Der Garten über dem Graben

Eine deutsche Komponistin: als Kind geflohen, als Betagte heimgekehrt
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1939 floh die jüdische Komponistin Ursula Mamlok aus Deutschland. Vor fünf Jahren kehrte sie zurück. Der Musikwissenschaftler Georg Beck hat die 87-Jährige in ihrer Geburtsstadt Berlin besucht.

Jede jüdische Remigration hat ihre eigene Geschichte. Auch die der Berliner Komponistin Ursula Mamlok. 67 Jahre nach ihrer Flucht über Ecuador in die Vereinigten Staaten ist sie 2006 zurückgekehrt. Nicht in die "Heimat". Es ist eine Rückkehr in die Geburtsstadt, verbunden mit Erwartungen an ein Land, das eigentlich erst jetzt zu geben in der Lage ist, was Vertriebene, was Künstler wollen: Aufgenommen werden. In jeder Bedeutung des Wortes.

Köln, Ende November 2010: Für Ursula Mamlok ist der Weg länger. Mit einem Rollstuhl unterwegs zu sein im Funkhaus am Raderberggürtel, dort wo die Domstadt südlicherseits zusehends ausfranst, ist eine Sache für sich. Rechts, links, jetzt diesen Gang, bitte die nächste Tür. Ja, wohin geht es denn? In den Regieraum im Deutschlandfunk-Kammermusiksaal. So sehr dieser zum Kölner Sender dazugehört - Arbeitstakt, Arbeitsalltag sind hier anders, merklich anders. Eine Welt für sich, abgeschottet vom Normalbetrieb, beatmet von einem Quartett aus Techniker, Toningenieur, Tonmeister samt Inspizientin, immer in Sorge um das eine: hochqualitative Musikaufnahmen herzustellen.

Exakt dafür ziehen sie die Fäden, die DLF-Fachredakteure der Sparten Sinfonik, Klavier/Lied, Kammermusik, Alte Musik, Jazz und Neue Musik. Klar, dass ein Produktionsort von fürstlichem Zuschnitt wie dieser, selbst unterhalb der großen Orchesterbesetzung bei vielen namhaften E-Musik-Labels im In- und Ausland hochbegehrt ist.

Mit dem Rollstuhl in die Heimat

Auch bei Bridge Records New York, dem Kooperationspartner der in dieser letzten Novemberwoche anstehenden Produktion Nr. 540 "Ensemblemusik Ursula Mamlok". - Eine letzte Kurve, dann ist die Komponistin nach ihrer kleinen Zickzack-Anfahrt durch das Funkhaus am Ziel.

Ein Platz am Regiepult gleich neben Tonmeister Stephan Schmidt ist reserviert. Kurze Begrüßung durch Redakteur Frank Kämpfer, dann werden schon die Kopfhörer gereicht; und im Handumdrehen ist das lästige Handicap vergessen, mit dem sich Ursula Mamlok herumschlagen muss. Denn, was jetzt kommt, geht sie an. Unmittelbar. Kurz fällt ihr Blick auf die Monitore, dann bleibt er in den Noten hängen. Achtung, Aufnahme läuft!

San Matteo, Kalifornien: Wann genau es war, daran kann sich Ursula Mamlok nicht mehr erinnern. Es muss in den Achtzigerjahren gewesen sein, als sich die Mamloks allmählich gewahr wurden, dass ihr Sommerhaus gefährlich nah am Sankt-Andreas-Grabens stand. Daher das Grummeln, wenn sich die Kontinentalplatten millimeterweise gegeneinander verschoben. Dann klirrten die Scheiben, und auch der Schreibtisch wanderte da schon mal durchs Zimmer.

Zurück bleiben Risse in den Wänden und die Frage: Sind dies die Vorboten des großen Crashs? Schwer zu glauben für die Hausherrn, wenn sie auf die Idylle schauen, die ihr kleines Ferienparadies dem Auge bietet. Nur dass solchem Idyll in San Matteo letztlich nicht zu trauen ist, was bei Ursula und Dwight Mamlok eine Art Déjà-vu-Erlebnis auslöst. Die Erde bebt, die Verhältnisse - sie sind unsicher.

Ein ums andere Mal appelliert die Komponistin ans literarische Talent des Ehemanns. Gern hätte sie für ihre Kompositionswerkstatt ein paar Gedichte, die diese zwiespältige Erfahrung zusammenfassen. Dwight schreibt sie - in seiner deutschen Muttersprache - und hilft so, einen tönenden "Andreasgarten" anzulegen, ohne das Abgründige des namensgleichen Grabens unter den Tisch fallen zu lassen.

Einerseits heiterer Grundton. "Baum" und "Tau", "Kolibri", "Libelle", "Taubenflug", "rote" Mittagssonne, "geisterheller" Nacht-Mond. Auf der anderen Seite transportiert ein Subtext die Ahnung, dass all dies buchstäblich, und zwar auf einen Schlag, versinken kann.

