Ich singe nicht mehr alles mit

Es ist an der Zeit, dass die Kirchen das Evangelische Gesangbuch überarbeiten
Wir brauchen ein neues Evangelisches Gesangbuch. Foto: epd/Jens Schulze
Wir brauchen ein neues Evangelisches Gesangbuch. Foto: epd/Jens Schulze
Gerhard Isermann ist Pastor im Ruhestand und war lange Jahre Pressedirektor der hannoverschen Landeskirche. Sonntags besucht der Achtzigjährige in verschiedenen Gemeinden den Gottesdienst - was er da aber an Liedern aus dem Evangelischen Gesangbuch singen soll, geht ihm zunehmend gegen den Strich.

Wir brauchen ein neues Gesangbuch. Als 1958 das Evangelische Kirchengesangbuch herauskam, war es meines Wissens das erste gemeinsame für den deutschsprachigen Raum. Es war aber zu sehr fixiert auf älteres Liedgut. Populäres (wie "Stille Nacht") war verdächtig. Als 1994 das Evangelische Gesangbuch (EG) fertig war, konnte man die Toleranz auch für neuere und schlichtere Lieder loben. Aber es fehlen doch viele Themen, und es gibt zu viele Mängel.

Die Indizien sind nicht mehr zu übersehen. Etwa in jedem zweiten Gottesdienst, an dem ich teilnehme, singen wir nicht nur aus dem EG, sondern auch von hektographierten Liedzetteln. Und dann die Liedertafeln: Den Küstern gehen oft die Zahlenbrettchen aus, weil die Choräle nicht einfach durchgesungen werden, sondern bestimmte Strophen ausgelassen werden sollen. Und wenn man nach dem Gottesdienst beim Kirchenkaffee mit den Gemeindegliedern redet, beklagen sie sich nicht selten darüber, was ihnen zu singen zugemutet wird. Ich erkläre ihnen dann, sie müssten ja auch nicht mitsingen, was ihnen zuwider sei, ich täte das auch nicht mehr. Aber wenn das Schule macht, dann müssten die Pastorinnen oder die Kantoren die fatalen Verse bald solo singen.

Der unbeliebteste Text ist die vierte Strophe von "Ein feste Burg". Das Lied als ganzes ist schon problematisch. Kein geringerer als Jochen Klepper hat es in seinem Roman Der Vater als "des Herrgotts Dragonermarsch" bezeichnet. Aber abgesehen von dem militärischen Pathos dieses Chorals und von mittelalterlichen Aussagen Luthers über den Teufel, die wir beim Singen entschärfen, indem wir sie nur bildhaft werten: Die vierte Strophe kann ich überhaupt nicht mehr singen. "Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib: lass fahren dahin, sie haben's kein Gewinn, das Reich muss uns doch bleiben." Das ist schon sprachlich nicht gelungen. Wer ist mit dem zweiten "sie" gemeint? Die Feinde der Reformation? Die zuletzt genannten "Gut, Ehr, Kind und Weib"? Wie auch immer: "Lass fahren dahin" ist ein zynischer Satz, wenn ihn eine wohlgenährte Gemeinde zum Beispiel am Reformationstag - vielleicht sogar stehend - zum Besten gibt. Wir selbst sind nicht in Gefahr, und den Christen in Ägypten, Nigeria oder im Nahen Osten dürfen wir so etwas auch nicht stellvertretend zusingen wollen.

Unsingbare Behauptungen

Oder nehmen wir das "Allein Gott in der Höh sei Ehr" von Nikolaus Decius, das in jedem lutherischen Gottesdienst gesungen wird: Mit der letzten Zeile der ersten Strophe macht es ja eine unsingbare Behauptung: "All Fehd hat nun ein Ende." Der große kirchliche Dogmatiker Karl Barth beschimpft zwar uns Zweifler: "Blöde Christenheit, die solches singen und immer noch so tun würde, als ob Alles ganz anders wäre."

Er beschreibt da die neue Wirklichkeit nach dem Kommen Jesu, durch das alles ganz anders geworden sei. Das Lied bezieht sich ja auf die Weihnachtsgeschichte mit dem Lobgesang der Engel. Dumm nur, dass da im Urtext (Lukas 2,14) die Ehre und der Friede ohne jedes Verbum ausgerufen werden. Ob wir also im Deutschen ein "ist' oder ein "sei" ergänzen wollen, steht uns frei. Sind wir aber "blöde", wenn wir angesichts dessen, was uns täglich die Nachrichten liefern, nicht singen mögen, dass alle Fehde ein Ende hat? Fehde ist übrigens ein viel zu freundliches Wort für den modernen Terrorismus, galten bei ihr doch immerhin gewisse Regeln der Fairness.

