Sinn in den Silberstreif kratzen

Das Gedicht erlebt eine kleine Renaissance
Foto: pixelio/Dietmar Meinert
Die Lyrik ist ein Kondensat und als solches ist sie die literarische Kunstform der Stunde.

Sie riefen an und meinten / ich solle mir mal überlegen / wie man das Programm überarbeiten könne, / etwas Licht und Luft hereinlassen, / ein paar neue Leute mit neuen Ideen gewinnen.

(John Ashbery)

Vielleicht ist ja Ein weltgewandtes Land nicht John Ashberys bester Gedichtband, ganz sicher aber ist die deutsche Übersetzung ein Meilenstein unter den Lyrik-Publikationen.

Nicht genug, dass die Ausgabe zweisprachig ist, wie der Herausgeber zurückhaltend formuliert, man könnte mit einigem Recht auch von einer drei- oder viersprachigen Ausgabe reden. Denn nur wenige von Ashberys neuen Gedichten wurden nur einem einzigen deutschen Übersetzer vorgelegt (Dichtern wie Joachim Sartorius, Erwin Einzinger oder Uljana Wolf), manchmal haben sich drei oder vier über das gleiche Werk gebeugt. Und, das zeigt dieser Prachtband, jeder hat eine andere Welt ins Deutsche gerettet.

Durch diese Vielstimmigkeit ist Ein weltgewandtes Land zu einem Dokument für die Vieldeutigkeit des dichterischen Sprechens geworden. Es könnte als Symbol für eine Wende im literarischen Leben in Deutschland stehen, die sich fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit vollzieht: Immerhin stand das quadratisch gebundene Stück Literatur Anfang des Jahres einen Monat lang auf Platz eins der swr-Bestenliste.

In Zeiten, in denen Verleger und Feuilletonisten, die auf sich halten, frei nach Oswald Spengler vom Untergang der Buchkultur reden, sprießen kleine Verlage aus dem Boden, gegründet von Abenteurern, die sich nicht nur mit der zwar überall gern genutzten, aber im Kontext von Buch und Belletristik dämonisierten Elektronik arrangiert haben. Nein, ein großer Teil dieser Jungverleger hat sich auch noch auf eine Sparte verlegt, die nach Ansicht der Etablierten gar nicht mehr geht: die Lyrik. Auf den ersten Blick ist man versucht, zu sagen: Archaik trifft Post-Postmoderne.

Aber das ist natürlich Unsinn. Es gibt gleich zwei sehr gute Gründe, die für diese kleine Renaissance des Gedichts im Jahr 2011 sprechen. Zum einen fehlt den meisten Menschen die Zeit, lange Romane zu lesen, wie Christian Lux sagt. Er ist einer dieser Abenteurer und hat 2008 den Verlag Luxbooks gegründet. Wo aber, bitteschön, bekommt der Leser auf so knappem Raum so viel Welt geboten? Nur das Gedicht schafft es, innerhalb eines einzigen kurzen Textes unfassbare Mengen an Raum und Zeit aufzubieten. Die Lyrik ist ein Kondensat und als solches ist sie die literarische Kunstform der Stunde.

Natürlich bliebe das nur ein fein ausgedachtes Konzept, gäbe es da nicht auch so auffallend viele junge Lyriker - und die Qualität ihrer Werke ist bestechend. Befragt nach dem, was er in Gedichten suche, hat einer von ihnen - Christophe Fricker - geantwortet: "Die Verbindung von Eleganz und Verständlichkeit mit gedanklicher Tiefe und sorgfältiger Beobachtung." Fricker begeistert sich für Verse, die in Form "philosophischer Meditationen, zynischer Alltagskommentare, verspielter Liebesgedichte und kritischer Naturbetrachtung die Fülle der Welt und der Sprache feiern".

Natürlich sind auch in dieser neuen Blütezeit die Auflagenzahlen nicht berauschend, aber die Szene ist da, und sie sorgt für Aufregung und Abwechslung im belletristischen Einerlei der vergangenen Jahre. Um es mit John Ashbery zu sagen: "Jeder Horizont hat einen Silberstreif; die Frage ist, / wie man es anstellt und einen Sinn hineinkratzt."

Ludwig Laibacher

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