Gott ist zielstrebig (I-V)

Theologie im Schatten der Corona-Krise

Theologie in Coronazeiten! Günter Thomas, Professor für Systematische Theologie an der Ruhr-Universität Bochum, geht mit Fragen und Antwortversuchen ins Risiko.

Die Coronakrise fordert die Kirchen nicht nur zu neuen Formen mutiger Nächstenliebe zu Zeiten der sozialen Distanzierung heraus. Sie provoziert auch das theologische Nachdenken. Nicht nur die Ethik, auch die Dogmatik ist herausgefordert. Die Coronakrise führt zu einem tiefgreifenden Umbau der Bühne, auf dem die Kirche sich aufführt. Bewährtes tritt in den Hintergrund, Vergessenes schiebt sich in den Vordergrund. Es ist nicht nur eine thematische Schnittstelle, die wichtig wird, wie zum Beispiel Verantwortung, Schöpfung oder Theodizee. Diese Krise berührt die ganze Theologie. Um im Bild der Orgel zu sprechen: Die Coronakrise zieht alle Register der Theologie. Sie zwingt zu theologischer Ehrlichkeit und zu konstruktiver Auseinandersetzung. Diese Krise hat die Kraft, vertraute theologische Formen zu zerbröseln und Worthülsen öffentlich als das zu entlarven, was sie sind: leere Hülsen längst vergangener Gefechte.

Es gibt ja in der Tat Zeiten, in denen es die Theologie vorziehen sollte, qualifiziert zu schweigen. Hier und heute schuldet sie aber der Kirche und den denkenden Christen Orientierungsvorschläge. Pfarrerinnen und Pfarrer schulden sie ihren Gemeindegliedern. Dabei muss die Theologie wie auch die Kirche tunlichst vermeiden, aus dieser globalen Krise theologisch Honig zu saugen oder kulturelle Geländegewinne anzustreben. Ebenso sollte die Theologie besonders vermeiden, eine Flucht in die Unbestimmtheit anzutreten, eine Unverfügbarkeit des Lebens zu zelebrieren oder gar die Erfahrung von Ohnmacht religiös vertiefen zu wollen. Es steht die Fragen im Raum: Was sagen und tun wir, was die Bundeskanzlerin nicht auch schon sagt? Sagen wir als Christen, als Kirchen und als Theologen etwas, was die Bundeskanzlerin nicht sagen und tun kann, darf und muss?

Die folgenden Überlegungen sind ein Selbstgespräch mit vielen offen bleibenden Fragen. Sie nehmen aber die Tatsache als Hintergrund, dass die Thematik der Krankheit die biblischen Traditionen wie ein roter Faden durchzieht. Darüber hinaus unternehmen sie etwas auf den ersten Blick ganz Altbackenes. Sie sortieren sich selbst anhand der ganz traditionellen Themenfelder der Theologie: Schöpfungslehre, Vorsehungslehre, Sünde, Christologie, Ekklesiologie, Pneumatologie, Anthropologie und zuletzt Eschatologie. Die Ausführungen sind kurze theologische Meditationen in diesen klassischen Themen und fragen, welche Resonanzen zwischen der Coronakrise und diesen Themen sich fassen lassen. Es geht nicht um letzte Einsichten, sondern um Vorschläge von Erkenntnisrichtungen.

Schöpfung

Das Coronavirus nötigt die Theologie, den schöpfungstheologischen Blick auf die Traditionen der Schöpfung als dauernder Chaosüberwindung zu lenken. Das christliche Reden von der Schöpfung folgte über viele Jahrhunderte der Erzählung in Genesis 1. Als eine der Pointen war festzuhalten, dass die Schöpfung gut sei und es keinen Grund für ein zweites Prinzip neben Gott gebe. Ein anderer Fokus lag auf dem sogenannten zweiten Schöpfungsbericht und der damit verbundenen Anthropologie und Vorstellung von Sünde. Dieser Störfaktor Mensch rückt dann in ökologischen Theologien in den Vordergrund. Diese Entwürfe neigen durchgehend zu Harmonisierung hinsichtlich der Einbettung des Menschen in die weitere Natur. „Integrity of Creation“ oder „Bewahrung der Schöpfung“ sind die Stichworte.

Dabei gerät aus dem Blick: Christen beten nicht die Kräfte des Lebens an. Sie vergöttern nicht die Evolution und auch nicht das Leben. Der Gott der Lebendigen ist nicht das Leben selbst. Nur im Rahmen eines zu harmonisierend romantischen Verständnisses von Leben kann der Aspekt der Feindschaft, des Konfliktes zwischen den Sphären und Ebenen des Lebens aus dem Blick geraten. Schon Genesis sieht die Notwendigkeit, dass auch etwas zurückgedrängt werden muss.

Der jüdische Exeget und Theologe Jon D. Levenson hat in einer großartigen Studie mit dem Titel „Creation and the Persistence of Evil“ 1987 auf die biblisch breite Tradition der Schöpfung als Chaosüberwindung hingewiesen. Karl Barth hat schon in den 50er Jahren eine prozessorientierte, die Chaosüberwindung herausstreichende Schöpfungslehre vorgelegt. Selbst der erste Schöpfungsbericht lässt die chaotische Finsternis nicht verschwinden, sondern stellt sie neben den Tag. Der siebente Tag der Ruhe Gottes ist ohne Nacht, wie auch die Vision des himmlischen Jerusalem in der Apokalypse keine Nacht mehr kennt. Dies ist zu vergegenwärtigen, wenn die Schöpfung immer wieder als gut oder sehr gut bezeichnet wird. Sie ist nicht unüberbietbar gut. Sie ist passabel brauchbar, aber stets gefährdet durch einbrechendes Chaos.

Es ist ein Irrtum in vielen ökologischen Schöpfungstheologien den Einbruch des Chaos nur auf der Seite des Menschen zu verorten. In einer sich evolutionär entfaltenden Welt sind Risiken Teil des Prozesses. Die Schöpfung entfaltet sich mit einer nicht zuletzt auch abgründigen Freiheit, die sich auch in lebenszerstörerischen Mutationen der Viren manifestiert. Eine indianische Frömmigkeit der natürlichen Einbettung des Menschen in das Leben kann man sich nur unter zwei alternativen Bedingungen leisten: Einem guten Schuss Fatalismus oder genügend Antibiotika und anderen guten Medikamenten. Auch die religiöse Überhöhung von Relationalität und Gemeinschaft muss sich fragen lassen, wie viel Entkopplung als Bedingung des Lebens ihr schon bisher entgangen ist.

