Das Glück jedes Einzelnen

Ein Plädoyer für einen neoliberalen Protestantismus
"Immer Ausdruck des Zeitgeschmacks." (Foto: akg-images)
"Immer Ausdruck des Zeitgeschmacks." (Foto: akg-images)
Neoliberaler Protestantismus wird vielfach gelebt und selten verteidigt. Dabei ist er der angemessene Weg zu einer zeitgemäßen Frömmigkeit, die auch den Hedonismus moderner Menschen nicht als fremd oder gar feindlich empfindet, meint Alexander Grau, freier Wissenschaftspublizist in Berlin.

Der Neoliberalismus ist in Verruf geraten. Und das nicht nur dort, wo er ohnehin nie allzu großen Beifall gefunden hat. Selbst die Vertreter des politisch organisierten Liberalismus geben sich zwar ganz gerne als Anwälte der Freiheit, als neoliberal möchten aber auch sie nicht gelten. Ein besonders schlechtes Image genießt der Neoliberalismus in der evangelischen Kirche und den sie tragenden Milieus. Das verwundert nicht. Traditionellerweise ruft dort schon das Stichwort "Liberalismus" wenig Begeisterung hervor.

Nicht, dass evangelische Christen nicht liberal sein möchten. Kaum eine Eigenschaft ist, insbesondere in ökologisch-, sozial- und friedensbewegten Kirchentagskreisen, so wichtig wie die, of­fen, gesprächsbereit und vorurteilsfrei, mit einem Wort "liberal" zu sein. Allerdings stößt diese linksprotestantische Liberalität theologisch und gesellschaftspolitisch schnell an ihre Grenzen.

Das hat theologische und kulturgeschichtliche Gründe. Neben einer althergebrachten theologischen Orthodoxie, wie sie in allen Religionen und Konfessionen als Sammelbecken traditionsfixierter Modernisierungsverweigerer auftritt, hat der Protestantismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der Dialektischen Theologie eine besonders wirkungsmächtige Spielart des Antiliberalismus hervorgebracht. Diese Neuorthodoxie hat die fachtheologischen und öffentlichen Debatten in Deutschland vor und insbesondere nach dem Krieg geprägt, und sie wirkt bis heute nach.

Kritik am Anthropozentrismus

Der Grund für diesen Erfolg liegt dabei weniger in der intellektuellen Brillanz dieser theologischen Strömung, als dem intellektuellen Klima in Europa nach dem Ersten Weltkrieg - nicht nur in weiten Teilen des deutschen Protestantismus. So machen gerade die theologischen Debatten der Zwanzigerjahre die massiven kulturellen und gesellschaftspolitischen Differenzen jener Zeit deutlich. Kritisiert wurde von den dialektischen Theologen nicht nur der theologische Liberalismus, sondern der Liberalismus als Kultur- und Lebensform, seine Ethik, sein Menschenbild und seine gesellschaftspolitischen Vorstellungen.

Zusammenfassen lässt sich diese Kritik in einem Wort: "Anthropozentrismus". Die gesamte liberale Theologie in der Tradition Friedrich Schleiermachers, etwa diejenige Harnacks oder Troeltschs, gehe vom Menschen aus und nicht von Gott - lautet der zentrale Vorwurf. Insbesondere Karl Barth hat ihn immer neu durchbuchstabiert: Die liberale Theologie, Barth verwendet für sie das Etikett "Neuprotestantismus", ist für ihn "Sünde", da sie aus seiner Sicht Teil einer modernen Kultur ist, die das Menschliche verherrlicht und so im Widerspruch zu Gottes Offenbarung steht. Alles Menschliche, also Kunst und Kultur, Technik und Wissenschaft, Theologie und Gottesdienst, ist für Barth letztlich "Götzendienst".

Eine moralisch hochgerüstete Politikirche

Barth liefert damit das antiliberale Grundschema, das auch heute noch, zumeist unter variierten theologischen Vorzeichen, die Koordinaten des Linksprotestantismus vorgibt und zum Teil die Heilsgewissheit erklärt, mit der er auftritt: Auf der einen Seite steht die falsche Moral, die Moral freier Individuen, die sich aufgrund ihrer Vorlieben und Interessen, ihrer Abneigungen und Ressentiments Regeln geben und sich irgendwie arrangieren. Auf der anderen Seite steht die wahre Moral. Diese ist zeitlos und eben nicht das Resultat des freien Spiels menschlicher Kräfte. Letztlich haben wir es hier mit einer Moral höherer Ordnung zu tun, einem Produkt der Offenbarung, die in ihrer aktuellen Form erstaunlicherweise sehr einem rotgrünen Wahlprogramm ähnelt.

