„Muss man wollen, was man nicht will?“

Tiefer Glaube mit kritischer Nüchternheit durchdrungen: die Lieddichterin Hedwig von Redern
Eine undatierte Postkarte aus dem Emil Müller Verlag Barmen mit dem  Kirchenlied „Weiß ich den Weg auch nicht, du weißt ihn wohl“
Foto: akg
Eine undatierte Postkarte aus dem Emil Müller Verlag Barmen mit dem Kirchenlied „Weiß ich den Weg auch nicht, du weißt ihn wohl“

Ihre Lieder finden sich noch heute in evangelischen Liederbüchern, eines im Evangelischen Gesangbuch. Wer war Hedwig von Redern (1866–1935)? Was zeichnete sie aus? Die Heidelberger Religionspädagogin Adelheid von Hauff erinnert an eine außergewöhnliche Frau, die auch als Schriftstellerin, Exegetin und Seelsorgerin tätig war.

Am Vorabend ihrer Exekution sang die 22-jährige Deutsch-Baltin Marion von Klot (1897-1919) wie an jedem anderen Abend der vergangenen Monate im Zentralgefängnis von Riga das Lied: „Weiß ich den Weg auch nicht, du weißt ihn wohl.“ Ihr ebenfalls inhaftierter Konfirmator Erhard Doebler (1882–1919) hatte sie vor Jahren mit dem Lied bekannt gemacht. Doebler war in einer Gedichtsammlung auf den 1902 verfassten Text aufmerksam geworden. Seine Chorleiterin Anni Sokolowsky fand mit einer 1868 von John Bacchus Dykes vertonten englischen Weise die passende Melodie dazu.

Marion von Klot sang das Lied erstmals im Neujahrsgottesdienst 1916, fortan war es ihr Lied. Während des Lettischen Unabhängigkeitskrieges ergriff sie oftmals die Gelegenheit, Leidtragende mit ihrem Gesang zu trösten. Als sie im April 1919 verhaftet wurde, begleitete sie dieses Lied ins Gefängnis und bis in den Tod. Am 22. Mai 1919 wurde die junge Sängerin mit zweiunddreißig weiteren Personen hingerichtet. Doch wer steht hinter diesem Lied, hat es gedichtet? Wer hat die Zeilen geschaffen, die Menschen in schier ausweglosen Situationen Trost und Hoffnung spendeten? Die Dichterin des Liedes ist Hedwig von Redern (1886–1935). Von ihr heißt es, dass all ihre Gedichte und Lieder wie auch dieser Text ihr einfach so aus der Feder flossen. In ihrer Autobiografie Knotenpunkt schreibt sie: „Ohne Ahnung, was es ausrichten sollte, stand’s eines Tages auf einem Zettel und kam ins Büchlein ‚Geborgen‘ und von da zu den baltischen Märtyrern ins Gefängnis.“

Anna Charlotte Hedwig von Redern kommt am 23. April 1866 in Berlin als Tochter des Oberstleutnants Hermann von Redern (1819–1886) und der Anna, geborene von der Marwitz (1846–1919), zur Welt. Nach Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges (1870/71) wird das Regiment des Vaters als Besatzungsarmee nach Frankreich beordert. Bis 1873 lebt die Familie in Nancy. Hier erwirbt Hedwig hervorragende Französischkenntnisse. Nachdem der Vater seine militärische Laufbahn beendet hat, zieht die Familie 1874 auf den Familienstammsitz Wansdorf in der Mark Brandenburg.