Die Frage, die heute mit der Coronakrise auf den Tisch gelegt wird, heißt: Wie verhält sich diese Virusinfektion und das mit ihr verbundene Leid zur vielfachen und lautstark behaupteten Güte der Schöpfung? Ist die Schöpfung eine Einheit von Leben und Tod zugunsten des Lebens, in der die Kräfte der Destruktion stets zurückgedrängt werden müssen? Ist die lebenszerrüttende Krankheit SARS-CoV-2 eine Manifestation dieser Mächte? Gehört diese Krankheit einfach zu den hinzunehmenden Risiken der guten Schöpfung? Oder ist sie ein Zeichen des Risses in der Schöpfung, der nach einer Neuen Schöpfung fragen lässt? Wie viel Gewalt ist eingewoben in die Netze des Lebens? Die Sintfluterzählung spricht hellsichtig vom Problem der Gewalt in allem Fleisch. Läuft in diesen Fällen die Eigenkreativität der Schöpfung, die schon in Genesis 1,24 klar gesehen wird, irgendwie aus dem Ruder?

Selbst die theologische Tradition, die sich nicht mit den Anfragen eines evolutionären Verständnisses der Natur auseinandersetzen musste, hat stets zwischen Skylla und Charybdis navigieren müssen: Die Behauptung einer unüberbietbaren Güte der Schöpfung widerspricht zunächst vielen Alltagserfahrungen. Sie steht aber auch im Konflikt mit den Visionen einer Neuschöpfung von Himmel und Erde, die die Gewaltverhältnisse im Leben hinter sich lässt. Darum frisst der Löwe Stroh in der Vorstellung (Jesaja 11), dass der Löwe seine Existenz nicht mehr als Raubtier fortführt, lebt er nicht mehr auf Kosten anderen Lebens. So wurde eine religiöse Versöhnung mit dem Elend vermieden. Zugleich wich die Tradition einer völligen Verdunklung der Schöpfung aus, die dann in gnostischen und platonischen Gedankenräumen zur Vorstellung einer religiösen Befreiung aus dem Gefängnis dieser Leiblichkeit führte. Unter den gegenwärtigen Bedingungen eine theologische Geschicklichkeit der Navigation wieder zu entdecken ist von großer Bedeutung. Religiösen Schöpfungskitsch nehmen die Menschen der Kirche mit guten Gründen nicht ab.

Gottes Vorsehung

Viel der theologischen Sprachlosigkeit angesichts lebensgefährdender Krankheit ist Teil der Krise der Vorsehungslehre. In Sachen Vorsehungslehre ist eine enorme und wohl nicht mehr überbrückbare Distanz zur Tradition mit Händen zu greifen. Allerdings gilt auch hier: Mit der entschlossenen Verabschiedung fragwürdiger Antworten sind die berechtigten Fragen noch lange nicht automatisch mit verschwunden.

In Verbindung der Idee einer Allwirksamkeit Gottes war die Vorstellung der Vorsehung, der Providenz Gottes, ein Kontingenzpuffer: Das Leiden, das die Gottlosen traf, konnte als Gericht und Strafe, das eigene Leiden als Prüfung verbucht werden. Wie weit die theologische Tradition von unseren gegenwärtigen theologischen Intuitionen entfernt ist, lässt sich an der Beantwortung der 27. Frage des Heidelberger Katechismus erkennen: „Was verstehst du unter der Vorsehung Gottes? (Apostelgeschichte 17, 25-28) Die allmächtige und gegenwärtige Kraft Gottes, durch die er Himmel und Erde mit allen Geschöpfen (Hebräer 1, 2-3) wie durch seine Hand noch erhält und so regiert, dass Laub und Gras, Regen und Dürre (Jeremia 5, 24 / Apostelgeschichte 14, 17), fruchtbare und unfruchtbare Jahre (Johannes 9, 3), Essen und Trinken (Sprüche 2), Gesundheit und Krankheit, Reichtum und Armut und alles andere uns nicht durch Zufall, sondern aus seiner väterlichen Hand zukommt.“

Wer will dies hier und heute öffentlich angesichts der Corona-Toten sagen? Welche Präses und welcher Pfarrer stehen uneingeschränkt hinter dieser Antwort? Selbstverständlich finden wir diese Theologie auch noch in beliebten Liedern des Kirchengesangbuches. Inmitten der Coronakrise kann die Kirche nicht sagen „der alles so herrlich regieret“. Die Pfarrerinnen und Pfarrer sollten diesen Zweifel aber auch nicht beschweigen. Der Weg zu diesen Texten ist zugemauert, oder?

Nicht zuletzt war es die radikal christologische Umorientierung der Theologie des 20. Jahrhunderts, die Auswege aus diesem theologischen Fatalismus zeigte. In Sachen Providenz sind wir in der gegenwärtigen Krise aber nun eingeklemmt zwischen zwei fragwürdigen Alternativen: einer mit den Eigenschaften der Allmacht und Allwirksamkeit verbundenen Gottesverdunklung und einer mit den Ideen der liebenden Begleitung in Schwachheit verbundenen Verohnmächtigung Gottes. Zu verführerisch ist die Rede von Ergebung, von Schicksal und Fatum, die nur zu einer falschen Versöhnung mit dem Elend führt.

Wie ist die nicht nur, aber auch abgründige Freiheit in der sich entfaltenden Natur mit einer treuen göttlichen Begleitung zu verbinden? Krankheit, körperliches Elend und zerbrochenes Leben stellen beträchtliche Herausforderungen für ein Reden von Gottes gegenwärtiger Vorsehung dar. Die hier aufbrechenden Probleme werden durch die Rede von Gott als „alles bestimmender Wirklichkeit“ lediglich verdunkelt. Auf der anderen Seite ist theologisch einzugestehen, dass die radikale Alternative einer Theologie, in der Gott den Prozess der Welt nur mit anzunehmenden oder auch abzulehnenden Möglichkeiten begleitet, auch nicht befriedigend. Ist nämlich Gott nur der, der situativ Möglichkeiten bereitstellt, so kann angesichts des durch Gier und Dummheit geschwächten Menschen kein rettendes Handeln Gottes ausgesagt werden.

