Frau für Welt
In ihrer Dissertation erforscht Carolin Hillenbrand (29) an der Universität Münster, welche Rolle die Religion in der heutigen Zeit spielt. Ist sie Kitt oder Keil?
Das Schlagwort Zusammenhalt hat gerade in dieser Pandemiezeit Hochkonjunktur – in Medien, Politik und Gesellschaft. Doch wie ist es tatsächlich um unseren Zusammenhalt bestellt? Und welche Rolle spielen dabei Religionen? Diesen Fragen widmet sich meine Dissertation „Religion als Kitt oder Keil? Die Rolle der Religion für den gesellschaftlichen Zusammenhalt aus empirischer, ländervergleichender Perspektive.“ Mein Promotionsprojekt ist am Münsteraner Exzellenzcluster Religion und Politik angesiedelt, am Lehrstuhl für Religionssoziologie von Professor Detlef Pollack. Die Frage nach dem, was Menschen zusammenbringt und -hält ist zu meinem Herzens- und Lebensthema geworden. Auch privat. Ich lebe in Köln in einer besonderen, sozialen Wohngemeinschaft – ein Projekt der katholischen Pfarrgemeinde St. Theodor sowie der Fokolarbewegung – in einem sozialen Brennpunktviertel. Und ich engagiere mich im interreligösen Dialog, vor allem bei der internationalen Jugendbewegung „Coexister“ – in Deutschland: „Coexister Germany e. V.“ Wir setzen uns für ein friedliches Zusammenleben zwischen Menschen unterschiedlicher Kulturen und Weltanschauungen ein. Von Haus aus bin ich Politikwissenschaftlerin, habe dazu im zweiten Fach katholische Theologie (Bachelor) in Mainz und Südafrika und „Christentum und Kultur“ (Master) in Heidelberg studiert.
In meiner Dissertation arbeite ich vor allem empirisch und ländervergleichend und werte dafür Sekundärdaten aus, wie zum Beispiel den World Values Survey, die Datenbank der World Bank oder der Vereinten Nationen (UN). Darüber hinaus fokussiere ich mich mit einer eigenen quantitativen Umfrage auf Deutschland. Die Online-Befragung von über zweitausend Personen im Zeitraum Juli 2020 bis Januar 2021 konnte ich inzwischen weitgehend auswerten. Diese quantitative Vorgehensweise hat den Vorteil, dass ich generalisierbare Schlüsse ziehen kann.
Wie erfasse ich nun das komplexe Konstrukt „Religion“? Wichtig ist: Religion ist nicht gleich Religion und Glaube nicht gleich Glaube. Es gibt unterschiedliche Ausprägungen, Formen, Inhalte und Praktiken. Auf der Individualebene konzeptualisiere ich beispielsweise drei Dimensionen – die sogenannten 3 Bs: „belonging“, „believing“ und „behaving“. Das heißt erstens, zu welcher Religionsgemeinschaft gehört ein Mensch, wie ist seine religiöse Identität geprägt. Zum zweiten, was genau glaubt er oder sie, wie positioniert sich der Mensch zu anderen Religionen, und wie sieht seine Gottesbeziehung aus. Und der dritte Punkt fragt danach, wie er oder sie den Gauben praktiziert. Betet sie viel allein oder besucht er eher mit anderen den Gottesdienst. So konnte ich in meiner Fallstudie zum Beispiel herausarbeiten, dass der sozial-religiöse Aspekt, also der Gottesdienstbesuch und die Einbettung in eine Glaubensgemeinschaft, positiv mit den Zusammenhalt-Einstellungen einhergeht und das rein private Gebet eher negativ. Es ist genau diese Ambivalenz, weswegen ich den Titel „Kitt oder Keil“ gewählt habe. Religion ist beides.
Deshalb müssen wir tiefer einsteigen und fragen, welche Glaubensvorstellungen begünstigen den gesellschaftlichen Zusammenhalt und welche behindern ihn? Nicht nur auf der Individualebene, sondern auch auf der gesellschaftlichen. Zum Beispiel macht es einen Unterschied, wie säkularisiert ein Land ist – oder wie religiös divers eine Gesellschaft ist. So wird beispielsweise kontrovers diskutiert, ob religiöse Vielfalt den Zusammenhalt stärkt oder eher gefährdet. Wichtig ist zugleich, wie das Staat-Religions-Verhältnis ausgestaltet ist. Frankreich zum Beispiel ist eher laizistisch, in Deutschland praktizieren wir ein eher kooperatives Modell. Das werde ich mir differenziert anschauen. Was ich bereits verraten kann: Weltweit gesehen scheint religiöse Vielfalt eher positiv statt negativ mit dem Zusammenhalt einer Gesellschaft zusammenzuhängen. Wenn man regelmäßig beziehungsweise alltäglich auf Menschen anderer Religionen trifft, kann dies Vorurteile ab- und Freundschaften aufbauen – die Angst vor dem „Fremden“ kann genommen werden.
