In Jerusalem aufgetaucht

Oskar-Gottlieb Blarr hat ein Himmelfahrts-Oratorium geschrieben
(Foto: privat)
(Foto: privat)
Der Kirchenmusiker Oskar-Gottlieb Blarr hat sich von Jerusalem und insbesondere seinen Kirchenglocken zu einer großen Komposition inspirieren lassen. Georg Beck hat ihn besucht.

Himmelfahrten beginnen irdisch. Und machen euphorisch. Weg mit aller Erdenschwere! Entsprechend aufgeräumt fällt schon die Begrüßung aus, mit der der Besucher, kaum ist der ­Klingelknopf betätigt, via Gegensprechan­lage willkommen geheißen wird. Schlecht vorstellbar, dass ein beschwingtes "Hallo!" wie dieses zu einem 76-Jährigen gehört. Eher schon (so der Gedanke während es mit dem Lift nach oben geht) zur Stimme ei­nes Menschen, der das Däum­chendrehen auf später verschoben hat. Tatsächlich hat "ogo", wie Oskar-Gottlieb Blarr von Freunden und Weggefährten gerufen wird, nach dem Ausscheiden aus dem Kantorendienst an Düsseldorfs Neanderkirche (rekordverdächtige 38 Jahre) noch ein paar Klei­nigkeiten zu erledigen. Die ­Ur­aufführung eines Himmel­-fahrt-Oratoriums beispielsweise.

Modulationshilfe

Der Komponist - Zugeständnis an die herrschenden afrikanischen Temperaturen - empfängt in Shorts und T-Shirt. Drinnen oder draußen? Letzteres, gern. Immerhin, wer vom Himmel redet, muss ihm doch nahe sein. Wie hier oben, auf dem Balkon mit seinem schönen Blick über eine Altstadt, in der vor Zeiten der jun­ge Harry Heine, in der das Ehepaar Schumann nebst Hausfreund Brahms gewohnt und gewirkt haben. Leicht, wie vom Dichter abgeschaut, geht's ins Thema hinein. Durch eine Nebentür. Kleine azurblaue Schälchen, in denen der gute Geist des Hauses mit einem Tropfen Wodka verfeinertes Traubensorbet kredenzt, fungieren (wir sind in einem Musikerhaushalt) als Modulationshilfe. "Stammen aus Hebron", lässt der Hausherr wissen, womit, ruckzuck, tatsächlich jenes Land betreten wäre, in dem die Idee dieser musikalischen Himmelfahrt ihren Anfang genommen hat.

In Jerusalem nämlich, der Stadt, mit der Blarr seit der Zeit eines 1983 absolvierten folgenträchtigen Studienaufenthalts eine richtiggehende Herzensverbindung pflegt. Eine Künstlerehe der anderen Art. Erneut hatte sich Jerusalem von seiner besten, seiner inspirierenden Seite gezeigt. "Es war im Sommer 2005, als der Plan zu einer Komposition über die Himmelfahrt auftauchte." Was etwas epiphanisch-geheimnisvoll klingt. Aber da ein Auftrag von dritter Seite nun einmal nicht vorlag, musste sich der Komponist selbst beauftragen und - noch so eine verflixt irdische Hürde vor des Tonsetzers Himmelfahrt – selbst in Vorkasse gehen. Was nur geht als spekulativer Vorgriff auf - zu erwartende GEMA-Erlöse - immer in der Hoffnung, dass unterm Strich wenigstens eine schwarze Null herauskommen möge. Soviel zum Thema Himmelfahrt-Ökonomie.

Nachzutragen blieben Plan, Idee, Ästhetik. Oskar-Gottlieb Blarr: "Äußerer Anlass war das hundertjährige Jubiläum der Himmelfahrtkirche auf dem Ölberg, einer Gründung des deutschen Kaisers von 1910." Was nicht als nostalgischer Verklärungsblick für eine wilhelminische Kirchengründung zu verstehen ist.