Mancher Theologe und manche Predigt verweist bei Gottes vorsehendem Handeln gerne auf das große kosmische Bild von Schöpfung. Abgesehen davon, dass diese kosmisch weite Perspektive den kranken Menschen auch nicht hilft, verführt der Verweis auf das „grand picture“ dazu, kleine Elende als notwendiges Opfer für den großen Prozess zu betrachten. In Ansätzen findet sich dieses Denken schon in Sätzen wie. „Corona? Da sterben doch nur die Alten. Das Leben geht weiter.“

Schon die theologische Tradition ging von einer Fülle von Medien aus, durch die sich die Vorsehung Gottes vollzieht. Menschen, Organisationen und natürliche Prozesse, kulturelle und geschichtliche Kräfte sind alles Medien der göttlichen Fürsorge und Vorsehung. Sie alle sorgen nicht für das Heil, aber für das Wohl der Menschen. Allerdings war Gott selbst – um das Modell des Theaters zu bemühen – immer noch der Regisseur des ganzen Welttheaters. Für die emanzipierte Moderne ist es der Mensch mit all seinen technischen, sozialen, rechtlichen, moralischen und kulturellen Erfindungen der Lebensbewältigung, der die Rolle des Regisseurs beansprucht – auch noch in der Weltenrettung. In der Coronakrise wird aber das eigentlich Selbstverständliche überdeutlich: Der Mensch, auch die Staatengemeinschaft und all die Koalitionen der Gutgesinnten sind trotz allem richtigen und notwendigen Engagement nicht in der Lage, als Ersatz für den göttlichen Regisseur zu dienen. Theologie und Kirche sollten sich aber tunlichst hüten, mit religiöser Schadenfreude auf den Sieg des Unverfügbaren, auf Kontingenz und Ähnliches zu verweisen. Sie ringen selbst mit Antworten und fragen auf ihre Weise nach dem Regisseur.

Eine Neuformulierung der Vorsehungslehre muss einerseits bei Gottes Absichten für jedes Leben, die Kirche und die Welt ansetzen, dann aber als Lehre der Ungeduld der Hoffnung entfaltet werden. Die Idee der Vorsehung Gottes formuliert dann nicht eine Einsicht in einen alles bestimmenden Gott, sondern die in eine unerbittliche, aber auch abgründig geduldige Zielstrebigkeit Gottes.

Die theologische Rede von Sünde

Die Sündenlehre ist in der Theologie der Ort, an dem der Menschen befreiende göttliche Widerwille Thema wird. Jenseits aller oberflächlichen Moralisierung ist es der Denkzusammenhang, an dem die Frage nach den Kräften und Mächten der Lebenszerstörung in der Schöpfung aufgeworfen wird. Hier stellt sich die Frage, wie Leiden und Sünde strikt zu unterscheiden und doch zugleich wieder aufeinander zu beziehen sind. Gerade weil es in der theologischen und der kirchlichen Vergangenheit äußerst problematische Verbindungen gab (Krankheitsleiden zeigt Sünde an, Sünde führt zu Krankheit, etc.) ist hier große theologische Vorsicht geboten. Es ist ein notorischer Fehler der Theologie und der Kirchen, die Sünde von den Defiziten des Menschen her zu bedenken. Sogenannte konservative und sogenannte progressive Christen vertreten – eben als Moralisten – hier strukturell sehr ähnliche Irrtümer. Es ist der Widerwille des Leben fördernden Gottes, der etwas als Sünde bestimmt.

Die theologische Tradition hat die Sünde zumeist auf der Ebene willentlicher menschlicher Handlungen angesiedelt. Zügellose Gier, die sich in Handlungen zeigt, führt zur Zerstörung sozialer Beziehungen ebenso wie Lügen. Wie ist aber mit der Gewalt unterhalb des Willens, innerhalb von biologischen Prozessen theologisch umzugehen. Autoimmunerkrankungen, Krebserkrankungen und nicht zuletzt auch die Erkrankung durch das Coronavirus zeigt zerstörerische Ungleichgewichte, ‚Fehler‘ in biologischen Prozessen an. Kann man hier von Analogien der Sünde sprechen? Nimmt man Vulkanausbrüche, Wirbelstürme, Erdbeben und Tsunamis in den Blick, so ist die Theologie mit der Frage konfrontiert, wie sie zu diesen Formen des natürlichen Übels steht – die selbstverständlich nur in der Perspektive des rückbetroffenen Menschen betrachtet als Übel erscheinen. Weite Teile der westlichen Theologie „nach Immanuel Kant“ erklärten sich für natürliche Prozesse nicht zuständig. Der Ort der Theologie ist die Deutung der menschlichen Existenz, ihre Selbstdeutung. Es ist allerdings just die Erfahrung massiv lebensbedrohlicher Krankheit, die diesen bequemen Weg mit großen Steinen verlegt.

Mit Ausnahme der westlichen protestantischen Theologie vertreten weite Teile der Weltchristenheit immer noch die Auffassung, dass der Tod bis hin zum biologischen Tod eines Menschen „der Sünde Sold“ sei (Röm 6). In der evangelischen Theologie setzte sich die Erkenntnis durch, dass die Endlichkeit des Menschen unvermeidlicher Teil seiner Geschöpflichkeit ist. Diese Verschiebung verschärft in der Coronakrise die Frage: Welche Manifestationen menschlicher Endlichkeit und Begrenztheit sind zu akzeptierende Aspekte der ganz und gar irdischen und guten Schöpfung? Welche Aspekte sind aber Manifestationen einer tödlichen Brüchigkeit der Schöpfung, denen nur ein entschlossener Kampf zugunsten des Lebens trotzen kann? Wer jetzt sagt, dass die Alten eben sterben, gibt den Kampf auf und stellt schulterzuckend fest: So ist eben das endliche Leben. Wo verläuft aber die Grenze zwischen beiden Auffassungen? Kann es sein, dass die Verfügbarkeit eines Beatmungsgerätes darüber entscheidet?

Noch eine letzte Bemerkung zum „Klumpenrisiko“ der Sünde. Es scheint so zu sein, dass sich persönliche, aber auch soziale und kulturelle Formen der Sünde mit Vorliebe auch an Menschen und Ereignissen der Verwerfungen und Zerklüftungen des biologisch-leiblichen Lebens festmachen. So abgründig es wohl ist, aber Opfer ziehen magnetisch Täter an, die nicht helfen, sondern weiter beschädigen. Die Macht des Vitalismus tobt sich stets an den Schwachen aus. Deshalb bleibt Leiden und Sünde untergründig verbunden.