Gefährdete Existenz

Es ist diese Spannung, die Ursula Mamlok Musik werden lässt. Ihr "Andreasgarten" für Flöte, Harfe, Mezzosopran beschwört eine post-impressionistische Naturstimmung, in der sich die Sängerin immer wieder zur Sprechstimme abdunkelt: Die Existenz bleibt gefährdet. Ein Umstand, der den Mamloks nicht unbekannt ist.

Im Leben von Ursula und Dwight Mamlok - 1923 kommen sie beide zur Welt - liegt die Parallele dazu auf der Hand. Was die Natur als verstörende Gleichzeitigkeit von Graben und Garten parat hält, das widerfährt ihnen Jahrzehnte zuvor als Einbruch einer wild gewordenen Gesellschaft ins private Lebensglück. Die Zivilisation versinkt, die Barbarei tritt hervor.

Die deutschen Juden lernen, Weimar auf Buchenwald zu buchstabieren. Ganz schnell müssen jetzt auch die Berlinerin Ursula Meyer-Lewy und Dieter Mamlok in Hamburg erwachsen werden. Wobei sie, weil allen Bräuchen entwöhnt, den Umstand, dass sie Juden sind, so Ursula Mamlok heute, "erst durch Hitler" erfahren hätten. Wahrheit und Sarkasmus. 1939, in letzter Minute, gelingt die Flucht.

Ein Kindertransport bringt Dieter Mamlok nach Schweden und ein Überseedampfer Ursula und ihre Eltern nach Ecuador. Da sind sie sechzehn und wissen noch nichts voneinander. Erst 1947 lernen sie sich in San Francisco kennen und lieben. Da liegt er schon hinter ihnen, der Graben, der sich aufgetan und ihnen die Erfahrung nicht erspart hat, in den Abgrund schauen zu müssen. Dagegen steht freilich die andere Erfahrung: Aufgenommen zu werden. Graben und Garten. Daraus, aus beidem, ist das Leben der Mamloks gewoben.

Berlin, Herbst 2010: Mit dem Lift ins fünfte Stockwerk des Tertianum, das vis-à-vis zum KaDeWe gelegene hochnoble Seniorenheim, auf den ein Allerweltsname wie dieser eigentlich nicht recht passen will. Es dauert etwas bis Ursula Mamlok die Tür geöffnet hat. Der Gehwagen, den sie braucht, ist ihr Tribut ans Alter. Fast alles andere geht dagegen gut. Manches sogar sehr gut. Die Erinnerung, das Sprechen vor allem.

Am liebsten spricht Mamlok über ihr Leben, dessen Haarnadelkurven und die Stationen und Menschen, denen sie begegnet ist, die auf die eine oder andere Weise zu Bündnispartnern geworden sind auf ihrem Weg. Immer wieder überrascht sie dabei ihr Gegenüber mit der geschliffenen Präzision, mit der sie Namen und Ereignisse aufruft. Und mit ihrem Witz. Wie es ihr ergangen war, als sie als ganz junges Mädchen nichts anderes als Komponistin werden wollte, wie sie mit neun Jahren ("viel zu spät", beklagt sie heute) mit dem Klavierspielen angefangen hatte, ("ach Gott, die Stücke kann ich auch selber schreiben!"), wie sie an der Hand der Mutter bei den ins Auge gefassten Lehrern die denkwürdigsten Erlebnisse hatte ("dieses wunderbare Kind", hört sie Gustav Ernest über sie sagen). Und wie sie bis buchstäblich kurz vor der Flucht (diesen 11. Februar 1939 vergisst sie nicht) noch Noten schreibt, wie sie von der Exilstation Guayaquil in Ecuador ("Nightmare!") dank einer amerikanischen Zufallsbekanntschaft in einem Zugabteil auf der Fahrt nach Prag Jahre später tatsächlich in eine "family made in u.s.a." kommt, nur um dort den Satz zu hören: "I hate classical music!" Über das Absurde ge-rade dieser Situation - gerettet und doch im Schlamassel - darüber kann Ursula Mamlok noch heute Tränen lachen, nur, um von dort zur nächsten Story zu eilen.

Das Leben und dessen Haarnadelkurven

Immer wieder, eine Herzensangelegenheit, zu Gustav Ernest, dem bis heute hochverehrten Lehrer, weiter zu George Szell, der alles konnte, alles wusste, nur nicht, wie man Damen die Tür aufhält - und weiter zu prominenten Komponisten wie Stefan Wolpe, den Mamlok vor allem als einen von sich eingenommenen Menschen erfuhr.

Geschichten, die jede für sich mit Elan, mit Tempo, mit "lebhaftem Ausdruck" vorgetragen werden, als seien sie erstens soeben passiert und als wetteiferten sie zweitens ums Erzähltwerden: Ich zuerst! Dabei ist das rote Band in all diesen Verästelungen einer Flucht in jedem Moment klar erkennbar.

