In einer Woche besetzt die Synode meiner Landeskirche EKHN ihre Spitzenposition. Zwei Frauen und ein Mann haben sich bereitgefunden, für das Amt des/der Kirchenpräsident*in zu kandidieren. Immerhin! Denn so begehrt wie noch vor zehn Jahren ist dieser Job längst nicht mehr. Westfalen hatte im ersten Anlauf nur einen Kandidaten gefunden. Nach den „Causae“ Annette Kurschus und Michael Krause sowie den lauten Rücktrittsforderungen an Bischof Ralf Meister kann festgehalten werden: Mit dem Amt ist die Gefahr verbunden, schneller als man denken kann, Reputation und Ruf zu verlieren und das Amt gleich mit dazu.
Das Fatale an der Situation: Wir brauchen in dieser multiplen Krisen-Lage der Kirche höchst kompetente Menschen, die fähig sind, sich der größten Krise der evangelischen Kirche seit dem Nationalsozialismus zu stellen. Zugleich wird es den Amtsinhabern und Kandidat*innen alles andere als leicht gemacht. Dass unter den Letzteren für das Amt der Kirchenpräsidentin der EKHN eine in der Schweiz lehrende Universitätsprofessorin ist, die im beschaulichen Zürich sicher eine ruhigere und auch besser dotierte Kugel schieben könnte als an der Spitze einer evangelischen Landeskirche, ist hoch anzurechnen.
Hermeneutik des Verdachts
Elisabeth Schüssler Fiorenza hat den Begriff der „Hermeneutik des Verdachts“ in die theologische Debatte eingeführt. Es ist ein provozierender Begriff, denn er unterstellt allen biblischen Texten und ihren Interpretationen, patriarchal zu sein. Es geht Schüssler Fiorenza darum, befreiend zu wirken und unterdrückende soziopolitische Verhältnisse zu verändern. Schüssler Fiorenza hinterfragt implizite Machtstrukturen, vor allem aus der Perspektive der Schwächsten der Gesellschaft. Im Gegensatz zur Hermeneutik des Verdachts scheint mir jetzt eher eine „Hermeneutik der Verdächtigung“ um sich zu greifen, der es nicht um Befreiung geht, schon gar nicht um theologische Reflexion der Ambivalenz von Macht, sondern um Vernebelung und Intransparenz. Dies geschieht sicher nicht im Kampf für die Interessen der Schwächsten – und die Opfer sexualisierter Gewalt zähle ich dazu.
Die Kandidat*innen für die höchsten Ämter in unseren Landeskirchen löffeln eine Suppe aus, die sie sich nicht eingebrockt haben, die jedoch schon länger schal, wenn nicht gar giftig schmeckt und – seit Jahrzehnten! - darauf wartet, fachgerecht entsorgt zu werden. Die Suppe heißt Intransparenz bei leitenden Personen, Gremien und Verwaltungen unserer Landeskirchen und der EKD. Diese bräsigen intransparenten Strukturen haben – das hat die ForuM-Studie in erschreckender Klarheit gezeigt – sexualisierte Gewalt ermöglicht, Aufklärung erschwert und sogar verhindert.
Suppenreste im Topf
Bis heute ist es skandalöserweise nicht gelungen, ein einheitliches Entschädigungskonzept durchzusetzen. Der Umgang mit sexualisierter Gewalt ist jedoch nicht die einzige problematische Folge der Intransparenz. Intransparenz verhindert Innovation, verlangsamt Klärungsprozesse, erschwert eine konstruktive Arbeitsatmosphäre, unterläuft demokratische Beteiligung und ist (das ist vielleicht das Schlimmste daran) zäh wie angetrocknete Suppenreste im Kochtopf. Dass eine Kandidatin für das höchste Amt der EKHN eine Pröpstin ist, die als Regionalbischöfin sehr wohl die verschiedenen Suppentöpfe kennt und weiß, worauf sie sich einlässt, verdient größten Respekt.
Intransparenz ist so hartnäckig, weil sie Machtstrukturen erhält und zugleich verschleiert. Sie hilft einigen Akteuren, weiter ihr eigenes Süppchen zu kochen. Deshalb ist es mit einem rein organisationslogischen Blick auf die Misere nicht getan. In meiner Seelsorgeausbildung am Theologischen Seminar ist die theologische Auseinandersetzung mit dem Thema Macht basaler Bestandteil. Keine noch so kompetente Unternehmensberatung ersetzt in der Kirche die fundierte theologische Analyse und Reflexion. Leitung braucht Macht, um im Sinne der Kommunikation des Evangeliums zu gestalten. Zugleich gibt es eine sehr berechtigte protestantische Kritik an Hierarchie und verschleierten Machtverhältnissen. Diese Spannung gilt es theologisch auszuloten.
Theologisches Thema
Macht ist ein zentrales theologisches Thema. Wenig verwunderlich, dass in der Versuchungsgeschichte Jesus mit der Versuchung der Macht konfrontiert wird: „Das alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest.“ Die Antwort Jesu lautet: „Du sollst anbeten den Herrn, deinen Gott, und ihm allein dienen.“ Ich meine, dass in dieser Antwort der Schlüssel zu einem verantwortungsvollen Leitungsdienst in unseren Kirchen zu finden ist.
Wie wäre es, die Strukturen und Ämter der Kirche auf allen Ebenen daraufhin zu befragen, inwiefern wir einer theologischen Perspektive auf Macht gerecht werden – und wie unser Denken und Handeln dann aussehen würde? Leider scheuen viele Verantwortliche davor zurück, sich offen mit ihrer Macht auseinanderzusetzen. Das Wort „Dienst“ klingt ja auch viel netter und frommer.
Jesus war mit dem Teufel in der Wüste sehr allein. Wer sich mit der Intransparenz und verschleierter Macht anlegt, kann und wird sich oft sehr einsam fühlen. Ich wünsche den Menschen, die sich trotz aller Risiken jetzt beworben haben und künftig bewerben werden, vor allem den Mut, ihr Handeln unerschrocken theologisch zu reflektieren. Was sie trösten mag: Sie sind nicht allein! Da sind viele, die sich nach einer Kirche in Klarheit und Wahrhaftigkeit sehnen. Die befreiende Macht des dreieinigen Gottes ist mit ihnen.
Angela Rinn
Angela Rinn ist Pfarrerin und seit 2019 Professorin für Seelsorge am Theologischen Seminar der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau in Herborn. Sie gehört der Synode der EKD an.