Anthropologie

Die Coronaepedemie räumt gleich mit mehreren liebgewonnen Vorstellungen der theologischen Anthropologie auf. Gegenläufig zu einem verbreiteten Anliegen, Freiheit und Autonomie zur Bestimmung des Menschseins ins Zentrum zu rücken, verweist das Coronavirus brutal auf die Verletzlichkeit des Menschen. Endlichkeit heißt Verletzlichkeit. Wer verletzlich ist, kann sich den Umgebungsfaktoren nicht vollständig entziehen, auch nicht den von ihnen ausgehenden Bedrohungen. Nach vielen Jahren des Lobpreises der Körperlichkeit und Leiblichkeit des Lebens macht Corona auch rücksichtslos klar: Leiblich zu existieren heißt, auf der biologischen Ebene massiv gefährdet zu sein. Corona wirft einen mächtigen Elendsschatten auf die leibliche Existenz. Der Mensch, der dachte, er sei „wenig niedriger gemacht als Gott“ (Ps 8,6) ist doch zuerst und zumeist „Staub, der atmet“ (Gen 2,7). Der Coronavirus erinnert daran, dass all diejenigen, die in einer langen philosophischen und theologischen Tradition den Leib als Gefängnis betrachteten, in allem Irrtum nicht frei von einem Körnchen Wahrheit waren.

Aber auch all diejenigen, die in den letzten Jahren die Kreativität in der Verletzlichkeit des Menschen betont haben, können die tiefe Zweideutigkeit der Verwundbarkeit nicht übersehen. Auch die Pandemie zeigt, dass es die gleiche Verletzlichkeit des Menschen ist, die hinten den Rachephantasien des Lamech (Gen 4,23f) und hinter dem Barmherzigkeitsethos des Jesaja (Jes 42,3) stand. Akute Ereignisse der Verletzlichkeit können ungeahnte Energien des Beistandes und brutale Egoismen entfesseln. Der Siegfried-Mythos ist eine gefährliche Erinnerung. Auch die Lebensmetapher des Kampfes ist mit Verletzlichkeit kombinierbar. Da die Verletzlichkeit gefährlich ist, ist auch ein Kampf angesagt, eben der Pflegenden und Ärzte, der Forscher und all derer, die die Folgen der Pandemie einzugrenzen suchen. Die menschliche Verletzlichkeit bleibt schillernd.

Auch eine weitere Bestimmung des Menschen stellt die Coronakrise massiv in Frage. Diese Idee ist in vielfältigen Varianten in Theologie und Kirche verbreitet. Das Zauberwort heißt Relationalität. Dabei wird stets unterstellt, Relationen seinen stets gut und lebensförderlich. Die „Vergöttlichung“ des anderen und der Andersheit fallen in die gleiche Rubrik. Eine gesteigerte Konnektivität steigert aber auch das Risiko und die Gefährdung. Nicht im einfachen Sinne der sozialen Distanzierung. Jedes Leben ist in Wahrheit von förderlichen, wie auch von destruktiven Mächten und Kräften umgeben. Beide zu unterscheiden ist so schwierig wie notwendig. Menschen fördern sich und beschädigen sich gegenseitig. Dieses schillern der Sozialität ist tief eingeschrieben in die biblischen Traditionen.

Pandemien führen zweifellos zu einer geradezu paradoxen Struktur in der menschlichen Gemeinschaft: Wenn die anderen einen selbst für die Fürsorge benötigen, dann müssen sie sich aus dem Weg gehen und Distanz pflegen. Zugleich sind Menschen, die in Quarantäne leben, in besonderer Weise auf eine Versorgung angewiesen, die nicht allein „virtuell“ vonstatten gehen kann. Es braucht auch Menschen, die produktiv rücksichtslos unterstützen. Es sind die Schutzgrenzen durch Schutzkleidung, die Nähe erlauben. Für die gottesdienstliche Kommunikation ist für neue Kombinationen von Medialität und physischer Präsenz viel Kreativität gefragt. Die anthropologisch wie theologisch reiche Kommunikationsform der Fürbitte wartet auf neue Erschließungen. Dies alle sind nur Andeutungen zu den anthropologisch wie theologisch und speziell auch liturgisch spannenden Fragen sehr subtiler Gestalten von Nähe und Distanz, Relationalität über Distanz oder Nähe aufgrund von spezifischen Ebenen der Distanzierung.

Chistologie

Der Gang in die Fleischlichkeit zeigt die Tiefe der Menschwerdung Gottes in Christus an. Mit dem Christusereignis reagiert Gott auf die untragbaren Risiken der evolutionär sich entfaltenden Schöpfung und Geschichte. Christus kommt in eine Welt der Gewalt. In einer direkten Linie mit dieser tiefen Menschwerdung ereignen sich die Krankenheilungen Jesu. In den Wundern der Heilung adressiert Christus die untragbaren Risiken der biologischen Evolution. Weit davon entfernt, nur Vollmachtszeichen zu sein, sind die Heilungen Interventionen. Sie zeigen die Aspirationen Gottes an, seine Absichten und Ziele mit verletzlichem Menschsein. Der Theologe Karl Barth hat in den 1960iger-Jahren, als große Debatten über die Wunder Jesu geführt wurden, auf einen einfachen Sachverhalt hingewiesen: Das eigentliche Wunder ist, dass sich in Christus Gott den realen leiblichen Nöten der Menschen zuwendet. Der Weg in die schmutzige und leiddurchsetzte Leiblichkeit ist das Wunder. Bemerkenswert sind drei Aspekte:

Erstens: Es ist eine echte Leidenschaft des Erbarmens. Nur im Zusammenhang mit dem Krankheitstod des Lazarus wird erzählt, dass Jesus weinte. Die Krankheitsnot bewegt Gott.

Zweitens: Die in den Heilungen sich dokumentierende Liebe ist so verschwenderisch, dass sie nicht notwendig nach Glaube fragt. In dieser radikalen Zuwendung werden Grenzen der Glaubens, Grenzen der Kirche überschritten.

