Ökumenischer Krimi
Am 31. Oktober, dem Reformationstag, wird die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre (GER) 25 Jahre alt. Tilman Jeremias, Bischof der Nordkirche im Sprengel Mecklenburg und Vorpommern, erinnert an ihre dramatische Entstehung und die große ökumenische Bedeutung des Dokuments bis heute.
Die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre ist ein Meilenstein der lutherisch-katholischen Ökumene. Sie markiert einen durchaus kirchenhistorischen Moment, denn erstmals seit der Reformation wurde ein evangelisch-katholisches Konsensdokument mit der beiderseits höchstmöglichen offiziellen Autorität in Geltung gesetzt. Zudem gab es evangelischerseits erfreuliche Erweiterungen bei den Unterzeichnenden: Zum Lutherischen Weltbund (LWB) als Erstunterzeichner kamen 2006 der Weltrat Methodistischer Kirchen, 2016 die Anglikanische Gemeinschaft und zuletzt 2017 die Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen als Zustimmende dazu. Dennoch wird dieses Jubiläum wenig beachtet und ohne größere Feierlichkeiten über die Bühne gehen – nicht ohne Grund. Gleichwohl lohnt es sich, in der evangelisch-katholischen Ökumene ausdauernd weiterzugehen, geistlich, theologisch und praktisch.
Die Umstände der Entstehung der Erklärung bis kurz vor ihrer feierlichen Unterzeichnung stellen einen wahren theologischen und kirchenhistorischen Krimi dar. Entscheidende Vorarbeit zur GER kam aus Deutschland mit dem 1986 veröffentlichten Papier „Lehrverurteilungen–kirchentrennend?“ des Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen. Die Studie kommt in entscheidenden Themenbereichen der Ökumene, eben auch der Rechtfertigungslehre, zum Schluss, dass die Verwerfungen der Reformationszeit den heutigen Partner nicht mehr treffen.
1993 bat der Lutherische Weltbund den damaligen Päpstlichen Rat zur Förderung der Einheit der Christen, einen gemeinsamen Text zur Rechtfertigungslehre zu erarbeiten. Nach diversen internen Rezeptionsprozessen entstand im Februar 1997 ein endgültiger Vorschlag für eine Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre. Auf der Vollversammlung des Lutherischen Weltbunds im Juli 1997 in Hongkong wurde die GER als bedeutender Schritt der Ökumene gefeiert, und die Mitgliedskirchen wurden aufgefordert, ihre Zustimmung zu erteilen.
Zentral war das Anliegen, die für die lutherische Seite fundamentale Lehre von der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade im Glauben an Christus im ökumenischen Geist so auszusagen, dass beide Seiten sich wiederfanden und zugleich die Lehre der Schwesterkirche achtungsvoll zur Kenntnis nahmen. Dazu half die Hermeneutik des differenzierten Konsenses. Zunächst werden in der GER die grundlegenden Gemeinsamkeiten in der Rechtfertigungslehre und ihren Unterthemen formuliert. Auf Basis dieses als gemeinsam Erkannten werden dann die Differenzen benannt, die jedoch auf dem Hintergrund des als gemeinsam Ausgedrückten nicht mehr als kirchentrennend bewertet werden können.
Die GER kann in Nr. 15 den Fundamentalsatz als gemeinsames Verständnis formulieren: „Allein aus Gnade im Glauben an die Heilstat Christi, nicht auf Grund unseres Verdienstes, werden wir von Gott angenommen und empfangen den Heiligen Geist, der unsere Herzen erneuert und uns befähigt und aufruft zu guten Werken.“ Hauptanlass zur bald einsetzenden heftigen theologischen Auseinandersetzung ist die Formulierung in Nr. 18, die Rechtfertigungslehre sei „ein unverzichtbares Kriterium, das die gesamte Lehre und Praxis der Kirche unablässig auf Christus hin orientieren will“. Mit diesem Satz soll dem katholischen Anliegen einer Einbindung der Rechtfertigungslehre in den Kanon der weiteren Glaubenswahrheiten Rechnung getragen werden. Ist mit diesem Satz aber auch dem lutherischen Herzensanliegen entsprochen, die Rechtfertigungslehre als den Artikel auszusagen, mit dem die Kirche steht und fällt? Schließlich konstatiert die GER, dass die Lehrverurteilungen des 16. Jahrhunderts in Bezug auf die Rechtfertigungslehre den heutigen Partner nicht mehr treffen (Nr. 41).
