Es war ein Montagmorgen um acht, die denkbar verrückteste Zeit für eine Vorlesung in Musikgeschichte. Da konnte einem schon mal der müde Kopf auf die Schreibplatte sinken, was den Professor nicht störte, weil er ohnehin stets mit verklärtem Blick auf einen nicht zu identifizierenden Punkt an der Decke des Hörsaals starrte. An diesem Morgen aber war an ein Nickerchen nicht zu denken, denn das Hilliard Ensemble sang "Viderunt omnes" von Perotin - achthundert Jahre alte Vokalmusik von einem anderen Stern. An der künstlerischen Meisterschaft von David James, Rogers Covey-Crump, Steven Harrold und Gordon Jones hat sich nichts geändert, und mit ihrer neuen CD beglücken sie nun zum wiederholten Male die Puristen unter den Fans Alter Musik. Gemeinsam mit der Sopranistin Monika Mauch und David Gould als zweitem Countertenor haben die Briten Gesualdos fünftes Madrigalbuch eingesungen. Sie klingen wieder einmal fabelhaft. Am Übergang von der Renaissance zum Barock stehend, war der italienische Fürst Don Carlo Gesualdo (1566 bis 1613) kompositorisch seiner Zeit voraus. Die expressive Musik des fünften Madrigalbuchs entstand in der Spätphase seines Lebens und lotet Liebe, Verzweiflung und andere menschliche Emotionen aus, wobei chromatische Bewegungen Verwendung finden, zu denen erst Komponisten des 19. Jahrhunderts wieder den Mut fanden. Wie man es vom Hilliard Ensemble erwarten darf, erklingen die Madrigale auf der neuen CD mit einer Noblesse, die keine falschen Emphasen sucht und stattdessen feinsinnig die Nuancen entdeckt. Wenn Gesualdo im elften Madrigal den Vers "Mitleid erfleh' ich weinend" und die Zeile "Ich werde schweigend sterben" vertont, fühlen die Stimmen mit, versiegen beinahe und spenden in ihrer leisen Schönheit Trost. Gesualdo, der 1590 in einem Eifersuchtsanfall seine Frau und ihren Liebhaber ermorden ließ und seine Frau vielleicht selbst erstochen hat, hätte diesen Trost in seinen letzten, von Depressionen geplagten Lebensjahren wohl gut gebrauchen können.
Ralf Neite