufe und Scheiterhaufen. "Der Begriff 'Mission' wurde ein wunderbares Opfer der Kulturimperialismus-Kritik der Sechziger- und Siebzigerjahre", meint Thomas. "Da haben wir wohl nicht stark genug gekontert. Denn wir wissen: Mission war meistens Dialog."

Dass dieser Befund - trotz allem europäischen Paternalismus - stimmt, wird gut sichtbar am Beispiel der Basler Mission. Zum einen erhielt der Süden durch die Missionare einen wichtigen Entwicklungsschub: So verbesserte sich durch die Verkündigung des Evangeliums die Situation von Frauen. Zudem gaben die württembergischen Dörfler in ihren Missions- schulen neben Lesen und Schreiben auch moderne Methoden der Landwirtschaft und des Handwerks weiter. Und einige von ihnen leisteten Unschätzbares als Erforscher der Sprachen Afrikas, Indiens und Ostasiens. Ihre Grammatiken, Bibelübersetzungen und Choräle sind zum Teil bis heute in Gebrauch. In den protestantischen Kirchen Ghanas erklingt regelmäßig das Deutschlandlied und eine Abwandlung des Badnerlieds - mit einem geistlichen Text in der Landessprache Twi. Und in etlichen südindischen Städten wurden Basler Missionare mit meterhohen Standbildern gewürdigt. Wen man auch fragt: Die europäischen Missionare haben in den Ländern des Südens zumeist ein viel besseres Image als in Europa selbst.

Doch nicht nur der Süden änderte sein Gesicht: Auch die Missionare kehrten verändert zurück. Für sie und ihre Kindeskinder hatte sich die Welt ungeheuer geweitet. Zudem waren sie in der Ferne nicht nur auf fremde Kulturen getroffen, sondern auch auf andere christliche Kirchen. Durch das "heidnische" Umfeld waren sie zur Ökumene geradezu gezwungen gewesen. Diese Erfahrung brachten sie nun auch in Europa ein. Die ökumenische und pazifistische Bewegung, die zur Zeit des Ersten Weltkrieges in Gang kam, hat den "Weltmissionskonferenzen" Entscheidendes zu verdanken.

Von Süd nach Nord

Heute üben sich die Kirchen von Süd und Nord in Partnerschaft und Gleichberechtigung. In weltweiten Missionsnetzwerken verbunden, bringt jede Seite ihre Gaben ein: die einen kritische Reflexion, Finanzkraft und Know-how, die anderen ein fröhliches und sendungsbewusstes Glaubensleben. Für die von innerer Auszehrung bedrohte Christenheit in Europa könnte diese weltweite Ökumene zur Rettung werden. "In Deutschland geht es derzeit mit der Mitgliederschaft und dem Geld der Kirche etwas bergab. Bei uns dagegen gibt es viele junge Leute, die sich missionarisch und evangelistisch engagieren oder Pfarrer werden wollen", analysiert Solomon Sule-Saa, Chef-Ökumeniker der Presbyterianischen Kirche von Ghana, einer Tochterkirche der Basler Mission. "Es wäre wunderbar, junge afrikanische Missionare nach Deutschland zu senden. So könnten wir unsere Erfahrungen miteinander teilen."

Eine solche Umkehrmission von Süd nach Nord ist im deutschen Katholizismus zum Teil schon Realität. Angesichts des Mangels an einheimischen Ordensleuten und Priestern arbeiten in immer mehr Gemeinden oder Einrichtungen Geistliche aus Lateinamerika oder Indien, von den Philippinen oder aus Polen - gerade auch in der Diaspora.

Im Städtchen Teterow, nördlich der Mecklenburger Seenplatte, gibt es ein modernes katholisches Jugendhaus. An einem Freitag Ende Januar steht ein junger Mönch aus Afrika im dortigen Foyer und verabschiedet eine Schülergruppe. Pater Emeka Nzeadibe (37) kommt aus Nigeria und ist seit 2009 der katholische Jugendpfarrer für Mecklenburg. Eine Woche lang hat er mit den Jugendlichen mal ernst, mal spielerisch darüber nachgedacht, wo sie gerade stehen und wie ihr bald beginnendes Berufsleben aussehen soll. Filmabende, Auflockerungsspiele und einen Ausflug ins ehemalige Stasi-Gefängnis von Rostock inklusive. Nachdem der Reisebus der Schüler vom Hof gerollt ist, bittet der Pater an den runden Tisch seines Amtszimmers. Er beginnt von seiner Mission in Mecklenburg zu erzählen. "Bei aller Bespaßung, die wir natürlich auch bieten, sollen die Jugendlichen hier geistliche Erfahrungen machen", sagt Nzeadibe. "Sie sollen spüren: Das Leben hat noch mehr als Materielles zu bieten. Als gläubiger Mensch hat man Zugang zu anderen Wirklichkeiten. Kirche ist nicht sinnlos: Dort kann ich meinen Horizont erweitern."