Drittens: Speziell die Heilungen Jesu am Sabbat, dem Tag an dem Gott selbst ruht, zeigt eine schöpferische Unruhe Gottes an, die in die Richtung der Neuschöpfung drängt. Gott ruht nicht, sondern heilt. Er schafft neu, wenngleich im Horizont der endlichen Welt.

Schon für die Hoffnung der ersten Christen war wesentlich, dass nach dem Ostermorgen das Grab leer war. Der Christus, der auch den „Tod der Natur“ (Jürgen Moltmann) starb, wurde auferweckt. Das leere Grab zeigt an, dass die Leiblichkeit der Existenz nicht abgestreift wurde, sondern ganz in das Auferstehungs- und Verwandlungsgeschehen hineingenommen wurde. Der Schlüssel zur theologischen Verarbeitung der destruktiven Seiten des Lebens ist darum das Verhältnis zwischen Kreuz und Auferstehung. Die Auferweckung des Gekreuzigten ist auch Gottes Protest gegen Prozesse der Viktimisierung und der Abwesenheit von Gerechtigkeit. Es ist ein Nein Gottes gegen alle lebenszerstörende Gewalt in der Schöpfung. Es ist ein Ja Gottes für dieses jesuanische Leben der vielgestaltigen Zuwendung zu den untragbaren Risiken der Schöpfung.

Kirche

In ihrem Reden und Handeln nimmt die Kirche beide Dimensionen des jesuanischen Reden und Handelns auf: Die Sorge um Heilung wie auch die Sorge um die Reich-Gottes-Verkündigung. Mit beidem nimmt die Kirche an der Sendung Jesu teil. Nicht umsonst haben die christlichen Gemeinden stets auch Spitäler gebaut. In der Gegenwart ist die Kirche in dieser Sorge um das reale Wohl von Menschen gleich in zweifacher Weise mit einer problemschaffenden Lösung konfrontiert. Das Zeugnis der Nächstenliebe ist weitestgehend an die professionelle und vielfach unternehmensorientierte Diakonie delegiert. Dieses Zeugnis der staatlich geförderten Unternehmensdiakonie findet darüber hinaus in einem entwickelten fürsorglichen Sozialstaat statt. Die Coronakrise könnte an diesem Punkt ähnlich wie die Flüchtlingskrise im Jahr 2015 aber auch Möglichkeiten einer gemeindenahen Diakonie eröffnen – wäre da nicht das Problem der sozialen Distanzierung. Dennoch werden die Anforderungen der nachbarschaftlichen Unterstützung im Quartier so steigen, dass sich trotz der Distanzierungsnotwendigkeit kreativ notwendige und ausstrahlungsstarke Initiativen entwickeln werden.

Es sind solche Krisenzeiten, die eindrücklich sichtbar machen, in welch großen Koalitionen und Bündnissen die Kirchen  an den Nachtseiten des Lebens arbeiten. Die Organisationen und die Menschen in diesen Koalitionen reparieren die Welten jeden Tag! Sie bedürfen der Wahrnehmung und ausgesprochenen Würdigung, auch auf der ganz lokalen Ebene und speziell in den kommenden Krisenwochen.

Eine ganz besondere ethische Herausforderung für die Kirche wird sein, in Zeiten einer Wiederentdeckung des Nationalstaates als Verantwortungsraum auf die grenzüberschreitende Zuwendung Gottes zu verweisen. Dies kann nur beispielgebend geschehen, nicht als moralische Forderung.

In diese Bündnissen und Partnerschaften der Kirche darf allerdings nicht untergehen, dass die Kirche in dieser Krise etwas beizutragen hat, das nur sie selbst einspielen kann: Mit Gott reden, mit Gott verhandeln. Aufgabe der Kirche in der Coronakrise ist es, einen Raum für die Polyphonie des Glaubens zu erhalten und anzubieten. In der Polyphonie des Glaubens wird die Kirche ein Raum, in dem in der Gestalt der ehrlichen und wütenden Klage, der Gestalt der erschöpften Bitte, auch in der Gestalt des mutigen Dankes und nicht zuletzt in der Gestalt des verwegenen Lobes geglaubt wird.

Das heißt konkret, dass die Kirchen Gott um seinen Geist des Trostes für alle Kranken bittet. Sie bittet um Gottes Geist der Kraft für alle, die für andere sorgen. Und nicht zuletzt bittet sie Gott um seinen Geist der Barmherzigkeit für alle Gesunden. Als Glaubende klagen Christen aber auch Gott die Not, die diese Pandemie in so viele Menschenleben bringt. Sie klagen Gott, dass das Chaos in Gestalt solcher Dunkelheiten diesen Raum nimmt. Die Gemeinden haben die Freiheit Gott zu danken für alle Menschen, in denen in diesen Tagen die Segenskräfte der Fürsorge, Solidarität und der Liebe wirken. Und es finden sich hoffentlich auch Menschen, die in dieser Krise im Lob Gottes wirklich verwegen eine Radikalität des Angewiesenseins auf Gottes rettende Lebendigkeit leben und formulieren können. In allen Vollzügen der Polyphonie des Glaubens handeln Christen auch stellvertretende für all die Menschen, die im Krankheitsleiden die Zerstörung des Lebens erleiden, aber die Sprachen des Glaubens nicht mehr finden.

All dies heißt nicht, dass es nicht auch die Möglichkeit geben kann, dass die Kirche mutig und ehrlich schweigt. So richtig dies ist, so sehr bietet eine Krise wie diese weltweite Pandemie aber auch eine erstaunlich produktive Provokation: Es ist die irritierende und tröstliche Einsicht, dass die Kirche stets mehr bezeugt, als sie selbst leben kann. Die kirchliche Rede von der Gegenwart Gottes in Christus und im Geist kann in einer solchen Krise nur verwegen, ja vielleicht richtig trotzig sein. Die Kirche bezeugt – dies selbst eingestehend – „Unglaubliches“ und gegenwärtig „Unglaubwürdiges“, nämlich Gottes Güte. Dies ist eine Gratwanderung und natürlich bei Licht betrachtet eine paradoxe Form, analog der Jahreslosung: „Herr ich glaube, hilf meinem Unglauben“. Aber dies ist eben die Pointe des reformatorischen Kirchenverständnisses. Und es ist die Pointe der theologischen Behauptung, dass sich Gott nur selbst erschließen, beglaubigen und vergegenwärtigen kann. Das heißt, dass die Kirche als Zeugin ein Wort sagt, an dem sie selbst auch zweifelt.