„Muss man denn wollen, was man nicht will? Muss man’s, wenn man vier Jahre alt ist? Könnte es jemand helfen, wollte ich es tun; aber so – nein!“ So entgegnet die vierjährige Hedwig der Mutter, als diese sie zwingen will, einen auf der Straße vorbeiziehenden tanzenden Bären zu beobachten. War es kindlicher Trotz oder verbarg sich dahinter ein Charakterzug? In ihrer Autobiografie sieht von Redern hinter der kindlichen Äußerung bereits das sie lebenslang begleitende Motto, nur die Dinge zu machen, von deren Notwendigkeit sie überzeugt ist. Mit acht Jahren begegnet von Redern erstmals dem Tod. Als ihr 17-jähriger Vetter, Albrecht von Waldersee, im Sterben liegt, betet sie im kindlichen Gottvertrauen für seine Genesung. Dass die Erwachsenen ihr Vertrauen in die Macht des Gebetes nicht teilen, befremdet das Mädchen. Zugleich macht sie sich Gedanken über den Tod. Unvorstellbar ist ihr, dass man zuerst sterben muss, um danach ewig zu leben. Sie rebelliert gegen die Unabänderlichkeit des Todes. Zeichenhaft legt sie einen knospenden Zweig auf das Bett des sterbenden Vetters. Mit dem zum Leben erwachenden Zweig beschenkt sie einen Freund, der in ein unbekanntes Land gehen muss und nie wieder Blumen pflücken kann. Von Rederns Glaube bewegt sich hier in der Spannung zwischen Grundvertrauen und Grundmisstrauen, zwischen Wunscherfüllung und tiefer Enttäuschung. Das Gottesbild des Kindes impliziert beides: das Gefühl der Geborgenheit und das Gefühl des Verlassenwerdens.

Hedwig von Redern ist Offizierskind. Das gesprochene Wort ist für sie verpflichtend. So soll es auch mit dem Ja bei ihrer Konfirmation sein. „Wenn ich ja sage, soll‘s auch ja sein.“ Dem starken Willen der Konfirmandin steht ihr Konfirmationsspruch gegenüber: „Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt. Darum fürchte dich nicht, glaube nur; denn der Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat“ (Markus 9,23; Markus 5,36 und 1. Johannes 5,4). Wie der Glaube im Verlauf der Jahre zu einem ihr Leben und Handeln bestimmenden Element wird, zeigen ihre späteren Texte.

1886 stürzt die Nachricht vom plötzlichen Tod des geliebten Vaters die Zwanzigjährige in eine Lebenskrise. Auflehnung und die Suche nach einem Sinn streiten in ihr. Jesu Worte aus Johannes 13,7 trösten nur vordergründig: „Sei still, du wirst es hernach erfahren.“ Der hier ansatzweise zum Ausdruck kommende Glaube, Gott verfolge auch mit dem Leid eine heilbringende Absicht, steht im Widerspruch zu ihrem tiefen Schmerz. Noch dominiert der rätselhafte und angstmachende Gott ihr Denken. Nach dem Verlust ihres Ehemanns steckt Anna von Redern ihrer Tochter Hedwig dessen Verlobungsring an den Finger und weist ihr damit den Platz zu, den zuvor Hermann von Redern eingenommen hatte. Mit dem Anstecken des Ringes stellt Anna von Redern auch die Weichen für die Ehelosigkeit ihrer Tochter. Im Gegensatz zu dem Verhalten des vierjährigen Mädchens nimmt die pflichtbewusste junge Frau diese Aufgabe als von Gott gegeben an.

Verlust der Heimat

Wenig später verkauft die Mutter auch noch den Familienstammsitz Wansdorf und bezieht mit ihren beiden Töchtern eine Stadtwohnung in Berlin. Von Redern verliert mehr als das väterliche Anwesen, sie verliert ihre Heimat. Wieder erscheint ihr Gottes Handeln rätselhaft. Sie zweifelt an seiner Gerechtigkeit und Liebe. Gott mutet ihr in zerstörerischer Absicht Unglück zu. Ihr Gottesbild wandelt sich, als von Redern in Berlin mit Vertretern der Gemeinschaftsbewegung in Berührung kommt. Es sind Evangelisationsveranstaltungen des schwäbischen Evangelisten Elias Schrenk (1831–1913), die den Anstoß zu ihrer religiösen Umkehr geben. Die Dichterin erlebt keine auf Tag und Stunde genau datierbare Bekehrung. Sie lässt sich nicht von einer im Gefühl verankerten Begeisterung anstecken. Vielmehr prüft sie kritisch, ehe sie sich der neuen Botschaft öffnet. Ergriffen von der Erkenntnis, dass ihr in Christus der gütige Gott gegenübertritt, besucht sie fortan die in Berlin stattfindenden christlichen Teeabende und lernt die führenden Vertreter und Vertreterinnen der Gemeinschaftsbewegung kennen.

