Könnte ein historisch-kritisches Jesusbild das Zeugnis des christlichen Glaubens verändern oder gar korrigieren? Und was würde dies für das Verhältnis von Geschichte und Glaube bedeuten?
Der historisch-kritischen Jesusforschung eignet seit jeher ein kritischer Impuls gegenüber dem "kerygmatischen Christus" des christlichen Bekenntnisses. Von ihren Anfängen im 18. Jahrhundert bis zu neuesten Publikationen zeigt sich die Tendenz, den "historischen Jesus" gegenüber dem "geglaubten Christus" zu profilieren.
Darin lag auch ein wichtiger Impuls des Neuaufbruchs der Jesusforschung, des so genannten Third Quest of the Historical Jesus, in den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts. Eine wesentliche Intention dieser im nordamerikanischen Raum neu aufgenommenen Frage nach Jesus bestand darin, ihren historischen Charakter gegenüber der Dominanz theologischer Deutungen zurückzugewinnen. Damit wurde ein als unsachgemäß beurteilter Vorrang theologischer Prämissen kritisiert, den man vor allem bei Rudolf Bultmann und seinen Schülern zu erkennen meinte, von denen die historische Rückfrage nach Jesus zunächst sogar für irrelevant erklärt worden war, bevor sie dann unter veränderten Vorzeichen wieder aufgenommen wurde.
Die "dritte Frage nach dem historischen Jesus" knüpfte dagegen in modifizierter Weise wieder an die liberale Leben-Jesu-Forschung des 19. Jahrhunderts an, in der schon einmal auf der Basis geschichtswissenschaftlicher Methoden ein Bild vom Wirken und Geschick Jesu gezeichnet werden sollte. Anders als damals ist man sich nunmehr jedoch der Unmöglichkeit bewusst, eine "Biographie Jesu" im modernen Sinne zu schreiben, weil die vorhandenen Quellen dies nicht zulassen. Gleichwohl sei es möglich, auf der Grundlage des vorhandenen historischen Materials ein Bild von Jesus als eines Juden seiner Zeit zu zeichnen.
Die Entdeckungen von Qumran, Masada, Nahal Hever
Hier sind zunächst Funde zu nennen, die lange Zeit unbekannt waren: Dazu gehört die spektakuläre Entdeckung der Texte vom Toten Meer - in Qumran, Masada, Nahal Hever sowie an einigen weiteren Orten -, die auch den Überlieferungsbestand bereits bekannter Schriften auf eine neue Grundlage gestellt haben. Dazu treten Editionen und Übersetzungen weiterer jüdischer Texte, die das antike Judentum als eine Religion vor Augen treten lassen, in der biblische Traditionen in vielfältiger Weise aufgenommen und fortgeschrieben wurden und die sich in den verschiedenen Regionen des antiken Mittelmeerraumes in unterschiedlicher Weise entwickelte.
Für die Rekonstruktion des Wirkens Jesu und die Entstehung des Christentums ist dies von grundlegender Bedeutung. Es macht deutlich, dass nicht in pauschaler Weise von "dem" antiken Judentum gesprochen werden kann, aus dem Jesus stammen würde, sondern dass Jesus aus seinem spezifischen Kontext heraus - als galiläischer Jude der ersten Jahrzehnte des ersten Jahrhunderts - verstanden werden muss. Auch neuere archäologische Funde unterstreichen, dass Galiläa eine markant jüdisch geprägte Region mit nur sehr geringem heidnischem Einfluss hatte. Anders, als mitunter angenommen, kann deshalb nicht von einem "multiethnischen" Gebiet gesprochen werden, in dem Jesus durch nicht-jüdische Traditionen beeinflusst worden wäre oder das sogar seine jüdische Herkunft selbst in Frage stellen würde.
Deutlich ist vielmehr, dass Galiläa seit der makkabäischen Eroberung (104/103 v. Chr.) von Judäa her neu besiedelt wurde und eine eigene Form jüdischer Tradition ausprägte. Galiläa war dabei sogar für seine strenge Einhaltung jüdischer Reinheitsvorschriften bekannt und unterhielt enge Kontakte zu Judäa und Jerusalem.
Schüler von Johannes dem Täufer
Zur Zeit der Wirksamkeit Jesu betrieb der Herodes-Sohn Antipas (4 v. Chr. - 39 n. Chr.) ein wirtschaftliches Erneuerungsprogramm, mit dem soziale Spannungen zwischen reicher werdenden Schichten und den Verlierern eines solchen Aufschwungs einhergegangen sein dürften, auch wenn in Galiläa für diese Zeit keine Aufstände oder sozialen Unruhen bezeugt sind. Römisches Militär wurde in der Region erst im 2. Jahrhundert stationiert, so dass es - anders als in Judäa - zurzeit Jesu keine Konflikte zwischen Juden und Römern in Galiläa gab. Das Wirken Jesu ist in diesen Horizont einzuzeichnen.