Mit seiner ruhigen intellektuellen Art wirkt der Geistliche aus Afrika fast wie ein Norddeutscher. Aufgewachsen in einer Lehrerfamilie im Südosten Nigerias, kam er auf eine Schule des katholischen Missionsordens der Spiritaner. "Dort habe ich einen Spiritaner-Virus bekommen", erzählt er lächelnd. Nach der Schulzeit trat er in den Orden ein. Gegen Ende seines Studiums in Paris hörte er, für die neue kleine Spiritaner-Gemeinschaft im ostdeutschen Rostock werde ein Mitbruder gesucht. Als er sich meldete, wiesen ihn die Ordensoberen auf das ausländerfeindliche Pogrom hin, das 1992 in Rostock-Lichtenhagen stattgefunden hatte. Er schaute sich die Stadt selbst an und wollte dann immer noch. 2004 kam er in Rostock an.

Skepsis und Unsicherheit

Leicht war sein Einstieg nicht: "Als erster Afrikaner, der in Mecklenburg eine katholische Gemeinde leitete, schlug mir zunächst viel Skepsis und Unsicherheit entgegen", erinnert sich Pater Nzeadibe. "Mir war klar: Black Power hilft hier nicht. Ich habe versucht, die Ruhe zu bewahren und meine Arbeit für sich selber sprechen zu lassen." Geholfen habe ihm dabei, sich seines Selbstbildes zu entäußern, um sich auf Anderes einzulassen. "Die Art und Weise des Auftretens ist das Entscheidende. Ich will den Leuten zuerst von Mensch zu Mensch begegnen. Da bedarf es der Demut: nicht sofort zeigen, was man selbst alles kann, sondern sich Zeit nehmen, um Kontakt aufzubauen."

Durch Nzeadibes Herzlichkeit war das Eis schnell gebrochen. Und die katholischen Migranten in Rostock hatten plötzlich eine Identifikationsfigur. "Ich bin dann in die Offensive gegangen - in Schulen, kirchliche und nichtkirchliche Gesprächsforen, in Talkshows. Inzwischen bin ich in Mecklenburg bekannt wie ein bunter Hund", sagt er.

Nzeadibe versteht sich als "Missionar im guten Sinne". Für ihn und seine Mitbrüder im Spiritanerorden bedeute das: für andere da sein und den Schwachen zum Sprachrohr werden. Dorthin gehen, wohin kein anderer geht, wo es am meisten Not tut. Zur missionarischen Verkündigung gehört für sie neben dem Wort auch die Tat und die eigene Präsenz: "Die Missionare früher hatten Geld und Macht und konnten zusammen mit den Kolonialherren einiges durchsetzen. Hier habe ich das nicht", sagt Nzeadibe. "Ich habe allein meine Persönlichkeit, meine Ausstrahlung. Ich versuche, für etwas zu stehen und etwas zu bezeugen."

Bewegung wagen

Manche versuchten den Glauben in einer Nische überleben zu lassen. Aus seiner Sicht aber sei es besser, "nach außen zu gehen - oder zumindest Räume zu öffnen, damit die Leute kommen und sehen". Der Pater und seine Leute versuchen das in Teterow jedes Jahr beim "TeteRock-Festival". Dann strömen hunderte Mecklenburger auf das Gelände des bischöflichen Jugendhauses, um die Bands zu hören. Und spitzen dann manchmal die Ohren, wenn am Abend zur Meditation in die freistehende Kapelle geladen wird. Eine junge Frau habe sich vor Kurzem taufen lassen.

"Mission" heißt für Pater Nzeadibe: "Begegnung wagen". Das gelte auch im universalen Maßstab: "Wenn wir uns wirklich als Weltkirche verstehen, dann sind alle aufeinander angewiesen. Wir brauchen keine Einbahnstraße Nord-Süd, sondern einen gegenseitigen Energieaustausch." Deutsche Spendenaktionen seien gut und wichtig. Aber die Christen hierzulande sollten sich nicht nur als Gebende verstehen, sondern auch als Empfangende. Nötig seien zum Beispiel ökumenische Mitarbeiter aus anderen Kulturen: "Sie werden zwar die Probleme der deutschen Kirchen nicht lösen, aber sie können neue Perspektiven eröffnen."

Nach seiner eigenen Diagnose gefragt, denkt Pater Nzeadibe einen Moment nach. Dann meint er: "Die Kirchen in Deutschland reden ständig über Strukturen und Finanzfragen, aber sehr viel weniger über ihre Hoffnung und ihr Gottvertrauen. Meist geht es um das Machbare. Aber wo hat da Gott seinen Platz?"

Martin Rothe

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