Deshalb bittet die Kirche um den Geist, genau dann, wenn sie predigt und wenn sie die Öffentlichkeit anspricht. Die Kirche hat dann die Chuzpe, Dinge zu sagen, die sie selbst kaum glauben kann. Dies ist, wie gesagt,  eine notwendige Gratwanderung zwischen einer unglaubwürdigen „pausbäckigen Gewissheit“, die nichts anderes ist als eine äußerst beredte Sprachlosigkeit einerseits und dann andererseits einem Fatalismus, der nur religiös frisiert ist. Diese hoffnungsvolle Ehrlichkeit wirkt befreiend, sowohl auf die vielen unruhig in der Kirche fragenden Menschen wie auch auf die außerhalb der Kirche skeptisch fragenden Menschen.

Gottes Geist

Mit der Rede vom Geist Gottes spricht Theologie und Kirche von Gegenwarten und einer besonderen Nähe Gottes. Die Coronakrise deckt an dieser Stelle ein verführerisches, aber letztlich irreführendes Missverständnis auf. Gottes Geist belebt und bewahrt. Darum sind Menschen, wie die zweite Schöpfungserzählung festhält, nicht nur Staub, sondern Staub, der atmet. Gottes Leben weckender Geist ist aber nicht einfach der Geist des Lebens.

„Dem Leben trauen“, lange Jahre Motto des theologischen Verlagsprogramms des Gütersloher Verlagshauses, zeigt einen gravierenden theologischen Irrtum beziehungsweise Fehler an. Gottes Geist ist mit-leidend und mit-seufzend (Römer 8) in dieser Schöpfung gegenwärtig, ohne aber die lebenszerstörerischen Kräfte zu bestätigen oder mit ihnen verfilzt zu sein. Wer den Geist Gottes und die Kräfte des Lebens gleichsetzt, endet zwangsläufig in einer Anbetung des starken, durchsetzungsreichen Lebens.

Der Geist Gottes ruft den gekreuzigten und begrabenen Christus aus dem Tod – und bleibt dennoch ein Geist, der sich nicht einfach im starken Leben manifestiert. Es bleibt der Geist der Barmherzigkeit und des Trostes. Es ist nicht der Geist des vergehenden und sich stets erneuernden Lebens. Darum sind die blühende Magnolie dieser Tage und der von Jeremia erwähnte Mandelzweig (Jeremia 1,11f) nur Zeichen und nicht die Sache selbst.

Gottes mitleidende Gegenwart im Geist ist immer eine verwandelnde, eine widerstehende Gegenwart. In der Rede vom Geist geht es darum immer um die heilende, tröstende, erneuernde und letztlich verwandelnde intime Gegenwart Gottes inmitten von Krankheit, Elend und Leiden. Die Gegenwart des Geistes bringt nicht nur Freude und Erfüllung. Der Geist intensiviert die Wahrnehmung des Seufzens der Schöpfung in Krankheit und Not und führt die Christen zu einem eigenen Seufzen. Zugleich ist der Geist ein Geist des Trostes für all diejenigen, die in der Arbeit an der durch Krankheit seufzenden Schöpfung erschöpft sind – in ihrer Motivation wie auch spirituell. Blickt man zurück auf die Verbindung von Messias, dem Geist und der Praxis der Barmherzigkeit, so ist der Christusgeist auch in der Coronakrise einer, der, wie oben schon erwähnt, „das geknickte Rohr nicht zerbricht und den glimmenden Docht nicht auslöscht“. (Jes 42,3).

In der Coronakrise können die Gemeinden eine Entwicklungs- und Entdeckergemeinschaft des Geistes werden. Begabungen, Bereitschaften zum Engagement und zu risikobereiter Liebe können entdeckt werden. Radikal risikobereite Liebe wird immer etwas töricht erscheinen. Aber es können Zeiten kommen, in denen genau dies das Leben in Christus auszeichnet. Dann sprengen Christen das Korsett der Goldenen Regel und tun Dinge, die andere Menschen von ihnen gerade nicht erwarten.

Auf der anderen Seite nimmt sich der Geist Jesu Christi in solchen Zeiten der Krise auch die Freiheit, die Grenzen der Kirche großräumig zu überschreiten. Wenn in der Zuwendung zu verletzlichem und gefährdetem Leben Kräfte der Solidarität und Unterstützung wirksam sind und wenn leidenschaftliche und professionell kühle Hilfe gegenwärtig sind, dann wirkt der bewahrende und fürsorgende Geist Gottes. Kirche und Theologie sollten sich hüten, all diese Menschen zu anonymen Christen oder verborgen religiösen Subjekten zu machen. Stattdessen sollte die Kirche ihnen einfach danken. Und sie kann diesen Menschen auch sagen, dass für Christen in der fürsorglichen Zuwendung zu zerbrechlichem Leben eben der Geist Gottes wirkt. Eine nicht geistlose, sondern geistreiche Kirche wird Formen der Wertschätzung und Würdigung für die Menschen finden, die in dem Sturm dieser Epidemie im Zentrum tätig sind.

Christliche Hoffnung

Die christliche Hoffnung angesichts der Coronakrise zu durchdenken ist eine ausgesprochen heikle Angelegenheit. Zu naheliegend ist der Vorwurf der Vertröstung oder des spirituellen Zynismus. Verrät nicht die Rede von der Hoffnung die radikale Diesseitigkeit, die von der Kirche gerade jetzt gefordert ist?

Ich denke, dass Theologie und Kirche just in dieser in ihren Folgen noch lange nicht absehbaren Krise die Nerven bewahren darf und muss. Vor den berechtigten religionskritischen Verdachtsmomenten sollten sie nicht kapitulieren. Den religionskritischen Geistern ist mutig und selbstbewusst ins Auge zu schauen.

