Bekanntlich genießen die griechischen Kyniker, von denen Diogenes in der Tonne der bekannteste ist, keinen guten Ruf. Sie seien sowohl schamlos als auch unverschämt gewesen; wie streunende Vierbeiner sollen sie in der Öffentlichkeit ihre Notdurft verrichtet, ja sogar kopuliert haben - eben wie die Hunde, griechisch: kyones. Und Jesus soll ein jüdischer Kyniker gewesen sein? Gottes Sohn auf einer Stufe mit Diogenes, dem halbnackten, wenn auch schlagfertigen Freigeist des vierten vorchristlichen Jahrhunderts?
Bevor Lang ausführlicher erklärt, wie diese scheinbaren Gegensätze im Grunde doch harmonieren, denkt der Professor für Religionswissenschaft und Altes Testament noch weiter in die Vergangenheit zurück: nämlich an den Propheten Elia aus dem neunten Jahrhundert vor Christus und dann an Sokrates aus Athen, den Philosophen des fünften vorchristlichen Jahrhunderts. Elia und Sokrates vertreten zwei weitere, ältere Denk- und Lebensmodelle, die sich - so der Autor - in der Gestalt Jesu treffen: da das Prophetentum schamanistischer Prägung, dort der wohl mutigste und kompromissloseste Denker der alten Griechen.
Elia - Sokrates - Diogenes - Jesus: Was hatten diese vier Personen gemeinsam?
Sowohl die Propheten, die sich in Elijas Nachfolge fanden, als auch die Kyniker verschrieben sich dem Armutsideal. Sie verließen ihre Familien, verkauften ihren Besitz, kleideten sich schlicht bis nachlässig, lebten ehe- und kinderlos und ernährten sich von geschenkten Lebensmitteln. Auch Sokrates vernachlässigte seine Frau und seine drei Kinder und widmete sich der freien Lehre, seiner "Maieutik" ("Hebammenkunst") bezeichneten Methode des unterweisenden Dialogs mit seinen Schülern. Auch für ihn, den religiösen Freidenker, gab es nur einen Gott, einen göttlichen Kern im Menschen: das "Daimonion". Als Sokrates der Gottlosigkeit angeklagt wird, entzieht er sich dem Urteil nicht, obwohl er könnte, sondern geht für seine Ideen in den Tod.
Die Gemeinsamkeiten zu Jesu Leben sind offensichtlich. Und nicht zufällig, meint Lang, denn Jesus müsse großes Interesse am griechischen Geisteserbe gehabt, die griechische Sprache beherrscht haben und mit philosophischen Schriften vertraut gewesen sein. "Die gegenseitige Wahrnehmung und der Gedankenaustausch zwischen Kynismus und Judentum führten zu einer eigenartigen Erscheinung, die bis heute zu Unrecht nur wenig Aufmerksamkeit gefunden hat; dem jüdischen Kynismus."
Daraus folgert Lang: Jesus habe sich bewusst auf Vorläufer, einerseits auf den Propheten Elia, andererseits auf die griechischen Kyniker bezogen. Letzteres habe ihm seine philosophischen Bildung erlaubt. Der Prophet vertrete dabei die jüdische ehrwürdige Tradition, der Philosoph den Fortschritt.
In neun Kapiteln entwickelt Lang seine Argumentation: Mit großer Sachkenntnis führt er in die Überlieferung über den Propheten Elia, in das Denken des Sokrates sowie in die Lebensform der Kyniker ein. Sogar in der römischen Kaiserzeit wirkte die Lehre der gewitzten Gesellschaftskritiker weiter; kein Wunder, dass sich Philosophen wie Michel Foucault und Peter Sloterdijk vom Kynismus faszinieren lassen. Ist man über den provokanten Buchtitel hinaus, öffnet sich dem Lesenden ein Fenster zur antiken Philosophie. Jesus als Kyniker zu sehen - dies ist zunächst wahrhaftig keine These, die leicht eingeht. Lang versteht es aber mit klarer Sprache und gründlicher Beweisführung, Sympathie für sie zu schaffen.
Bernhard Lang: Jesus der Hund. Leben und Lehre eines jüdischen Kynikers. C. H. Beck-Verlag, München 2010, 240 Seiten, Euro 12,95.
Daniela Maria Ziegler