Weiter schweigen

Ein Leben mit Alkohol

Zu den vielen deutschen Merkwürdigkeiten zählen die Anti-Rauchergesetze und das öffentliche Schweigen zum Thema Alkoholkonsum. Während die Rauchverbote mit einer „flächendeckend wohlfeilen Hysterie durchgepaukt werden konnten“, geschieht in Sachen Alkohol nichts, wie Simon Borowiak in seinem Buch Alk schreibt. Und wenn er nach 240 Seiten seiner eindrucksvollen Beschreibung der Risiken und Nebenwirkungen des Alkoholkonsums ein Werbeverbot fordert, fragt sich der geneigte Leser, warum es das nicht schon lange gibt. Und er positioniert sich mit Borowiak gegen das „herzdämlichste Argument“ von allen, Alkohol sei „ein Stück unserer Lebensart“ oder gar „Kulturgut“.

Denn schonungslos erfährt der Leser, dass etwa zehn Millionen Deutsche abhängig sind oder zumindest ein problematisches Trinkverhalten an den Tag legen, unter dem ihre Kinder, Partner und Arbeitskollegen leiden. Diese erschreckende Dimension mit einem tiefen Blick in die bundesdeutsche Suchtgesellschaft wird von der Lektüre aufgetan.

Aber der Reihe nach. Simon Borowiak war sieben Jahre Redakteur beim Satiremagazin Titanic, lebt und arbeitet heute in Hamburg. 2006 erschien in der ersten Auflage sein Buch Alk mit dem Untertitel „Fast ein medizinisches Sachbuch“. 2014 folgte der Roman Sucht. Nach dem beeindruckenden Romanerfolg nun also die aktualisierte Neuauflage eines der populärsten Sachbücher über Alkoholismus in Deutschland. Es wartet auf mit Verweisen auf Rausch, offizielle Diagnosen, Statistiken und Informationen über körperliche und geistige Folgeschäden und Therapieziele. Vor allem aber besticht es durch Borowiaks leidvoll erfahrene Erlebnisse als „Profi-Trinker“. Er schont weder sich noch seine Leser und teilt die Alkohol trinkende Masse in drei Grundtypen ein: Hobby-Trinker, Amateure und Profis.

Im ersten Teil widmet er sich der Frage, wer als Alkoholiker gilt, aber vor allem schildert er, was im Gehirn, einer Kneipe, die er „Zum Oberstübchen“ nennt, passiert, wenn sich ein Rausch ankündigt, eine „Art neuronale Wirtshausschlägerei“. Spannend auch sind seine Ausführungen über die biochemischen Prozesse im Körper, die dazu führen, dass der „trainierte Trinker“ immer mehr vertragen kann. Hier gilt nach Borowiak: „Der Körper hat keine Reset-Taste, Leute!“ Und: Die beruhigende Wirkung des Alkohols führt dazu, dass sich im zentralen Nervensystem die Zahl der Rezeptoren erhöht. Das erklärt wiederum die Reizbarkeit im Entzug. Ein neuronaler Teufelskreis. Im zweiten Teil des Buches geht er den suchtpsychologischen Feinheiten auf den Grund. Borowiak erklärt, warum das Suchtgedächtnis so übermächtig ist, und er deshalb allen Ex-Trinkern von alkoholfreiem Bier abrät, warum man auch nüchtern am nächsten Tag mit einem Phantomkater aufwachen kann und wie Trinkgewohnheiten und seelische Tagesform als Gefährder gelten.

Sicher, es gibt umfangreiche Literatur zum Thema Sucht, doch kaum jemand diagnostiziert sie so kenntnisreich, verständlich und so treffsicher wie Simon Borowiak. Bei seinen oftmals flapsig erscheinenden Schilderungen über das Leben auf den Entgiftungsstationen, über Arztgespräche oder über die „potenzielle Trinkerpsyche“ wird doch jederzeit die Tragik leibhaftig. Nebenbei: Seine zufällig eingestreuten Ausdrücke wie „Gott, der Herr“, „Herr lass Abend werden“ oder „die Wege des Herrn Cravings“ lassen eine katholische Erziehung durchschimmern.

Und noch etwas unterscheidet ihn von vielen Autoren: Er liefert eine breite Recherche, bittere Anekdoten, einen historischen Rückblick und Behandlungsformen. Das alles ohne zu moralisieren. Der ehemalige Satireredakteur geht die Thematik Sucht sprachlich leidenschaftlich und schöpferisch an. Mit eindrucksvollen Bildern nimmt er den Leser mit auf einen, seinen schockierenden Leidensweg.

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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