Ich habe mir beim Singen dieses liturgischen Stücks lange Zeit eingeredet, dass ja der Friede mit Gott gemeint sei. Aber bei Lukas steht ausdrücklich "Friede unter den Menschen seines Wohlgefallens." Da haben die Hymnologen also noch einiges zu verbessern. Ich helfe mir bis auf weiteres damit, dass ich beim Singen das "f" durch ein "b" ersetze und damit die Folge von Weihnachten einfordere: All Fehd hab' nun ein Ende.

Bleiben wir noch bei den theologischen Fehlern der Großen. Martin Luther hat 1524 das schöne Adventslied "Gelobet seist du Jesu Christ" weitergedichtet und darin behauptet: "in unser armes Fleisch und Blut verkleidet sich das ewge Gut". Nun kann uns jeder Kostümverleiher bestätigen, dass jemand, der sich als Seeräuber oder als Prinzessin verkleidet, das nicht wird, sondern mithilfe der Kostümierung nur so tut als ob. Wenn Jesus sich als Mensch nur verkleidet hätte, wäre er kein solcher. Für diese Kritik an Luthers Zeile kann ich sogar Luther selbst zitieren. 1540 sagt er in einer Disputation: "Und kann doch nichts gesagt werden, das mehr ketzerisch wäre, als dass die menschliche Natur das Kleid der Gottheit sei." (WA 39,2,37) Mit dem alten würde ich den jungen Luther verbessern wollen und singen lassen: "In unserm armen Fleisch und Blut begegnet uns das ewge Gut."

Luther hätte ich wohl auch auf meiner Seite, wenn ich Cornelius Becker kritisiere: "Wohl denen, die da wandeln vor Gott in Heiligkeit ... sind stets bei ihm in Gnad." Ist das nicht das Lob der Werkgerechtigkeit? Wieso brauchen solche heiligen Wandler noch Gnade?

Botanische Aussetzer

Es wären noch manche theologische Fehler zu benennen. Aber es gibt auch viel schlichtere, die mich als Sänger vergrämen. Der große Paul Gerhardt hat sich zum Beispiel in seinem wunderbaren Sommerlied "Geh aus mein Herz" zuviel dichterische Freiheit gegönnt. In der zweiten Strophe sieht er seine Bäume schon voller Laub. Erst dann schaut er auf den Erdboden und entdeckt "Narzissus und die Tulipan". Das aber sind Frühlingsblumen. In Hannover blühen die Narzissen dank einem großzügigen Spender zu Tausenden auf den Rändern der Ausfallstraßen, und das tun sie im März, wenn die Bäume noch kein einziges Blatt zu bieten haben. Darum heißen sie ja auch Osterglocken. Die Strophe ist übrigens auch sprachlich nicht gelungen. Warum dichtet der deutsche Pfarrer plötzlich lateinisch? Und wer oder was ist weniger schön, Salomo oder seine Seide? In Strophe fünf hat Gerhardt den nächsten botanischen Aussetzer. Da stehen bei ihm an den Bächen der Mark Brandenburg "schattenreiche Myrten". Das sind nun aber Gewächse, die mediterranes Klima brauchen, bei uns und in Mittenwalde wachsen sie nur in Blumentöpfen. Der Dichter meinte wohl Birken und änderte ihren Namen des Reimes wegen. Er wollte dann ja von Hirten singen und ihrem "Lustgeschrei". Nach meinen ländlichen Erfahrungen sind diese Menschen übrigens meist ziemlich still. Und was sich junge Menschen denken können bei der Vokabel "Lustgeschrei", lässt mich an Apostelgeschichte 26,24 denken: "Paule, du rasest."

Auch ornithologisch hat der Dichter Probleme. Strophe drei: "Die hochbegabte Nachtigall ... füllt mit ihrem Schall Berg, Hügel Tal und Felder". Das tut sie gerade nicht. Die Nachtigall singt nur in unterholzreichen Auwäldern. Auf Feldern hören wir die Lerche, und auf Bergen vielleicht den Steinschmätzer oder Raben.

Und bei der Betrachtung des Himmels ist Paul Gerhardt auch etwas sprunghaft. In dem schönen Morgenlied "Die güldne Sonne" beschreibt er in der ersten Strophe den Moment nach dem Erwachen. Die Sonne steht am Himmel. Dann aber in der zweiten Strophe singt er vom Sternenhimmel und weiß, "wo die Frommen dann sollen hinkommen, wann sie in Frieden von hinnen geschieden". Ich hoffe, nach meinem Tod nicht im Weltenraum einen Platz suchen zu müssen (vielleicht noch im Großen Wagen?). Solche Strophen sollten gestrichen werden. Manche Dichter muss man vor sich selber schützen. Und Gerhardt hat ja noch genug andere Strophen.

Nun zu den politischen Fehlern im EG: In seinem Adventslied "Dein König kommt in niedrn Hüllen" wünscht sich Friedrich Rückert in den letzten Zeilen, "dass wir, die Völker und die Thronen, vereint als Brüder wieder wohnen". Das ist aber verfassungswidrig. Die evangelische Kirche bejaht die Tatsache, dass wir in einer Republik leben. Throne haben bei uns also höchstens als gravitätische Sitzmöbel in Museen Platz.