Die Gemeinschaftsbewegung ist eine innerkirchliche Reformbewegung, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts zur Erneuerung des Barockpietismus und der Erweckungsbewegung bildete. Wie die Erweckungsbewegung, so kennzeichnet auch die Gemeinschaftsbewegung ein endzeitliches Moment. Ihre Anhänger gehen davon aus, dass die Wiederkunft Christi unmittelbar vor der Tür stehe. Zu den gegenüber dem Barockpietismus neuen Elementen der Gemeinschaftsbewegung gehören die aus dem Angelsächsischen entlehnten öffentlichen Evangelisationsveranstaltungen. Sie finden in öffentlichen, nicht sakralen Räumen statt. Ein weiteres Kennzeichen ist eine geradezu individualistische Frömmigkeit. Die Bewegung bildet keine einheitliche Theologie aus. Der Glaube der Einzelnen gründet auf dem Vertrauen gegenüber der Bibel, der Notwendigkeit der Wiedergeburt und einer daraus folgenden bewusst christlichen Lebensgestaltung. Neu ist, dass Frauen und Mädchen unter Berufung auf die Bibel selbstverständlich Gottes Wort verkündigen. Lange bevor die offizielle Kirche Frauen das Predigtamt zugesteht, halten die – meist dem Adel entstammenden Frauen – Bibelstunden und predigen öffentlich. Hedwig von Redern unterrichtet in der Sonntagsschule, besucht Kranke, verteilt Traktate, leitet Bibelstunden und kümmert sich seelsorgerlich um Ratsuchende, und zwar vorwiegend um Männer.

Man kennt sich innerhalb der Gemeinschaftsbewegung, und so reist von Redern auch nach Bad Blankenburg zu den alljährlich stattfindenden Allianzkonferenzen, die Anna Thekla von Weling (1837–1900) nach dem Vorbild der angelsächsischen Heiligungsbewegung als freikirchlich orientierte ökumenische Veranstaltung gegründet hat. Von Anna Thekla von Weling stammt das bis heute ebenfalls im Evangelischen Gesangbuch und im Gotteslob der römisch-katholischen Kirche stehende Lied: „Die Kirche steht gegründet allein auf Jesus Christ.“ Sie hat es 1898 aus dem Englischen übersetzt.

Weitere Kontakte unterhält von Redern zu dem 1898 in Bad Freienwalde gegründeten Bibelhaus Malche. Hier werden Frauen für den Verkündigungsdienst im In- und Ausland ausgebildet. Ein weiteres Betätigungsfeld ist der 1899 gegründete Deutsche Frauenmissionsgebetsbund, zu dessen Gründerinnen sie gehört.

Es ist die Zeit, in der die englische Heiligungsbewegung auch Deutschland erreicht. Während die meisten Vertreterinnen und Vertreter der Gemeinschaftsbewegung mehrfach zu der jährlich stattfindenden Glaubens-Konferenz nach Keswick in Wales reisen, sprechen die gefühlsbetonten Veranstaltungen Hedwig von Redern nicht an. Ihr tiefer Glaube ist von einer kritischen Nüchternheit durchdrungen. Er lässt sie zu einer im Gefühl beheimateten Religion in Distanz gehen.

Eine Autodidaktin

„Ich werf’ sie lieber ins Feuer. Was mit meinem Herzblut geschrieben ist, sollen Fremde begaffen? Niemals!“ Mit diesen Worten wehrt von Redern sich gegen den Druck ihrer Gedichte. Trotzdem erscheint bereits 1894 ihr erstes gedrucktes Werk unter dem Titel: „Schlichte Lieder für schlichte Leute“.

Sie schreibt auch Kurzgeschichten. Daraus entsteht der ab 1929 jährlich erschienene Kalender „Zeit und Ewigkeit“. Aus den im Auftrag des Christlichen Vereins Junger Männer (CVJM) für Jugendliche verfassten Texten entstehen Geschichten für Kinder und Jugendliche. Die Offiziers­tochter gibt ihnen den Titel „Wehr und Waffe“. Zusammen mit Andreas Graf Bernstorff (1844–1907) und Ernst Lohmann (1860–1936) wird sie Schriftleiterin des christlichen Korrespondenzblattes: Die Warte. Nach einem Verlegerwechsel erhält es 1904 den Titel Auf der Warte.