Die Begegnung mit dem prophetischen Bußprediger Johannes ist dasjenige Ereignis, mit dem Jesus ins Licht der Geschichte tritt. Erzählungen über seine Geburt und Kindheit erweisen sich dagegen als Legenden, die bereits die Anfänge in das Licht des Bekenntnisses zu dem Sohn Gottes tauchen. Von Johannes empfing Jesus wichtige Impulse: die Überzeugung von der Notwendigkeit der Umkehr Israels angesichts des nahe bevorstehenden Gottesgerichtes; die Ankündigung, durch die Besiegelung dieser Umkehr vor dem Zorn Gottes bewahrt zu werden; die Gewissheit, dass die Zugehörigkeit zu Israel allein nicht genügt, um vor Gott bestehen zu können.
Jesus nahm diese Impulse auf, trennte sich nach einer Zeit der Zugehörigkeit zum Jüngerkreis des Johannes jedoch von diesem und begann ein eigenes öffentliches Wirken. Dabei setzte er die Akzente neu. Schon äußerlich unterschied sich sein Auftreten von demjenigen des Johannes darin, dass er nicht an einem festen Ort blieb, sondern die Ortlosigkeit geradezu zum Programm erhob ("Der Menschensohn hat keinen Ort, um sein Haupt hinzulegen.").
Die Ortlosigkeit Jesu
Als Region seines Wirkens tritt zunächst Galiläa einschließlich der umliegenden Gebiete der Dekapolis im Osten und der syro-phönizischen Küstenebene im Westen in den Blick. Dass dies nicht einfach als Rückkehr in seine Heimat aufzufassen ist, sondern programmatischen Charakter besitzt, zeigt sich spätestens daran, dass Jesus sein Wirken auch auf Samaria und Jerusalem ausdehnte. Damit tritt etwa dasjenige Gebiet in den Blick, das den zwölf Stämmen Israels nach jüdischer Tradition von Gott verheißen worden war und nach den makkabäischen Eroberungen auch zeitweilig unter jüdischer Herrschaft stand.
Die programmatische Ausrichtung auf Israel zeigt sich auch in der Berufung eines Kreises von zwölf Nachfolgern, der symbolisch für das zu erneuernde Israel steht. Über diesen hinaus gehörten weitere Personen - Männer und Frauen - zur Gemeinschaft Jesu. Sie teilten - zumindest zeitweilig - seine Lebensform als umherziehende Wanderprediger, die in den Dörfern Galiläas und darüber hinaus den Anbruch der Herrschaft Gottes verkündeten. Verschiedene Texte machen deutlich, dass diese Gemeinschaft die Wirklichkeit des Reiches Gottes in ihrem Auftreten symbolisch praktizierte: Die Aussendungsreden der synoptischen Evangelien fordern zum zeichenhaften Verzicht auf Reiseausrüstung auf und überlassen damit den täglichen Unterhalt und persönlichen Schutz der Fürsorge Gottes.
Dasselbe Ethos spricht aus der Aufforderung, die Sorge um Nahrung und Kleidung Gott anheimzustellen und sich ganz auf die Ordnung des Reiches Gottes zu verlassen. Schließlich ist auch der konsequente Verzicht auf Gegenwehr bei erlittener Gewalt zu nennen. Die Feindesliebe, mit der dies begründet wird, stellt einen Vorgriff auf die Ordnung des Reiches Gottes dar, die dem Feind durch paradoxe Verdopplung des Unrechts (die andere Wange hinhalten, auch den Mantel überlassen, eine zweite Meile mitgehen) vor Augen geführt wird und die Logik von Gewalt und Gegengewalt auf diese Weise unterbricht.
Ein weiterer wichtiger Unterschied zu Johannes besteht darin, dass Jesus nicht nur zur Umkehr angesichts des bevorstehenden Zornes Gottes aufruft, sondern sein eigenes Wirken als Anbruch der Herrschaft Gottes auffasst. Das entscheidende Merkmal seiner Dämonenaustreibungen besteht darin, dass in Jesu Herrschaft über die Dämonen die Herrschaft Gottes aufgerichtet wird (Lukas 11,20). Seine Heilungen und anderen Machttaten besitzen darin ihr Zentrum, dass sie Menschen dem Bereich der Krankheit und des Bösen entreißen und sie der Herrschaft Gottes unterstellen.
Herrschaft über die Dämonen
Die Gleichnisse Jesu machen das auf eigene Weise sichtbar. Sie führen eine Wirklichkeit vor Augen, die - zunächst unscheinbar und nicht auf den ersten Blick zu erkennen - von der Nähe Gottes bestimmt ist und das Leben unter ein neues Vorzeichen stellt. Sie fordern zu einer neuen Sicht auf die Wirklichkeit heraus und rufen dazu auf, der Einladung in die Gottesherrschaft Folge zu leisten, weil es ein "zu spät" gibt und man dann ausgeschlossen bleibt.
In den Mahlgemeinschaften Jesu wird noch einmal ein eigener Akzent deutlich: Jesus bezieht am Rande der Gesellschaft Stehende - Sünder, Zöllner - ausdrücklich in die gemeinsamen Mähler ein, die damit auf ihre Weise zum Vorschein des Reiches Gottes auf der Erde werden. Gerade diejenigen, von denen man es nicht erwarten würde, werden zu Adressaten der Einladung Gottes.