Doch was ist nun „gesellschaftlicher Zusammenhalt“? Wie lässt er sich empirisch greifen? Ich fokussiere mich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, worin die meisten Ansätze übereinstimmen. Insbesondere stütze ich mich auf den Kohäsionsradar der Bertelsmann Stiftung sowie die Forschungen am „Deutschen Institut für Entwicklungspolitik“ (DIE). Zusammenhalt wird meist als ein mehrdimensionales Konstrukt verstanden. Ein Beziehungskonstrukt zwischen den Gesellschaftsmitgliedern untereinander (horizontale Ebene) sowie zwischen Bürgerinnen/Bürgern und dem Staat (vertikale Ebene). Dabei gibt es vier Kerndimensionen: Vertrauen, Zugehörigkeitsgefühl, Verantwortungsbereitschaft und Engagement. Zum Beispiel: Je stärker das soziale und institutionelle Vertrauen, das soziale und politische Engagement, ausgeprägt sind, desto höher ist der gesellschaftliche Zusammenhalt.
Diese Dimensionen werden von mir gemessen, sodass ich für jedes Land analysieren kann, wie hoch der Zusammenhalt ist. Ist er zum Beispiel in Demokratien höher oder in Autokratien? Auf der Individualebene schaue ich danach, inwieweit religiöse Menschen ihren Mitmenschen generell mehr vertrauen oder weniger, sich mehr oder weniger engagieren.
Wenn es um die Dimension der Zugehörigkeit geht, spreche ich bewusst von einer inklusiven Identität. Das bedeutet, dass man auch den Andersdenkenden, -aussehenden oder -glaubenden die Zugehörigkeit zu dieser Gesellschaft anerkennt Das katholisch geprägte Polen zeigt zum Beispiel einen hohen Zusammenhalt innerhalb einer homogenen Gruppe, aber sobald Menschen mit anderer Hautfarbe oder Religion dazukommen, sieht das anders aus. Die Inklusivität ist ein entscheidendes Kriterium; auch bei der Religion. Es gibt Menschen, die haben ein sehr exklusivistisches Glaubensverständnis. Sie erachten ihre Religion als die einzig wahre und setzen sie absolut, auch über alle anderen Bereiche des Lebens, wie Wissenschaft oder Politik. Bei diesem Verständnis gibt es ein großes Spaltungspotenzial, während inklusive Glaubensvorstellungen den Zusammenhalt befördern. Diese treten zum Beispiel dann zutage, wenn man den Glauben mit anderen teilt, reflektiert und in Beziehung setzt.
Als politische Handlungsempfehlung folgt daraus, dass ein Land gut beraten ist, wenn die Religionen inklusive Glaubensvorstellungen vermitteln. Sie sind für den Zusammenhalt der Gesellschaft förderlich. Wie schafft man diese inklusive Identität? Ich zum Beispiel bin Katholikin, in meinem Glauben verwurzelt und gleichzeitig offen für andere Religionen. Der Schlüssel dafür ist Begegnung. Positiver Intergruppen-Kontakt baut Vorurteile ab und Brücken auf. Auch habe ich die Erfahrung gemacht, je mehr ich mich anderen Religionen gegenüber öffne, desto mehr lerne ich meine eigene Religion kennen und schätzen. Wir brauchen keine Angst vor der Begegnung mit dem „Anderen“ zu haben. Für die Zeit nach Abschluss meiner Promotion habe ich mehrere Visionen. Gerne möchte ich die Gesellschaft mitgestalten, vielleicht an der Schnittstelle zwischen Politik und Wissenschaft. Ich kann mir auch vorstellen, ein interreligiöses Wohnprojekt zu starten, ähnlich wie das House of One in Berlin, nur als Wohngemeinschaft. Seinen Glauben leben und teilen, gemeinsame spirituelle Elemente finden, das schafft eine enorme Verbundenheit. Was ich hierfür jedoch noch suche: einen konkreten Ort.
Aufgezeichnet von Kathrin Jütte
Kathrin Jütte
Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.