Die Ansichten der Neoliberalismuskritiker in der EKD sind dementsprechend keineswegs die Meinung linker Randgruppen, sondern Abbild einer Kirche, die sich nicht nur in ihrem Selbstverständnis, sondern auch in ihrem Habitus, ihrer Sprache und ihrer Selbstdarstellung, schon lange von dem Ideal liberaler, aufgeklärter Bürgerlichkeit entfernt hat. Statt den Menschen kulturelle Geborgenheit, intellektuelle Inspiration und theologische Orientierungshilfe zu vermitteln, präsentiert sich eine moralisch hochgerüstete Politkirche, die gefühlte soziale Schieflagen oder globale Missstände anklagt, dafür aber das Individuum aus den Augen verloren hat.

Anstelle von Autonomie, Freiheitsliebe und einer von wissenschaftlicher Rationalität geprägten Reflexionskultur, macht sich ein gefühlsbetonter, kollektivistischer Antiintellektualismus breit, der nüchterne Rationalität gerne durch händchenhaltende Gemeinschaftserleb­nisse ersetzt. Das Ergebnis ist nicht selten ein aufgekratzter Moralismus, der sich in eine larmoyante Betroffenheitsrhetorik hineinlamentiert, die vorzugsweise aus antikapitalistischen Floskeln, feministischer Theorie und ökopazifistischem Politjargon besteht.

Liberalismus als historisches Ergebnis des Christentums

Dieser Phalanx linksprotestantischer Neoliberalismuskritik möchte ich ein Plädoyer für einen neoliberalen Protestantismus entgegensetzen. Der Ausdruck "neoliberal" hat dabei eine historische und eine inhaltliche Dimension: Aus historischer Perspektive plädiere ich dafür, an das wissenschaftliche und kulturelle Selbstverständnis der liberalen Theologie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts unter den veränderten Bedingungen des 21. Jahrhunderts anzuknüpfen. Inhaltlich möchte ich daran erinnern, dass die klassischen Grundwerte des Liberalismus, Freiheit, Individualismus und Autonomie, zugleich die unverhandelbaren Grundwerte eines protestantischen Christentums darstellen.

Der Liberalismus ist kein Gegenentwurf zum Christentum, sondern sein historisches Ergebnis. Eine Gesellschaft ohne Freiheitswillen, ohne Individualismus und ohne euphorische Bejahung moderner Lebens- und Denkkultur, wäre mit den Prinzipien eines aufgeklärten Christentums unvereinbar, das Ende neoliberaler Kultur wäre das Ende des aufgeklärten Protestantismus. Für den Liberalismus ist das Individuum, seine Autonomie und Freiheit, Grundlage und Ausgangspunkt aller Normen und kulturellen Gehalte. Die Vorstellung objektiver, zeitloser Werte, die man nur noch erkennen muss, lehnt der Liberale ab. Selbst die Natur hat keinen "Wert an sich". Alle Dinge oder Sachverhalte bekommen ihre Wertigkeit allein durch den Menschen - weil sie für ihn nützlich sind oder er sich ganz einfach an ihnen erfreut.

Den Pluralismus moderner Gesellschaften, der sich aus den unterschiedlichen Vorlieben der Menschen ergibt, sieht der Liberale nicht als Mangel oder Ausdruck eines selbstverliebten Egoismus, der nicht mehr in der Lage ist, das Wohl der Gemeinschaft im Blick zu behalten, sondern als Ausdruck der Befreiung des Individuums von Wertesystemen, die Anspruch auf kollektive Verbindlichkeit erheben. Grundlage des neoliberalen Protestantismus ist dementsprechend eine Theologie, die den Versuch, allgemeine und prinzipielle Lehrsätze zu formulieren, durch den Pluralismus individueller Deutungen ersetzt. Nach neoliberalem Verständnis werden religiöse Texte, Erzählungen und Symbole, aufgrund persönlicher, individueller Erfahrung vor dem Hintergrund eines kulturell überlieferten religiösen Deutungssystems erschlossen.