Verschweigt die Kirche die christliche Hoffnung, so verliert sie einen Raum der Rebellion. Die sogenannte Eschatologie artikuliert das christliche Bekenntnis zu Gottes ultimativer und unüberbietbarer Zuwendung zu seiner Schöpfung – und damit zur letzten Überwindung von Schmerz, Leid und Tod durch Krankheit. Die Auferweckung des Gekreuzigten ist ja zuerst Gottes Protest gegen die Mächte der Lebenszerstörung, die zu den manifesten Risiken der Schöpfung gehören. Wenn Gott „alle Tränen abwischen“ wird, dann wird er damit die abgründige Räuberei von Lebensmöglichkeiten durch die Sünder anerkennen. Aber doch zugleich auch diejenigen Räubereien, die durch lebenszerstörerische Prozesse jenseits menschlicher Einflussnahme, das heißt im Rahmen von Krankheit, das Leben entstellen. Die sogenannte Eschatologie ist daher der Imaginationsraum in dem Christen festhalten: Es ist Gott selbst, der am Ende die letzte Weltverantwortung übernimmt. Gott selbst lässt die stummen und die lauten Klageschreie nicht unbeantwortet. Dies fordern Christen aufgrund ihrer Hoffnung stellvertretend für andere von Gott.

Wenn die Macht der Menschen endet, Leben zu halten und zu bewahren, dann endet noch nicht Gottes Macht. Auch in Sachen Hoffnung hofft die Kirche „rückwärts“, denn die christliche Hoffnung hofft gegen den Zeitstrahl: Es ist eine trotzige Hoffnung darauf, dass Gott sich auch angesichts der Coronakrise den ungezählten und für uns oft namenlos bleibenden Opfern nochmals schöpferisch zuwendet. Der Grund für diese trotzige Hoffnung liegt in dem Versprechen, das sich in der Auferweckung des Gekreuzigten ereignet hat.

Die Auferstehung Jesu Christi dokumentiert Gottes Willen, sich das letzte Wort nicht nehmen zu lassen. Vor diesem Hintergrund ist der Ort der Hoffnung ein Ort der Lebensgabe Gottes. Er ist nicht Gottes zerstörende, sondern zurechtbringende Antwort auf diese Leben. Aber ich bin mir auch sicher, dass dies ein Ort ist, an dem Gott befragt wird und sich rechtfertigen muss. Warum dieses Leid? War der Preis der evolutionären Freiheit nicht zu hoch? Warum die abgründige Geduld? Wie oft hätte ein mächtig einschreitender Kriegergott mehr unseren Erwartungen entsprochen? Darum leiden Christen speziell als Hoffende auch an Gottes Geduld.

Protestantische Ethik

Die Coronakrise entlarvt die vielen David Copperfields der evangelischen Ethik als das was sie sind: Illusionisten für gute Zeiten. Und sie wird zunehmend auch die religiösen Chauvinisten demaskieren. Die Krise deckt einen schwer lösbaren Grundkonflikt des 21. Jahrhunderts auf.

Gegenläufig zu den Träumen der politischen, kulturellen und religiösen Kosmopoliten macht die Krise leider unbarmherzig klar: Solidargemeinschaften sind begrenzte Gemeinschaften. Wollte man die Gegenwart mit einem ethischen Fachbegriff belegen, so müßte man von einer Wiederauferstehung naturrechtlicher Einsichten sprechen. Dies ist zunächst nur eine Beobachtung, keine Würdigung. Enkel sorgen im Raum der Familie für die Großeltern. Die Nachbarschaft oder die Straße wird zu einem Ort gelebter Solidarität. Das Quartier, das nichts anderes ist als das Dorf in der Stadt, wird zum Fürsorgeraum. Die Stadt, die Polis organisiert die Krankenversorgung. Die imaginierte und modernisierte Brauchtumsgemeinschaft („Wir in Bayern“) ordnet für sich die Dinge. Zentren des Multikulturalismus sind langsamer. Der Nationalstaat schließt die Grenzen und verbietet den Export von Masken und Schutzanzügen.

In dem Moment, wo Humanität nicht nur moralisch gefordert wird, sondern organisiert werden muß, geschieht dies soziologisch zwingend in begrenzten Organisationseinheiten. Reale Verantwortung, die praktiziert wird und die auch erwartet werden kann, geschieht notwendig in begrenzten Verantwortungsräumen. Organisationen schließen immer ein und aus. Deren Grenzen sind nicht starr, sondern vielfach beweglich und verhandlungsoffen. Aber an diesen Grenzen enden Entscheidungen und Zuständigkeiten. Nicht selten sind die verschiedenen Verantwortungsräume in einander verschachtelt, so dass sich Verantwortungen und Entscheidungskompetenzen überlagern und neu herausbilden können. Hinzu kommt, dass sich jeder Mensch zumeist in mehreren Verantwortungsräumen zugleich bewegt.

In der kollektiven, ja globalen Notsituation geschieht nun etwas mehr oder weniger Überraschendes: a) Effiziente Organisation, b) reale Verantwortungsübernahme in begrenzten Verantwortungsräumen und c) natürliche Gemeinschaften ziehen sich gegenwärtig magnetisch an.

Die partikularen Verantwortungsräume müssen keine natürlichen Gemeinschaften sein, aber die Anziehungskräfte sind schon bemerkenswert. Dies ist – theologisch ethisch betrachtet – zugleich Lösung und Problem.

Ernüchternd und auch für viele bitter ist die Einsicht: Sehr große Verantwortungsräume sind nur dann unter Zeitdruck effizient, wenn sie nicht partizipatorisch, sondern wie Diktaturen organisiert sind. 1,5 Milliarden Menschen lassen sich nicht via Stuhlkreis organisieren. Die EU versucht auf ihre Weise vergeblich ein Gegenbeispiel zu sein. Wer die Kraft der Selbstorganisation nutzen möchte und muß, kann die Organisationseinheiten nicht zu groß werden lassen. Die Frage ist, wie sich  Cluster der Selbstorganisation hinreichend koordinieren lassen. Ethisch heißt dies, dass es pointiert unbegrenzte Verantwortung, gar Weltverantwortung nicht gibt. Das ist die desillusionierende Kraft der Coronakrise. Ja, es gibt kein wirklich verantwortliches Handeln, das in seiner Begrenzung nicht in einer Triage-Konstellation steht und hierin schuldig wird.

Die moralische Klarheit und Helle weicht zwangsläufig den schwierigen Grautönen: Ist die Entscheidung der Bundesregierung, den Export von Schutzmasken und Schutzanzügen zu verbieten ein verantwortlicher Akt der Fürsorge für die deutsche Nation oder angesichts der Not anderer Länder ein Akt des nationalstaatlichen Chauvinismus? Was wäre die Alternative? Grenzenlose Empathie drückt sich notorisch vor der Triage-Situation der Entscheidung, eben vor der Grenze.