Protest gegen Gehirnwäsche

Der Fokus gilt der Gegenwart. Eine, an der sich Kirchenmusik-Komponist Oskar-Gottlieb Blarr durchaus zu reiben versteht. Zur nicht gelinden Überraschung seines Gegenübers erklärt er seine Stoffwahl kurzerhand aus dem "Protest gegen alle Versuche der Gehirnwäsche durch verschiedenste Interessenvertreter und alle, die selbst ernannte Deutungs- und Führungshoheit für sich beanspruchen." Voilà! Auch das ist Oskar-Gottlieb Blarr - ein Liebhaber starker Meinungen, die hinter aller Konzilianz Position und Haltung hervorlugen lassen. Nur, wer, bitteschön, wäre hier eigentlich gehirnwaschend am Werk? -

Zumindest, soweit gelingt der Blick in die Komponisten-Karten, etwas anderes als "Kirchenmusik light", womit die Nachfrage aufs ungefähre Gegenteil von dem führt, was die Chartführer Musical & Gospel für recht und billig halten. Und doch - die erklärte Distanz zu den Musikmoden überrascht um so mehr aus dem Mund eines Kirchenmusikers, der in jüngeren Jahren, zu Zeiten von "Oskar's Kirchenmäusen" so manchem Kirchentag die La-Ola-Welle nahezubringen wusste. Und (wer's nachschlagen möchte) als Komponist des Neuen Kirchenliedes ist OGO im Evangelischen Gesangbuch schon des Längeren aktenkundig.

Andererseits: Als ausführender Interpret, sei es als farbig instrumentierender Spieler auf der Orgelbank, aber auch als Dirigent vor Chor und Orchester hatte Blarr schon immer intime Kenntnis von dem, was "anspruchsvolle Kirchenmusik" heißt. Nur eben, der Schritt vom nachschaffenden zum schaffenden Künstler, zum Komponisten - den hat der Musiker erst in späten Jahren vollzogen. Als Geburtshelfer fungierten befreundete Lehrer und Weggefährten: Altmeister Krystof Penderecki, der unvergessene jüngst verstorbene Josef Tal und Bernd Alois Zimmermann, der Kompositionslehrer der frühen Kölner Jahre. Allerdings - erst die Jerusalem-Erfahrung bringt letztlich den Durchbruch, ermöglicht das Vertrauen in eine eigene formschaffende Kreativität.

Frömmigkeit der ostpreußischen Kindheit

So entsteht zwischen 1983 und 1996 mit Jesus-Passion, Jesus-Geburt und dem Osteroratorium Wenn Du auferstehst, wenn ich aufersteh eine komplette Oratorien-Trilogie - der individuell-musikalische Nachvollzug der Wiederannäherung christlicher Theologie an das Judentum. Man rieb sich die Augen. Kirchenmusik auf gleicher Höhe mit dem (theologischen) Bewusstseinsstand der Zeit: Hebräisches Bibelwort neben der gebrochenen Poesie einer deutsch-jüdischen Autorin wie Rose Ausländer, hineingemischt die Erinnerung an die Frömmigkeit der ostpreußischen Kindheit. "Alle drei Oratorien haben mit der Jesus-Geschichte zu tun, die für mich im Kindergottesdienst meiner Heimatstadt Bartenstein in Ostpreußen begann". Wo er, um es nachzutragen, 1934 geboren wurde.

Und jetzt, Anno 2010, die "Himmelfahrt". Auch hier die Parallele von hebräischer (Auffahrt des Elias nach 2. Könige 2,1-6) und christlicher Überlieferung (Auffahrt Jesu nach Johannes 14). Alles erzählt in bester Oratorientradition, freilich unter Anwendung postmodernen Montageprinzips, insofern allerlei Interludien zwischen die Berichtstrecken eingeschaltet werden. Mal meldet sich meditativ die Oud, die arabische Laute; dann sind es die Vögel vom Ölberg als Flötenquartett, die das themenbildende Hoch-Hinaus-Wollen musikalisch verbürgen. Dazu huldigt diese Himmelfahrt ausgiebig der menschlichen Stimme: Als "Ascendo ad patrem meum", einer zur Motette verwandelten Verbeugung vor der Setzkunst des Organisten und Luther-Zeitgenossen Arnold Schlick, als "Lied vom Jordan" für Holzbläser und nicht zuletzt als Eintauchen in den - Tango.