FAZ immer dagegen
Auf die Veröffentlichung der GER entspann sich nun parallel zum Prozess des Einholens der Voten der einzelnen Mitgliedskirchen des LWB besonders im evangelischen Deutschland eine breite kontroverse Debatte. Sie umfasste zahlreiche universitäre Stimmen aus der Theologie, bezog aber bald auch ein breiteres Publikum mit ein, vor allem weil Heike Schmoll für die Frankfurter Allgemeine Zeitung regelmäßig kritisch zur GER Stellung nahm und damit eine erstaunlich intensive, Monate lang währende Leserbriefdiskussion auslöste.
Für die massive theologische Kritik kam das Startsignal von keinem Geringeren als dem Tübinger Professor Eberhard Jüngel. Im September 1997 erschien sein Aufsatz mit dem programmatischen Titel „Um Gottes willen – Klarheit! Kritische Bemerkungen zur Verharmlosung der kriteriologischen Funktion des Rechtfertigungsartikels“ in der Zeitschrift für Theologie und Kirche. In diesem Artikel wehrte Jüngel sich gegen die Formulierung der GER, die Rechtfertigungslehre sei ein unverzichtbares Kriterium der christlichen Glaubenslehre, nicht aber – wie lutherisch zu fordern sei – das Kriterium.
Da die Gespräche um die Rezeption der GER in den einzelnen Landeskirchen fortschritten, entstand für die kritische Seite ein enormer Zeitdruck. Deswegen wurde an den Theologischen Fakultäten Deutschlands in kürzester Zeit eine bis dahin beispiellose Kampagne in Gang gesetzt: Bis Ende Januar 1998 unterschrieben 141 deutsche evangelisch-theologische Hochschullehrerinnen und -lehrer ein „Votum der Hochschullehrer zur ‚Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre‘“. In diesem kurzen Text erklären die Unterzeichnenden „im Wahrnehmen ihrer Verantwortung für Theologie und Kirche“ ihre Ablehnung der Erklärung. Sie konstatieren, dass die GER die grundlegende Funktion des Rechtfertigungsartikels als das theologische Kriterium unterminiere und zurückzuweisen sei, da sie keinerlei praktische Folgen haben würde.
Die Vehemenz des Urteils dieser beträchtlichen Zahl von Hochschullehrerinnen und -lehrern legte für viele nahe, die Gemeinsame Erklärung nun für obsolet zu halten. Doch der „Jahrhundertstreit“ (Robert Leicht) der protestantischen Theologie fand nun erst recht eine muntere Fortsetzung: Ökumenisch engagierte Theologen wie Harding Meyer, Ulrich Kühn oder Horst Georg Pöhlmann widersprachen den akademischen Kolleginnen und Kollegen deutlich. Mit der Bayrischen Landeskirche ging im Dezember 1997 nun ein erstes, der GER klar zustimmendes Votum einer großen lutherischen Kirche beim Deutschen Nationalkomitee des LWB ein.
Am 16. Juni 1998 fasste der Rat des LWB einen Beschluss zur GER, in dem es im Wesentlichen um die bis dahin eingegangenen Voten aus den Mitgliedskirchen ging. Trotz einzelner „Nein“-Stimmen und kritischer Anmerkungen kommt der Rat zum Schluss, dass er in Übereinstimmung mit den Mitgliedskirchen den Ergebnissen der GER eine Zustimmung erteilen kann. Ein magnus consensus war erreicht.
