Als Einstieg wählt Frank Crüsemann die Erzählung vom zwölfjährigen Jesus im Tempel (Lukas 2,41-51). Die abendländische Kunstgeschichte zeigt diesen erhöht sitzend, dozierend und die jüdischen Gelehrten belehrend. Dies demonstriert die Überlegenheit des Neuen, Christlichen, über das Alte, Jüdische. Ein Blick in den Ursprungstext lässt dort jedoch anderes lesen: Der jugendliche Jesus hört zunächst zu und stellt Fragen. Diese sind zwar besonders, ebenso intelligent wie auch seine Antworten, nur: Hier gibt es eine Diskussion auf Augenhöhe, keine dozierende Belehrung. Deutlich wird, was Crüsemann zeigen will: Eine christliche Abwertung des so genannten Alten, insbesondere des Alten Testaments, ist zwar von der Antike bis in die Gegenwart überaus populär, sie entspricht jedoch keineswegs dem Umgang der neutestamentlichen Texte mit dem Thema.
Gegenüber einer vollkommen fraglosen Hochschätzung des Alten Testaments im Neuen Testament hat sich sekundär eine Überbietungstheologie herausgebildet: Sie betont immer aufs Neue die Überlegenheit des Neuen (Testaments) gegenüber dem Alten (Testament). Gegen eine solche Überbietungs-, Ersetzungs- und Ablösungstheologie schreibt Crüsemann mit gewichtigen Argumenten an. Er tut dies als Alttestamentler, der sich über die Grenzen seines Faches hinausbewegt und dabei theoretisch reflektiert, was er in langjährigem wertschätzenden Umgang mit dem alttestamentlichen Teil der Bibel gelernt hat.
Das Thema ist brisant, da es nicht einfach um das Verhältnis zweier Textsammlungen geht, sondern Kernfragen christlicher Theologie und christlichen Selbstverständnisses verhandelt. In Crüsemanns Textlektüren erweist sich das "Neue" durchgehend nicht als Verdrängung des "Alten"; und auch das Schema von "Verheißung und Erfüllung" entspricht nicht den neutestamentlichen Texten. Das griechische Wort zum Beispiel, das traditionell mit "erfüllen" übersetzt wird, interpretiert Crüsemann im Sinne von "bestätigen", "vollmächtig in Kraft setzen". Die Tora wird also nicht erfüllt (im Sinne von "überholt" oder "überflüssig gemacht"), sondern durch die neutestamentlichen Texte und die Jesus-Christus-Geschichte gerade in Geltung gesetzt. Auch löst der "neue Bund" keinesfalls den "alten" ab, die Idee vom "neuen Bund" ist vielmehr alttestamentlich (vergleiche Jeremia 31,31-34) und wird auch im Neuen Testament so rezipiert, dass der Verheißungscharakter erhalten bleibt.
Aus neutestamentlicher Perspektive lässt sich Crüsemanns Beschreibung der Relation beider Testamente im Ganzen nur zustimmen. An einigen Punkten bleiben dennoch Fragen offen, vor allem in Bezug auf den Kanon, also Umfang, Grenzen und Fassungen der beiden Testamente der christlichen Bibel. Zunächst: Wenn die neutestamentlichen Schriften die Kriterien für unseren Umgang mit dem anderen Teil der Bibel bereitstellen, so scheint eine Aufwertung der Septuaginta beziehungsweise der griechischen Übersetzungen der hebräischen Bibel, auf die die neutestamentlichen Texte in vielfältiger Weise verweisen, notwendig zu sein - damit muss keinesfalls eine erneute Form der Überbietungstheologie einhergehen.
Des Weiteren scheint die Festlegung eines neutestamentlichen Kanons ein Problem von einiger Tragweite zu sein. Denn dass die Texte zu einem Kanon wurden und durch ihre Benennung als "Neues Testament" und Erhebung in den Schriftrang dem anderen Teil der Bibel gleichgestellt, ergibt sich nicht aus den neutestamentlichen Texten selbst, sondern ist Teil derselben Tradition, gegen die Crüsemann sich sonst abgrenzt, da sie die antijudaistische Lesart des Neuen gegen das Alte etablierte. Schrift und Tradition sind an dieser Stelle schwer trennbar, ist es doch erst die Tradition, die die neutestamentlichen Texte zur Schrift gemacht hat.
Insgesamt: Frank Crüsemann hat ein überaus wichtiges und lesenswertes Buch verfasst, dem auch über die exegetische Fachdiskussion hinaus eine breite Rezeption zu wünschen ist.
Frank Crüsemann: Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen. Die neue Sicht der christlichen Bibel. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2011, 384 Seiten, Euro 29,95.
A
Silke Petersen
Silke Petersen
Silke Petersen ist Professorin für Neues Testament an der Universität Hamburg.