Die Seligpreisungen der Armen, Hungernden und Trauernden unterstreichen diese Hinwendung Gottes zu den Verlorenen ebenso wie die Gleichnisse vom Verlorenen und die partielle Überschreitung der Grenzen Israels zu den Heiden, etwa bei der Heilung der Tochter der syro-phönizischen Frau, deren Glaube an das in Jesus gekommene Heil Gottes höher bewertet wird als die Tatsache, dass sie nicht zu Israel gehört.
Darin zeigt sich zugleich ein souveräner Umgang mit dem jüdischen Gesetz: Jesus beansprucht die Autorität, das Gesetz auf den darin zum Ausdruck kommenden Gotteswillen hin auszulegen, er vertritt zudem das Modell einer "offensiven Reinheit", die nicht ausgrenzt, sondern Außenstehende einbezieht.
Das Spezifikum des Wirkens Jesu lässt sich demnach von seinem Selbstverständnis her erfassen. Prägnant zum Ausdruck kommt dies in seiner Selbstbezeichnung als "Menschensohn". Der griechische Ausdruck geht auf einen aramäischen Hintergrund zurück und bedeutet zunächst "ich als ein Mensch". Jesus hat damit die Besonderheit seiner Person herausgestellt: Er tritt in der Autorität Gottes auf und repräsentiert ihn auf einzigartige Weise unter den Menschen. So kann es etwa heißen, dass der Menschensohn Vollmacht hat, auf der Erde Sünden zu vergeben (Makus 2,10). Damit tritt Jesus als derjenige auf, der die allein Gott zustehende Vollmacht zur Sündenvergebung (vgl. Markus 2,7) unter den Menschen Wirklichkeit werden lässt.
Die Besonderheit der Person Jesu
In der nachösterlichen Überlieferung wurde der Ausdruck "Menschensohn" dann auf den gesamten Weg Jesu, einschließlich seines Todes, seiner Auferweckung und seiner Erhöhung zur Rechten Gottes, bezogen und mit der Schriftstelle in Daniel 7,13 f. verknüpft, wo von einem "Menschensohn" die Rede ist, dem von Gott die Vollmacht zur Ausübung seiner Herrschaft übertragen wird.
Der hohe Anspruch Jesu lässt sich gleichermaßen als Ursprung der Christologie - des Bekenntnisses zu Jesus als dem Christus - und als Ursache der Konflikte auffassen, die um seine Person entstanden sind. Er hat dazu geführt, dass jüdische Hoheitsbezeichnungen wie "Christus" ("Gesalbter"), "Sohn Gottes", "Sohn Davids" oder "Herr" auf ihn angewandt wurden. Diese Bezeichnungen haben einen je eigenen Hintergrund in jüdischen Texten, denn sie wurden bei ihrer Anwendung auf Jesus zugleich in neuer Weise interpretiert.
Das wurde in Sonderheit angesichts seines Kreuzestodes notwendig. Dieser lässt sich als Konsequenz der Feindschaft interpretieren, die Jesus durch sein Auftreten bei jüdischen Autoritäten hervorrief. Akzeptierte man sein Selbstverständnis nicht, musste es als Provokation, ja als Blasphemie aufgefasst werden, die mit dem Tod zu bestrafen war. Dieser Konflikt spitzte sich in Jerusalem zu, wo sich mit dem Tempel und dem Synhedrium (dem Hohen Rat) die maßgeblichen politischen und religiösen Institutionen des Judentums befanden. Die Tempelkritik Jesu war dabei vermutlich nicht die alleinige Ursache, kann aber als Auslöser derjenigen Ereignisse aufgefasst werden, die zu seiner Verhaftung, Verurteilung und Hinrichtung durch die römische Besatzungsmacht führten.
Die Ostertexte machen deutlich, dass verschiedene Menschen aus dem Umfeld Jesu die Erfahrung machten, dass Jesus in neuer Weise unter ihnen anwesend war. Diese Ereignisse wurden als seine Auferweckung und Erhöhung durch Gott gedeutet, die zugleich sein irdisches Wirken in einem neuen Licht erscheinen ließen und den Beginn der sich auf ihn berufenden nachösterlichen Gemeinde darstellten.
Als Fazit der neueren Jesusforschung lässt sich festhalten, dass mit den Mitteln historisch-kritischer Forschung durchaus Umrisse seines Wirkens und Geschicks zu erheben sind. Im Zentrum steht die Ansage der Nähe Gottes in seinem eigenen Wirken, das sich in besonderer Weise auf die Armen, Ausgegrenzten und Verachteten richtete. Soziale und politische Implikationen liegen in der Konsequenz des Auftretens Jesu, wenngleich sie nicht in seinem Zentrum stehen.
Zu beachten aber bleibt: Historische Forschung führt niemals zu eindeutigen Ergebnissen. Die Quellen lassen nicht nur eine Deutung zu. Das stellt christliche Theologie vor die Aufgabe, sich den "historischen Jesus" unter den je aktuellen Erkenntnisbedingungen immer wieder neu anzueignen.
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Jens Schröter