Theologische Ungenauigkeiten

Der schlimmste politische Fehler ist aber die Aufnahme des Liedes "Gott, heilger Schöpfer aller Stern" von Thomas Müntzer in das EG. Das ist eine Übertragung eines lateinischen Hymnus aus dem 10. Jahrhundert, die seltsamerweise unter Nennung des Namens Müntzer auch im katholischen "Gotteslob" steht. Dabei ist Müntzers Fassung der dritten Strophe redaktionell verschlimmbessert worden. Müntzer: "Do sich die Welt zum Abent want,/der breutgam Christ wart so erkant/auß seyner mutter kemmerlein./Die Junckfrau blieb zart und reyn." EG: "Aus seiner Mutter Kämmerlein/ging er hervor als klarer Schein." Was also bei Müntzer die Wiedergabe der biblischen Erzählung von der Jungfrauengeburt war, wurde in unseren Choralbüchern zu einer der Gnosis verwandten Theorie von der Geburt eines Lichtes ("als klarer Schein" nicht "mit klarem Schein"). Aber nicht nur diese seltsame theologische Ungenauigkeit ist zu rügen, sondern die Aufnahme Müntzers in den Kanon des EG überhaupt. In unseren alten Gesangbüchern kam er nicht vor. War das beim Werden des EG der Einfluss von Hymnologen aus den Kirchen in der DDR? Immerhin gab es dort parallel zur staatlichen Entdeckung Müntzers eine Bemühung um dessen liturgische Bedeutung.

Müntzer streichen

Müntzer hatte sich schon vor Luther um eine deutschsprachige Messe verdient gemacht. Doch das Gesangbuch der Kirchen ist kein hymnologisches Museum. Und ich bezweifle, dass Müntzers Lied in den Gemeinden akzeptiert wird. Aber die politische Problematik ergibt sich aus Müntzers Rolle im Bauernkrieg. In der Liederkunde des EG heißt es dazu: Müntzer "schloss sich dem thüringischen Bauernheer an, das 1525 bei Frankenhausen geschlagen wurde". Wer das getextet hat, ist der Schönfärberei schuldig. Er verschweigt die kriminelle Energie, die Müntzer entwickelt hatte. Schon in einer Predigt, die er 1524 seinen Landesfürsten gehalten hatte, hieß es: "das man die gotlosen Regenten, sunderlich Pfaffen und Mönche töten sol, die uns das heilige Evangelion Ketzerei schelten." Müntzer hielt also verbale Kritik an der Reformation für ein todeswürdiges Verbrechen. Als er sich damit bei seinen Fürsten nicht durchsetzen konnte, wandte er sich an die Mansfelder Berggesellen und forderte nun von den Aufständischen, was die Oberen verweigerten: "Dran, dran, dyeweyl das feuer hayß ist. lasset euer schwerth nit kalt werden ... Schmidet pinkepanke auf den ambossen Nymrods ... Es ist nit mugelich, weyl sie leben, das ihr der menschlichen forcht sollet lehr werden." Und Müntzer wurde der Anführer der Bauern, ihr Chefideologe und Einpeitscher und führte die nur mit Dreschflegeln und Ähnlichem bewaffneten Bauern bei Frankenhausen gegen die Berufskrieger der Fürsten in den sicheren Tod. Dieser Autor gehört nicht in ein Evangelisches Gesangbuch.

Zu diesen inhaltlichen Bedenken gesellen sich viele sprachliche. Ich möchte nicht singen müssen: "Setze mir selbst die Fackel bei!" (11, 1)/"Zwingt die Saiten in Cythara" (70,6)/"Wenn's mit uns wird aus" (133, 13)/"Er kennt das arm Gemächte" (289.3)/"des Stricks kommt ab" (297,4)/"Deine Wunden offen stehen" (445,3) und so weiter. Das EG soll doch auch ein Schulbuch sein. Würde ein Schüler sich im Aufsatz solcher Wendungen bedienen, würde er viel rote Tinte zu sehen bekommen.

Als ich Freunden erzählte, dass ich in meinem Gesangbuch die verschiedensten Fehler angestrichen hätte, baten sie mich, die aufzulisten. Wir diskutierten meine Mängelliste. Als ich später diese Liste an verschiedene Dienststellen schickte, erfuhr ich gelangweilte Ablehnung. Man schob die Verantwortung an andere Stellen weiter. Und der zuständige Oberkirchenrat in der EKD brauchte immerhin zehn Wochen, bis er mir mitteilen konnte, dass es noch keinen Ausschuss für ein neues Gesangbuch gebe. Er werde meine Liste aber "zu gegebener Zeit" beraten. Vielleicht in zwanzig Jahren?

Was bleibt einem alten Mann da übrig, als sich an den Trost des Gesangbuches zu halten? "Es ist gewisslich an der Zeit!"

Gerhard Isermann

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