Nicht umsonst steht mitten in ihrer schönen Tertianum-Wohnung dieser schwarzpolierte Bechsteinflügel. Dazu stapelweise aufgeschlagene, herumliegende Noten. Keine Frage: Hier verstellt kein Deko-Möbel den Weg, hier steht ein Gebrauchs-Instrument, auf dem Ursula Mamlok bis heute spielt. Ihren Brahms, ihren Chopin - und, natürlich, die eigenen Kompositionen. Gerade sitzt sie über einem Klavier-Stück zu vier Händen. Eine Anfrage aus Amerika. Überhaupt: Es mehren sich in den vergangenen Jahren die Mamlok-Aufführungen - in Berlin wie andernorts, was ihr indes keineswegs reicht: Vier-, fünfmal im Jahr lädt Ursula Mamlok zu musikalischen Vortragsabenden in den Tertianum-Clubraum - wo dann vor größerem, auch auswärtigem Publikum ihr Baldwinflügel zum Einsatz kommt. Eben der, den sie 2006 aus New York mitgebracht hat.

Noch so ein Wendejahr im Leben der Ursula Mamlok: Nach dem Tod des Ehemanns kann sie einen Schritt wagen, den Dwight nicht gehen konnte, nicht gehen wollte. Jetzt fühlt sie sich frei, definiert sich kurzerhand von der Emigrantin zur Remigrantin - auch eingedenk des Umstands, dass das Leben in New York beschwerlich geworden ist, weil sie die alten Freunde mehr und mehr aus den Augen verliert.

Ein Moment, in dem sie das Interesse bemerkt, das sich im alten Europa regt. Neue Freunde, vor allem Freundinnen - wie die Musikwissenschaftlerin und Rundfunkautorin Bettina Brand - treten in ihr Leben, initiieren entsprechende Projekte.

Endlich steht der Entschluss fest. Ursula Mamlok kehrt zurück - ganz unsentimental, nüchtern-abwägend, aber doch mit Erwartungen, mit Hoffnungen in und an ein Umfeld, das der Entfaltung, der "Ernte" im besten Sinn entgegenkommen möge. Und, finanziell unabhängig geworden, macht sie nun wieder das, was sie überhaupt immer gemacht hat und schon immer machen wollte, seitdem sie als junges Mädchen angefangen hatte, Musik aufzuschreiben.

"Meine Musik - die muss ich hören und schreiben"

Kennengelernt hatte sie die, da war sie wirklich noch ein Kind, über das Grammophon einer Cousine, die die "Kleine Nachtmusik" laufen ließ. Ein Augenblick, in dem Ursula Mamlok ihre künstlerische Heimat entdeckte. "Dies ist meine Musik! Die muss ich hören und schreiben!" Aber: Die Fähigkeit dazu musste sich Mamlok überhaupt erst einmal erwerben und das immer wieder neu, einschließlich einer völligen Neuorientierung in den Sechzigerjahren, wo sie der tonalen Musiksprache den Rücken kehrte. Ein Ereignis, das durch die Erfahrungen am Emigrantentreffpunkt "Black Mountain College" der University of North Carolina ausgelöst wurde. Denkwürdig die Begegnungen mit Eduard Steuermann (ihrem Klavierlehrer), mit Rudolf Kolisch, Ernst Krenek. Noch einmal alles neu lernen, neu sehen. Noch einmal mit ganz neuen Ohren in die Konzerte gehen.

Und jetzt, Jahre später, sind zu den Konzertsälen im Leben der Ursula Mamlok die Aufnahmestudios dazugekommen. Transkontinentale Kooperationen zwischen amerikanischem Label und Produzenten wie dem Kölner Deutschlandfunk machten es möglich. So also findet sich die Komponistin im November 2010 im Regieraum des Deutschlandfunk-Kammermusiksaals wieder. Den Kopfhörer umgelegt, die Noten vor sich, den Tonmeister ihrer im Entstehen begriffenen neuen CD-Produktion neben sich, bekommt sie zugespielt, was das Berliner Sonar-Quartett, was das Kölner Ensemble musikFabrik aus ihren Partituren machen.

Und da ist es dann wieder, dieses Leuchten in den Augen Ursula Mamloks. Wie sich die jungen Leute reingehängt, wie sich vorbereitet haben - das beeindruckt, bewegt sie. Und dass es Orte gibt wie diesen, in Gang gesetzt, in Gang gehalten von Musikredakteuren, die sich dem Entdecken verschrieben haben, dem zu Unrecht Vergessenen. Schöner kann Aufgenommenwerden nicht sein.

Information

Musik von Ursula Mamlok auf CD: Vol I., Chamber works. Bridge Records 9291.

Vol II., Chamber works, u. a. Der Andreasgarten. Bridge Records 9293.

Georg Beck

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