Herbe Enttäuschung
Den nächsten Rückschlag bedeutete die offizielle vatikanische „Antwort der Katholischen Kirche auf die GER“ vom 25. Juni 1998. In dieser Note spricht Rom zwar von einem „bemerkenswerten Fortschritt im gegenseitigen Verständnis und in der Annäherung der Dialogpartner“, der einen hohen Grad an Übereinstimmung markiere. Allerdings seien weiter Divergenzen in der Lehre zu konstatieren, insbesondere im Abschnitt über das Sündersein des Gerechten (Nr. 28–30 der GER); die zentrale lutherische Formel simul iustus et peccator sei „für Katholiken nicht hinnehmbar“ und damit gebe es auch Schwierigkeiten festzustellen, dass die in der aktuellen Fassung vorgelegte Lehre nicht vom Anathema des Trienter Konzils betroffen sei.
Für alle, die auf eine baldige Unterzeichnung der GER gehofft hatten, bedeutete diese Stellungnahme eine herbe Enttäuschung, war doch nun mit lehramtlicher Deutlichkeit ausgesprochen, dass die GER in der vorliegenden Fassung für die katholische Seite nicht unterschriftsreif war.
Nun war es am Rat der EKD, als Erstes offiziell auf die Note aus Rom zu antworten. Am 17. Juli 1998 begann der Rat mit programmatischen Worten: „Unseren katholischen Freunden sagen wir: Wir bleiben zusammen.“ Keinesfalls dürften die Bemühungen zur ökumenischen Verständigung auf diese Note hin reduziert werden. Die Leserbriefdebatte in der FAZ erreichte eine neue Flut an Zuschriften, nachdem Heike Schmoll in einem Kommentar für die Zeitung Ende Juli eine „ökumenische Eiszeit“ ausgerufen hatte.
Der Exekutivausschuss des LWB beschloss bei seiner Tagung im November 1998, die Unterzeichnung der GER erst einmal aufzuschieben. Er regte an, die GER mit einer „kurzen Zusatzerklärung“ zu versehen, die verdeutlichen solle, wie die GER von beiden Seiten ohne Einschränkung unterzeichnet werden könne. Diese Empfehlung basierte auf ausführlichen Erwägungen des Neuendettelsauer Theologieprofessors Joachim Track. Gemeinsam mit dem bayrischen Landesbischof i. R. Hanselmann und auf katholischer Seite Professor Heinz Schütte und Kardinal Ratzinger hatte er das „Regensburger Gespräch“ initiiert, das sich vorgenommen hatte, die letzten Steine für eine Unterzeichnung der GER aus dem Weg zu räumen.
Ausgehend von den Überlegungen des Regensburger Gesprächs konnten Katholische Kirche und Lutherischer Weltbund bereits im Mai 1999 eine „Gemeinsame Offizielle Feststellung“ (GOF) veröffentlichen mit einem Annex, der die bis dato strittigen Fragen klarstellen sollte. Nach der scharfen Zurückweisung in der römischen Note kommt Abschnitt A des Annexes zum erstaunlichen Ergebnis: „Insoweit können Lutheraner und Katholiken gemeinsam den Christen als simul iustus et peccator verstehen, unbeschadet ihrer unterschiedlichen Zugänge zu diesem Themenbereich.“
Noch Ende Mai bestätigten Vatikan und LWB, die GOF mit ihrem Annex zusätzlich zur GER selbst unterzeichnen zu wollen. Am 11. Juni verkündigten beide Seiten dann Ort und Tag der feierlichen Unterzeichnung, symbolisch hoch aufgeladen: Es sollte der Reformationstag sein und Augsburg, Stadt des Reichstags 1530, an dem die Confessio Augustana vor Kaiser und Reich verlesen wurde, und des Religionsfriedens 1555.
243 Unterschriften dagegen
Wer gemeint hatte, dass mit diesem entscheidenden Schritt nun auch der theologische Streit in Deutschland beendet sei, sah sich getäuscht. Noch am 20. Oktober 1999, elf Tage vor der Unterzeichnung, erschien ein zweiter Protestaufruf deutscher Hochschullehrerinnen und -lehrer. Konnte man beim ersten Mal zunächst 141 Unterschriften zählen (später unterzeichneten weitere 17 den Aufruf), sammelten die Initiatoren dieses Mal sogar 243 Unterschriften „wider den Augsburger Rechtfertigungsvertrag“.
