Guter Überblick

Geschichte des Protestantismus
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In sechs geht die Autorin der Entstehung, Entwicklung und Ausbreitung des Protestantismus in Deutschland, den europäischen Nachbarländern und schließlich weltweit nach.

Im Jahr 2008 wurde die Luther-Dekade eröffnet, die die Christen auf das 500. Jubiläum von Luthers Thesenanschlag an der Wittenberger Schlosskirche vorbereiten soll. Der - nicht immer selbstverständliche - Hinweis, dass die Faktizität dieses Aktes von Sachbeschädigung in der Forschung heftig umstritten ist, gehört zu den vielen positiven Aspekten des von der Kirchenhistorikerin Katharina Kunter verfassten Buches zur Geschichte des Protestantismus. In sechs chronologisch geordneten Kapiteln geht die Autorin der Entstehung, Entwicklung und Ausbreitung des Protestantismus in Deutschland, den europäischen Nachbarländern und schließlich weltweit nach. Verdienstvoll ist, dass Katharina Kunter die Anfänge des Protestantismus nicht ausschließlich an der Person Martin Luthers festmacht, sondern auch auf vorangegangene Bemühungen heute vergessener Männer und Frauen hinweist, die die katholische Kirche volksnäher und glaubwürdiger gestalten wollten. Die Darstellung der zeitgenössischen politischen und wirtschaftlichen Bedingungen trägt mit dazu bei, die Anfänge des Protestantismus nicht als eine von Gott gegebene Idee zu verstehen, stattdessen verdeutlicht sie, dass die Zeit für eine Kirchenreform, die letztlich nur um den Preis einer harten und häufig genug auch blutig ausgetragenen Abspaltung zu bekommen war, reif war. Dass sich weltliche Herrscher den Protestantismus zu Eigen machten, um ihre macht- und ordnungspolitischen Interessen durchzusetzen, gehört wohl zum Joch jeder Konfession und Religion. Verdienstvoll ist ebenfalls die breit angelegte Beschreibung all jener zeit- und länderspezifischen Ausprägungen des Protestantismus, der vermeintliche Abtrünnige in seinen eigenen Reihen - man denke nur an die Mennoniten - heftig verfolgte und bekämpfte. Dass der Protestantismus im Deutschen Reich - dank Summepiskopat - zu einem Nationalprotestantismus mutiert war, dessen offizielle Vertreter zu den Judenverfolgungen und Deportationen mehrheitlich schwiegen, gehört zu den dunkelsten Kapiteln seiner Geschichte und wird von der Autorin ausführlich beleuchtet. Dankenswert ist, dass Katharina Kunter ihren komplexen und vielschichtigen Gegenstand in einer Sprache beschreibt, die es auch "religiös unmusikalischen" Menschen möglich macht, in eine vergangene und für viele zunehmend fremder werdende Frömmigkeit hineinzudenken. Hilfreich sind hier die zahlreichen Landkarten und Graphiken. Abbildungen von selten gezeigten Gemälden, Stichen und Zeichnungen veranschaulichen die große kulturschaffende Kraft von Menschen, die sich als Protestantinnen und Protestanten verstanden, ihrem Glauben auf ihre spezifische Weise Ausdruck verliehen und damit auch auf unser heutiges kulturelles Selbstverständnis Einfluss nahmen. Wo so viel Licht ist, ist naturgemäß auch Schatten. Angesichts der Informations- und Datenfülle, die die Autorin kenntnisreich ausbreitet, wäre ein Register sehr hilfreich gewesen. Im Kapitel über den sozialen Protestantismus, der sich von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts vor allem in der "Haube" der Diakonisse manifestieren sollte, wird deren männliches Pendant - der Diakon - von der Autorin nur einmal genannt. Dies ist umso verwunderlicher, als der Begründer der männlichen Diakonie, Johann Hinrich Wichern, und sein sonstiges Wirken eingehend gewürdigt werden. Auch der von deutschem Boden ausgehende Erste Weltkrieg, die "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" (George F. Kennan), kommt in Katharina Kunters Buch nicht vor. Dabei ist der Einfluss der von einem "gerechten Krieg" beseelten evangelischen Geistlichen auf ihre Gemeinden, die ihre Söhne, Väter und Brüder hergeben mussten, nicht hoch genug zu veranschlagen. Pastoren segneten nicht nur die Waffen der ausziehenden Soldaten und suggerierten ihnen damit einen göttlichen Auftrag, sondern sie waren es auch, die 1917/1918 ihre hungernden und erschöpften Gemeindeglieder zum Durchhalten aufforderten. Letztlich bleibt aber viel Lob: Katharina Kunters Buch wird man auch am Ende der Luther-Dekade noch gerne zur Hand nehmen. Katharina Kunter: 500 Jahre Protestantismus. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2011, 240 Seiten, Euro 39, 95.

Ulrike Winkler

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