Seit der Jahrhundertwende verfasst die bereits als Schülerin historisch interessierte Frau Historienbiografien. Unter der Überschrift: „Ein Werkzeug in Gottes Hand. Evangelische Züge aus dem Leben einer katholischen Heiligen“ porträtiert sie Katharina von Siena (1347–1380). Da es in evangelischen Kreisen nicht üblich ist, sich mit Glaubenszeuginnen und Glaubenszeugen der vorreformatorischen Zeit zu beschäftigen, begründet sie ihr Vorhaben so: Gottes Geist kümmert sich weder um die Schranken der Konfession noch des Geschlechts, er schafft vielmehr zu allen Zeiten Individualitäten, die der großen Gottesfamilie angehören.

Aufgrund nicht zugänglicher Primärquellen entnimmt sie den bereits vorliegenden historischen Bearbeitungen in deutscher, englischer und französischer Sprache ihre Kenntnisse. Hinzu kommt die Kirchengeschichte des Kirchenhistorikers Karl August von Hase (1800–1890). Den historischen Gestalten gibt sie mit Zitaten aus den vorliegenden Quellen eine Stimme. Die kommentierenden Zwischentexte bilden ihre eigene religiöse Einstellung, ihre Theologie und Anthropologie ab.

Dass sie Frauen und Männer zur Glaubensstärkung ihrer Leserinnen und Leser vorstellt, begründet sie in ihrer Autobiografie so: „Gott hat ja immer dem Mann Ergänzung in der Frau geschaffen, auch wenn Er sie nicht leiblich verband. Alle Einzelentwicklung bleibt einseitig; selbst an der selbständigen großen deutschen Frau Hildegard von Bingen spürt man die männlichen Einflüsse, wenn sie auch nicht wie Franz und Klara, Madame Guyon und Fènelon Schulter an Schulter kämpften.“ Aus der Reihe der evangelischen Liederdichter hat von Redern Gerhard Tersteegen (1697–1769) und Gustav Knak (1806–1878) porträtiert.

Zwar werden ihr, der Frau aus dem Adel, das Abitur und Theologie-Studium verwehrt, trotzdem wirkt sie lebenslang als Theologin. Ausgestattet mit einer hervorragenden, durch Erzieherinnen und Hauslehrer erworbenen Allgemeinbildung, eignet sie sich autodidaktisch mehrere Fremdsprachen sowie fundierte historische, literarische und theologische Kenntnisse an. Hedwig von Redern ist als Übersetzerin, Dichterin, Exegetin, Sozialarbeiterin und Seelsorgerin tätig. Sie übt diese Berufe zu keiner Zeit zum Broterwerb aus. Das familiäre Vermögen ermöglicht ihr, sich – modern ausgedrückt – im Ehrenamt zu engagieren.

Mit ihren Liedern wirkt sie bis heute als Seelsorgerin. Ihr bekanntestes Lied: „Weiß ich den Weg auch nicht, du weißt ihn wohl“ steht im Regionalteil des Evangelischen Gesangbuches vieler Landeskirchen. Es wird in Gottesdiensten und bei Beerdigungen gesungen. Ihre Biografien sind nur noch in älteren Auflagen im Umlauf, sie werden aber noch immer gelesen. Auch ihre Bibelerklärungen sind nur noch antiquarisch erhältlich. Hedwig von Redern war keine historisch-kritische Exegetin. Trotzdem gehört sie zu den Frauen, die ohne offizielles Amt theologisch wirkten.

Sie ist bereits krank, als sie 1930 zur geistlichen Mutter der in Berlin lebenden Sinti und Roma wird. Schon lange fasziniert sie die unbändige Leidenschaft und Schönheit dieser unterdrückten Bevölkerungsgruppe. Sie gehört zu den ersten, die diese rechtlosen Menschen in ihrem Quartier im Wald besuchen. Sie kümmert sich um einzelne und schenkt ihnen ihre Freundschaft. Für ihre Beerdigung wünscht sie, dass die von ihr so genannten Zigeunerkinder händeklatschend das englische, von ihr übersetzte Herrlichkeitslied singen: „Wenn nach der Erde Leid, Arbeit und Pein ich in die goldenen Gassen zieh ein, dann wird das Schau’n meines Heilands allein Grund meiner Freude und Anbetung sein.“ Hedwig von Redern stirbt am 22. Mai 1935.

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Adelheid von Hauff

Adelheid von Hauff arbeitet als Lehrerin für Evangelische Theologie und Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg.


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