In der Coronakrise läuft auch das von der EKD so gerne zur Versöhnung von Evangelium und Politik hoch gepriesene Schiff der Goldenen Regel auf das scharfkantige Riff der Entscheidung: Wer ist der andere, den ich so behandeln soll, wie ich von ihm behandelt werden möchte? Wer hier alle sagt, drückt sich vor der notwendigen Entscheidung. Umgekehrt formuliert: Wieviel Selbstbehauptung und Selbstdurchsetzung natürlicher Gemeinschaften ist wichtig und richtig – auch für eine Kirche, die selbstlose Liebe predigt und eine Theologie, die Liebe als freie Selbstzurücknahme zugunsten anderer begreifen möchte? Welcher anderer? Wer soll die bisher nicht exportierten Schutzmasken nun bekommen? Das Problem notwendig ausgrenzender Solidarität und unausweichlich begrenzter Liebe ist nicht neu. Schon in der Flüchtlingskrise haben sich beide Kirchen vor diesen Einsichten mit viel Pathos weggeduckt. Die Coronakrise rückt dieses Problem allerdings in den Vordergrund und beleuchtet es grell.

Theologisch gilt es, die Macht der Solidaritätsgemeinschaften anzuerkennen – wenngleich nicht unkritisch. Gegen sie theologisch nur zu polemisieren und dann doch in Anspruch zu nehmen ist ein leicht durchschaubarer Selbstbetrug. Sie sind aber nicht zu idealisieren oder gar religiös zu überhöhen. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes komplexe Notlösungen.

Sie adressieren eine Not und bieten in ihren Grenzen Lösungen. Aber sie sind keine Ideallösung. Und ihre Lösung ist zugleich Anzeige einer Not. Diese innere Spannung ist in der Krise anzuerkennen und zu leben. Das heißt aber in der Coronakrise auch, dass die Kirche praktisch sehr deutliche und extravagante Zeichen einer grenzüberschreitenden Fürsorge setzen muß. Angesichts der in Staaten ohne effektives Gesundheitssystem aufziehenden Coronakrise ist mehr als ein Rettungsboot notwendig. Die afrikanischen Staaten benötigen zehntausende Beatmunggeräte. Die Kirche ist unausweichlich Teil von gewachsenen Solidaritätsgemeinschaften und nimmt doch zugleich an Gottes grenzüberschreitender Fürsorge teil. Wie das Exportverbot für Schutzausrüstung deutlich macht, gibt es in den nächsten Wochen und Monaten keine moralisch lupenreinen Entscheidungen. Wenn es in Zeiten der Coronakrise zu einer organisatorisch notwendigen Revitalisierung des Nationalstaates kommt, ist insbesondere die Kirche herausgefordert, ohne Anklage der Politik selbst die weltweite Ökumene zu leben. Ohne Zweifel strahlt diese dann in die Politik aus. In der gelebten Solidarität mit dieser Welt und ihren stets ambivalenten Gemeinschaften lebt dann die Kirche mit grenzüberschreitender Liebe machtvolle Zeichen, sichtbare und effektive Gleichnisse einer kommenden Welt. Die Ethik ist immer der Lackmustest für die Gestalt der christlichen Hoffnung.

Theologie und Kirche werden in der sich noch weiter verschärfenden Krise gut beraten sein, nicht gegen ausgrenzende Solidaritätsgemeinschaften moralisch anzunörgeln. Jetzt die moralische Agentur zu spielen und als Verstärker appellativer Moral zu dienen, wäre geradezu ein selbstmörderisches Unterfangen. Gefragt ist theologische und ethische Ehrlichkeit. Die Nerven liegen ohnehin blank. Die Verantwortungsträger brauchen keine Rat-Schläge. Das Evangelium ist für die Verantwortungsträger auch eine Einladung, Fehler zu riskieren.

Die Kirche darf in allen Kooperationen nicht vergessen zu sagen, was nur sie sagen kann. Ethisch wird es darauf ankommen, auf allen Ebenen der Organisation Kirche den unausweichlichen Konflikt zwischen ausgrenzender Solidarität und grenzüberschreitender Humanität oder gar Liebe im Auge zu behalten, bewußt und lebendig, ohne Empörung und ohne sich wegzuducken.

Eine letzte selbstkritische Notiz ist noch notwendig. Die Kirchen sangen in den letzten Jahren laut im Chor der Biotechnologiekritiker mit. Fakt ist, dass eine Impfung gegen COVID-19C aus irgendeiner Biotechnologieschmiede kommen wird.  Was ist riskanter? Die biotechnologische Entwicklung oder mutierende Viren? Vielleicht hat neben der einen oder anderen Partei auch die Kirche an diesem Punkt in ihrer Ethik zu wenig die Nacht- und Schattenseiten der naturalen Schöpfung sehen wollen. In der Hängematte eines hoch entwickelten Gesundheits- und funktionierenden Sozialsystems liegend lassen sich gut romantische Vorstellungen von Natur pflegen. Ein letztes Wort muß hier und heute nicht zu sprechen sein. Aber auch an diesem Punkt stellt die Coronakrise der Kirche und der Theologie unangenehme Fragen, die auf eine Antwort warten.

Als Christen glauben wir an einen Schöpfer, der diese Welt gut, aber nicht perfekt geschaffen hat. Diese gute Schöpfung entfaltet sich auch abgründig frei, aber Gott begleitet sie. Auf Gottes Seite arbeiten Christen gemeinsam mit vielen Menschen an der Begrenzung des Chaos und der Dunkelheiten, die diese Schöpfung und so auch unser Leben enthalten. Auch ohne Gottesdienste feiern wir am kommenden Osterfest eine neue Welt Gottes ohne Schmerzensschreie, ohne Leid und ohne Tod. Verwegen und trotzig hofft die Kirche auf eine neue Welt Gottes, in der die Nächte der Krankheit nicht mehr sein werden. Aber wir werden nicht nur als einzelne Christen, sondern auch als Kirche stets zurückgeworfen auf den Text der Jahreslosung für 2020. Angesichts der Not von Krankheit, Leid und Tod rufen wir Menschen: „Herr ich glaube. Hilf meinem Unglauben!“ Als Kirche leben wir die Polyphonie des Glaubens. Wie leben in diesen herausfordernden Wochen letzten Endes von dem Versprechen Gottes, dass er auch in Zeiten der Not dieser Welt zugewandt bleibt und in seinem Geist mitten unter uns ist.

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