Am 31. Oktober 1999 nun war es – allen Umwegen, aller Kritik, aller Debatte zum Trotz – so weit: GER, GOF und Annex sollten nach einem ökumenischen Festgottesdienst im katholischen Augsburger Dom St. Ulrich und St. Afra und einer Prozession in die evangelische St.-Anna-Kirche feierlich unterzeichnet werden. Für die katholische Seite signierte in St. Anna Kardinal Cassidy vom Päpstlichen Rat für die Förderung der Einheit der Christen, für den Lutherischen Weltbund dessen Präsident Bischof Christian Krause. Spontan erhob sich Applaus in der Kirche und bei den Zuschauenden der Übertragung draußen. Kardinal Kasper und Ishmael Noko umarmten sich innig – eine Geste mindestens ebenso ausdrucksstark wie viele theologische Einigungsgedanken. An dem Ort, an dem 1530 ein letzter Versuch gescheitert war, die Spaltung der westlichen Kirche noch zu verhindern, erklärten nun römisch-katholische Kirche und Weltluthertum mit höchst möglicher Autorität, dass sie im Herz des christlichen Glaubens, in der Rechtfertigungslehre, einen Grundkonsens erzielt hätten, der gegenseitige Verwerfungen obsolet werden lässt.
Der Papst sprach in seinem Angelusgebet in Rom am 31. Oktober 1999 ausführlich über die Ereignisse in Augsburg und begrüßte „einen Meilenstein auf dem nicht einfachen Weg zur Wiederherstellung der vollen Einheit unter den Christen“.
Dass das Jubiläum der GER dieses Jahr kaum begangen wird, hat nicht nur mit der breiten universitären Ablehnung in Deutschland zu tun. Die nur neun Monate nach der GER veröffentlichte römische Erklärung Dominus Iesus liest sich wie eine vatikanische Korrektur, spricht sie doch, anders als die Gemeinsame Erklärung, erneut den Evangelischen das Kirchesein ab.
Doch manche ökumenische Hoffnungszeichen seitdem sprechen eine andere Sprache als dieser ernüchternde Text, insbesondere rund um das Reformationsjubiläum 2017. Und wieder sind es zwei Umarmungen, die ein neu gewachsenes Vertrauensverhältnis ins Bild setzten: die des Papstes und des LWB-Präsidenten Bischof Munib Younan am Reformationstag 2016 in Lund und die von Kardinal Reinhard Marx mit dem EKD-Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm beim eindrücklichen Versöhnungsgottesdienst in Hildesheim im März 2017.
Der Prozess der evangelisch-katholischen Ökumene hat stets neben erheblichen Fortschritten auch Stillstand und Rückschritte erlebt. Der Durchbruch, den die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre zweifelsohne darstellt, ist weit davon entfernt, eine Kirchengemeinschaft in greifbarer Nähe erwarten zu lassen. Hoffnung geben jedoch Signale aus Rom, dass an einer weiteren Gemeinsamen Erklärung zur Kirche, zum Amt und zu den Sakramenten gearbeitet werden soll. Zudem wird 2030 als das Datum des 500. Jubiläums der Confessio Augustana immer wieder genannt als Zeitpunkt, an dem die CA als ökumenisches Bekenntnis auch katholische Anerkennung erfahren könnte.
Nicht ohne Mühe
Mindestens ebenso bedeutsam ist jedoch die gewachsene Selbstverständlichkeit einer geistlichen Ökumene in Gebet, Gottesdienst und christlichem Handeln. Es zeigt sich allerdings, dass auch zukünftig trotz aller ökumenischer Selbstverständlichkeiten an der Basis ohne die mühsame theologische Arbeit in Lehrgesprächen keine Einigung in versöhnter Verschiedenheit gelingen wird. Alle theologische Bemühung wie alle praktische Ökumene gründen letztlich im Wirken des Heiligen Geistes, der im Sinne Jesu möchte, dass wir als seine Nachfolgerinnen und Nachfolger eins sind.
Tilman Jeremias
Tilman Jeremias ist Bischof im Sprengel Mecklenburg und Pommern der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland, Greifswald.