Wenn zwischen zwei Tönen ein anderer hindurchschleicht, dann vernehmen wir ein Echo der menschlichen Seele. Ralf Rothmanns Erzählungen lassen solche Zwischentöne fühlbar werden. Wie er das kann, wie seine Geschichten lange in uns nachklingen, wie er Momente einfängt, in denen sich das Leben mit sich selbst berührt, darin liegt eine seltene Kunst, die in seinem neuen Erzählband "Shakespeares Hühner" eine Wucht von sagenhafter Dringlichkeit erfährt. Rothmann erzählt von lauter Anfängen in einer Welt aus vielen Enden. Die Geschichte einer wundersamen Freundschaft zwischen einem gutmütigen Riesen und einem aufgeweckten Weltenkind, die gemeinsam ein Gedicht vollenden. Eine bizarre Gruselgeschichte über eine Dame der Zwischenwelt, in deren Lebensexil die Noten der Winterreise von Schubert auf einer Fensterbank liegen. Die lakonische Geschichte einer Verstrickung in Familienaufträge, die in der Fälschung einer Lebensbilanz verendet. Die offene Geschichte einer flüchtigen Begegnung, in der Sehnen und Einkehr im Traum einander schon einmal begegnet sind. Eine turbulente Trennungsgeschichte zweier Frauen, zwischen denen und mit ihnen im Ausland alles durcheinander geht. Die Geschichte einer Expertise in Sachen einer fernöstlichen Religionsübung, die nicht satt macht. Die Echogeschichte über die Fühlung des Pulses inmitten von Lust und Gewalt. Eine nostalgische Geschichte über die imaginative Schönheit des Lebens aus lauter Schweben. Nichts ist in diesen Erzählungen bloß zufällig. Nichts gehorcht einer Notwendigkeit, die "Plan" geheißen werden könnte. Aber in allen Erzählungen meldet sich unmerklich und leise, verlegen und scheu, ein Versprechen auf lebendiges Leben. Die Wahrheit des Lebens besteht nicht aus Fakten und Realien, sie liegt irgendwo woanders. "Wir machen ein unglaubliches Gegacker um lauter Kram - Prüfungen, Lockenstäbe, Handymarken, Geld - und wissen insgeheim doch alle, dass es nicht das Wahre ist." Die Stelle gibt dem Erzählband seinen Titel. Das Woanders eines wahren Lebens liegt in Rothmanns Erzählungen nicht im Nirgendwo. Schmucklose Realität und verborgene Lebenssehnsucht treffen in seinen Erzählungen hart aufeinander, grausam, illusionslos. Zugleich verstehen sich die Erzählungen in ihrer knapp kalkulierten Ökonomie der Gefühle auf das, was in aller Trostlosigkeit als "das übersehene Dritte" bezeichnet werden kann: das Zartgefühl. Anrührende Momente der Zärtlichkeit gibt es viele in Rothmanns Erzählungen. Anfänglich flüchtig und heikel. Heikel auch literarisch, aber ohne sentimentales Pathos, im Ton einer berührenden wie bedrückenden Empathie. Rothmanns Erzählungen gelingt eine Balance, die zwischen den Stationen realitätsgesättigter Lebensbilanzen und den Präsenzen verwunschener Märchenwunderländer zugleich zu erzählen wissen. Wie wir den Puls des Lebens im leisen Echo des Herzschlags des anderen zu hören lernen, davon erzählt die vielleicht schönste Stelle in diesen Erzählungen. Nicht umsonst steht sie am Schluß. Im Doppelschlag der Herzen "fühlte sich das an, als wäre da noch ein Puls unter ihrem Puls, ein zarterer, und auch der schien ein leises Echo zu haben". Mehr als allegorisch, ganz real. Das Zarte kann nur durch das Zarte gerettet werden.
Ralf Rothmann: Shakespeares Hühner. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012, 211 Seiten, Euro 19,95.
Joachim von Soosten