Impfpflicht? Nicht im Ernst, oder?

Warum der Staat nicht zu übergriffig werden sollte
Symbolfoto Impfpflicht
Foto: picture-alliance
Impfflicht oder nicht - das ist die Frage,

Immer lauter wird die Forderung nach einer Impfpflicht gegen Covid-19. Sogenannte Impfverweigerer gelten vielen als unsozial und schlicht lästig beim Kampf gegen die Pandemie. Aber Vorsicht, warnt der Leipziger Systematik- und Ethikprofessor Rochus Leonhardt, denn es steht zu viel auf dem Spiel.

„In the future, everyone will be world-famous for 15 minutes.“ – So formulierte es 1968 der US-amerikanische Künstler Andy Warhol. Der Film 15 Minutes von 2001 hat dann vorgeführt, dass man sich diese 15 Minuten Ruhm erst einmal verdienen muss. Und dies funktioniert am besten, wenn man etwas besonders Ungewöhnliches, Anstößiges oder auch Abstoßendes sagt oder tut.

Ende Juli hatte der Wirtschaftswissenschaftler Armin Falk seine 15 Minuten. In einem Interview in der FAZ hatte er die Trägheit und Dummheit der Menschen angeprangert, die sich nicht gegen COVID-19 impfen lassen wollen. Um die mangelnde Kooperationsbereitschaft und den Eigennutz der „Impfgegner“ zu sanktionieren, sollte, so der Vorschlag, im Fall einer Triage-Situation „der Impfstatus mit in die Abwägung einfließen“.

Dieses Votum ist zwar – nach meiner Überzeugung – anstößig und abstoßend, aber keineswegs ungewöhnlich. Seit Wochen halten vor allem Politiker und Wissenschaftler eine „Impfkampagne“ am Laufen, in der das Zuckerbrot der Gratis-Bratwurst und der Verheißung einer Rückkehr zur Normalität ebenso eine Rolle spielt wie die Peitsche der Diskriminierungsandrohung. Der hartnäckige Impfgegner soll sich gesagt sein lassen, was der bayrische FDP-Politiker Rainer Stinner auf Facebook gepostet hat: Er darf, „hoffentlich bald, nicht mehr unter die Leute gehen, weil er ein gefährlicher Sozialschädling ist“. – Man fragt sich beim Lesen solcher Einlassungen, wie die nächste verbale Eskalationsstufe aussehen wird: Forderung des Wahlrechtsentzugs für Ungeimpfte? Vorschlag der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes für alle (noch vor kurzem harsch kritisierten) Impf-Vordrängler wegen ihres besonders ausgeprägten Gemeinsinns?

Verstärkende Polarisierungen

Dass öffentliche Debatten auch hierzulande immer öfter das Niveau von Schulhofprügeleien tangieren, ist leider nicht neu. Angesichts der dadurch bedingten sich ständig verstärkenden Polarisierungen fällt die Rückkehr zur Sachlichkeit schwer. Allerdings: Wenn ein angemessener, d.h. ein realistisch-pragmatischer Umgang mit der Pandemie-Lage das Ziel ist, dann muss sich die Tonlage ändern – natürlich auf allen Seiten.

Rückkehr zur Sachlichkeit – das heißt hier zunächst: Prüfung des Sachgehalts der eingangs referierten Kritik an den Impfkritikern. Dabei sind, was das Votum von Armin Falk angeht, zwei Aspekte zu unterscheiden. Erstens: Hat die Entscheidung, sich nicht impfen zulassen, tatsächlich, wie Falk behauptet, „nichts mit Rationalität zu tun, sondern einfach nur mit Eigennutz“? Zweitens: Kann es legitim sein, Nichtgeimpfte in bestimmten Situationen bei der medizinischen Versorgung zu benachteiligen?

Ich beginne mit der zweiten Frage. Angesprochen ist damit ein medizinethisches Grundsatzproblem. Die für die medizinische Versorgung bereitstehenden Ressourcen sind begrenzt. Es liegt daher nahe, die Frage nach Priorisierungen für den Fall zu stellen, dass aus ökonomischen oder situativen Gründen nicht alle Bedürftigen gleichermaßen gut versorgt werden können. Dass dabei auch die mögliche Eigenverantwortung des Patienten für seinen behandlungsbedürftigen Zustand in den Blick kommt, ist ebenfalls plausibel. Indes: Sobald man hier genauer nachdenkt, wird es kompliziert. Sollen etwa gewaltaffine Fußballfans, wenn sie bei Auseinandersetzungen mit den ebenfalls gewaltaffinen Fans der Gegenseite verletzt werden, nur gegen Vorkasse oder (im Fall einer Überlastungslage) nachrangig medizinisch behandelt werden? Müssen auch Übergewichtige als Sozialschädlinge gelten, weil wegen ihrer Essgewohnheiten die Wahrscheinlichkeit von Herz-Kreislauf-Erkrankungen erhöht ist? Sollte deren medizinische Versorgung auf Kosten der Solidargemeinschaft daran gebunden werden, dass sie sich den Magen verkleinern lassen – eine OP als „Impfung“ für Dicke? Und: Wer entscheidet aufgrund welcher Kriterien, ob ein verletzter Fußballfan tatsächlich willentlich in die Schlägerei geraten ist und ob eine Herz-Kreislauf-Erkrankung eindeutig auf Übergewicht zurückzuführen ist?