Konsumorientierung und Hedonismus sind menschlich

Für Liberale ist klar, dass weder theologischen Schriften noch kulturellen oder normativen Vorstellungen eine zeitlose Bedeutung zukommt. Heilige Texte sind von Menschen verfasst und unterliegen demnach historischen Bedingungen. Und auch ihre Rezeption, ihr Verständnis und ihre Interpretation sind immer Ausdruck des jeweiligen Zeitgeschmacks. Aus diesem Grund sieht eine neoliberale Theologie in Religion ein Kontingenzbewältigungskonzept, dass die Kontingenz menschlicher Existenz nicht leugnet oder verharmlost, sondern überhaupt erst deutlich macht und unterstreicht. Anders als noch - wenigstens zum Teil - die klassische liberale Theologie, versucht neoliberale Religiosität keine Kontingenzbewältigung durch modifizierte Sinnstiftungserzählungen herzustellen, sondern sieht in der individuellen Kontingenzerfahrung und dem Gefühl "schlechthinniger Abhängigkeit" (Schleiermacher) den Ursprung christlicher Freiheit und Autonomie.

Doch liberale Protestanten stehen nicht nur für eine kritische Hermeneutik, wissenschaftliche Rationalität und ein Religionsbild, das die Lebenserfahrungen des modernen, aufgeklärten Menschen ernst nimmt. Als Anwälte liberaler Alltagskultur sind sie darüber hinaus der Überzeugung, dass Materialismus, Konsumorientierung und Hedonismus - die Schreckgespenster aller gut meinenden, zivilisationskritischen Antiliberalen - keine Messwerte für den Niedergang menschlicher Gemeinschaften und ihrer kulturellen oder moralischen Verwahrlosung sind. Im Gegenteil: Konsumorientierung und Hedonismus sind Werte einer menschlichen und aufgeklärten Gesellschaft, für die das Wohl, das Glück und die Lebensfreude der Einzelnen Ziel des politischen Handelns ist.

Ein moderner liberaler Protestantismus muss der grundlegend veränderten Alltagskultur unserer Gegenwart Rechnung tragen. Die asketische Ethik altliberaler Herkunft, wie sie von Max We­ber beschrieben und beschworen wur­de, ist auf die Lebenssituation und das Lebensgefühl der Menschen in den westlichen Industriestaaten des beginnenden 21. Jahrhunderts nicht übertragbar. Und das bedeutet auch, dass die Askese der klassischen calvinistischen Ethik nicht unter der Hand durch einen gestrengen Altruismus neucalvinistischer Moralprediger ersetzt werden darf.

Neoliberal statt selbstgerecht

Neoliberale Protestanten verwahren sich daher nicht nur gegen einen selbstgerechten Moralismus, der die Menschen in das Raster vorzugsweise linksalternativer Erlösungsphantasien pres­sen möchte, sondern zugleich ge­gen neukonservative Versuche, Individualismus und Autonomie ebenso zu diskreditieren wie wohlverstandenes ­Eigeninteresse und Hedonismus. Doch das Christentum tut nicht nur gut daran, jene liberalen Kräfte, die es selber hervorgebracht hat, vorbehaltlos zu begrüßen.

Auch für den Liberalismus ist es unerlässlich, sich seiner christlichen Wurzeln zu besinnen. Das Kontingenzbewusstsein neoliberalen Christentums kann liberale Zeitgenossen davor bewahren, dem Irrtum zu verfallen, ihr Leben liege bedingungslos in ihrer Verfügung. Wir können uns nicht selber erlösen, weder moralisch noch in einem viel unspektakuläreren lebenspraktischen Sinn. Damit setzt der liberale Protestant der säkularen Neuauflage von Ablasshandel und Werkgerechtigkeit die Demut des Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit entgegen - es wird zur emphatischen Grundlage der Freiheit des Individuums, indem es sowohl der Unfreiheit aus persönlicher Hybris eine Absage erteilt, als auch von den gedanklichen Fesseln säkularer und nichtsäkularer Erlösungsideologien freimacht.

Alexander Grau

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