Berührungsängste jedenfalls scheint Blarr nicht zu kennen, schlüpft doch der reformatorische Choral "Christ fuhr gen Himmel" doppelchörig unter den Mantel eines ausgewachsenen "Tango grande". Wenn das der Tango-Altmeister Astor Piazzola wüsste.

Choral und Tango

Gewidmet ist diese Musik eines späten Wilden der "Evangelischen Gemeinde deutscher Sprache zu Jerusalem" - zum Dank, wie es ausdrücklich heißt. Der gilt, so steht es im Vorwort zur Partitur, dem auf dem Ölberg tätigen Pfarrerehepaar Wohlrab, das dem Komponisten auf dem Gelände der ­Kaiserin-Auguste-Victoria-Stiftung ein Komponierstübchen einrichtete. Noch jetzt, wo alles fertig ist, strahlt der Künstler. Traumhaft, diese Arbeitsbedingungen! Zu allen möglichen und unmöglichen Tag- und Nachtzeiten habe er sich phantasierend an den Flügel setzen können. Keine Frage: Ein Stück Musikerhimmel auf Erden. "Getragen" sei er in dieser Inkubationszeit gewesen von "Inspiration und Freude an der Arbeit". Und irgendwann sei es dann passiert, dass er diese "Entdeckung" gemacht habe. Eine, die seiner Musik überhaupt erst Rückgrat, Richtung und Linie gegeben habe. Der Komponist, dem die Neugierde des Besuchers nicht entgeht, lächelt und antwortet mit einer Gegenfrage. Ob ich mir einmal den Anfang anschauen wolle?

Der Anfang also. Was er verrät? Zweifellos die Vertrautheit des Oratorium-Komponisten Blarr mit dem Anfangszauber wie ihn die Tradition getrieben hat, in der Haydnschen Schöpfung etwa. Charakteristisch dieses Beginnen im Diffusen, im Undeutlichen. Ein Anfangen in der Tiefe und in der Ruhe. Hier mit Orgel und einem im Pianissimo gehaltenen Kontra-G, worauf die Harfe einen Quintraum setzt, den wiederum die Männerstimmen im Chor aufgreifen. "Humming", summend. Schließlich Tam-Tam und Piccolo-Flöte, die weitere zehn Tönen hinzufügen. Macht zusammen zwölf.

Ein Zufall? Ist Die Himmelfahrt, ist das Blarrsche Oratorium für sechs Solisten, Knabenchor, gemischten Chor, Instrumentalgruppen eine zwölftönige Komposition? Der Komponist lächelt. Nein, dodekaphonisch sei weder dieses noch seine vorangegangenen Oratorien. Was es dann mit der Zwölf-Töne-Leiter auf sich habe? Ganz einfach. Auch in diesem Fall sei Jerusalem Pate gestanden. "Ich musste nur hinhören", versichert der Komponist. Worauf? - Die Antwort ist wahrhaft schlagend. Aufzuschreiben waren die Töne der Jerusalemer Kirchenglocken: Orthodoxe Pater-Noster-Kirche, Dormitio, Erlöser-, Himmelfahrtkirche. Jerusalem komponiert mit. So einfach ist das.

HINWEIS

Neben der Uraufführung am 5. Sep­tember um 17 Uhr in der Johanneskirche Saalfeld findet eine weitere am 26. September um 20 Uhr in der Thomaskirche in Erfurt statt. Es folgen die ersten westdeutschen Aufführungen am 2. und 3. Oktober 2010 in der Auferstehungskirche in Düsseldorf-Oberkassel. Für das nächste Jahr ist eine Aufführung in Jerusalem geplant.

Georg Beck

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Kultur"