Überspielte Unklarheit

Die Komplexität des Problems macht klare Priorisierungsempfehlungen schwer, wenn nicht gar unmöglich. Der Vorschlag, in Triage-relevanten Situation bei COVID19-Patienten den „Impfstatus mit in die Abwägung einfließen“ zu lassen, überspielt diese Unklarheiten dadurch, dass er eine Zielgruppe in den Blick nimmt, für die Benachteiligungen zu fordern derzeit populär ist. Die Idee ist also (im schlechten Sinn) populistisch; Regie geführt hat das Ressentiment.

Wie aber ist die erste Frage zu beantworten? Ich erlaube mir hier zunächst einen kleinen historischen Rückblick. In seiner 2009 unter dem Titel „Die Verwandlung der Welt“ erschienenen Weltgeschichte des 19. Jahrhunderts hat der Historiker Jürgen Osterhammel die Einführung staatlicher Gesundheitssysteme einschließlich der Seuchenprävention als Errungenschaften der Moderne dargestellt. Am Beispiel der Pockenbekämpfung zeigt er, dass das Gelingen medizinpolitischer Maßnahmen stets auch auf staatlichen Druck angewiesen war: „Der Widerstand von Impfgegnern […] musste überwunden werden, Regierungen mussten die Impfpflicht durchsetzen“. Staatliche Impfregimes können also durchaus Erfolgsgaranten sein.

Allerdings: Im 21. Jahrhundert und im Geltungsbereich des deutschen Grundgesetzes stehen auch staatliche Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung prinzipiell unter dem Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit; daran haben vor kurzem Elisa Hoven und Frauke Rostalski in einem wohltuend sachlichen Beitrag in der WELT erinnert. Vor allem ist in Rechnung zu stellen, dass das Coronavirus keineswegs für alle Menschen gleichermaßen gefährlich ist, sondern primär für die sog. Risikogruppen, auf die sich deshalb die Schutzpflicht des Staates in besonderer Weise erstreckt. Dieser Schutzpflicht ist der Staat mehr als nachgekommen: Es besteht mittlerweile ein Impfangebot nicht nur für die zu einer der Risikogruppen gehörenden Personen, sondern überhaupt für alle präventiv motivierten Menschen.

Es gibt auch rationale Gründe gegen Impfung

Wenn allerdings die Ermöglichung der Impfung staatlich propagiert wird als ein Angebot, das man nicht ablehnen kann, dann ist das übergriffig. Die Rückkehr zur Lebensnormalität an eine bestimmte Impfquote zu binden, ist deshalb unverhältnismäßig. Und die nicht Geimpften dafür verantwortlich zu machen, dass unverhältnismäßige Einschränkungen aufrechterhalten werden, befördert die Spaltung der Gesellschaft in vermeintliche Opfer und Täter sowie den Überbietungswettbewerb bei den Vorschlägen zur Benachteiligung der nicht kooperativen Sozialschädlinge.

Doch warum sollte man das Impfangebot ablehnen? Grundsätzlich gilt zunächst, was Hoven und Rostalski schreiben: „selbst wenn der Verzicht auf eine Impfung medizinisch unvernünftig sein sollte – jeder Mensch darf für sich irrationale Entscheidungen treffen“. Darüber hinaus kann es aber auch rationale Gründe für eine Entscheidung gegen die Impfung geben. Dabei ist insbesondere an solche Konstellationen zu denken, in denen der Hausarzt des eigenen Vertrauens in einem konkreten Fall eine Impfung nicht empfiehlt, und zwar aufgrund seiner fachlichen Expertise in Verbindung mit einer soliden Kenntnis der Krankengeschichte des Patienten.

Die Entscheidung, die auf einer solchen individuellen Abwägung beruht, hat auch dann sehr viel mit Rationalität zu tun, wenn sie gegen eine Impfung ausfällt. Sicher, der Hausarzt kann falsch liegen. Auch kommen nicht alle Ärzte im selben Fall zur selben Empfehlung. Aber es ist vernünftiger, der Empfehlung eines Arztes zu folgen, der einen kennt und dem man vertraut, als sich einem medizinischen Eingriff (und ein solcher ist die Impfung) zu unterziehen, weil Politiker und Experten mit Zuckerbrot locken und mit der Peitsche drohen.

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Rochus Leonhardt

Rochus Leonhardt, Jahrgang 1965, ist seit 2011 an der Theologischen Fakultät der Universität seiner Geburtsstadt Leipzig Professor für Systematische Theologie mit dem Schwerpunkt Ethik.


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