Bin ich’s?

Theologische Überlegungen zur umstrittenen Olympiaeröffnung
Das Gemälde "Das Fest der Götter" des niederländischen Malers Jan van Biljert, entstanden um 1635-1640.
Foto: privat
Das Gemälde "Das Fest der Götter" des niederländischen Malers Jan van Biljert, entstanden um 1635-1640.

Über eine Sequenz im Programm der Eröffnung der Olympiade in Paris wird seit über einer Woche aufgeregt diskutiert: Wurde das letzte Abendmahl verhöhnt – so, wie es durch das Bild von Leonardo da Vinci ikonisch geworden ist? Der Theologe Bernd Kehren aus Mayen (Rheinland-Pfalz) vermutet hingegen, dass wir – unbeabsichtigt – Teil einer vielen größeren Inszenierung geworden sind …

Für manche frommen Menschen ist es unerträglich, wie sich eine queere Community hinter einem großen Tisch formiert, mit einer lesbischen Frau in der Mitte, dort wo im Abendmahlsbild von Leonardo da Vinci Jesus sitzt. Kurz danach wurde bekannt: Der Organisator der Eröffnungsfeier, Thomas Jolly, bestreitet den Bezug zur Inszenierung zu diesem Bild. Hintergrund sei stattdessen das Gemälde "Das Festmahl der Götter" des niederländischen Malers Jan van Bijlert aus dem 17. Jahrhundert. Zu sehen ist dort eine königliche Hochzeitsfeier auf dem Olymp. Zahlreiche Götter der griechisch-römischen Mythologie nehmen teil – und sie werden auf und hinter dem Tisch auf jener Brücke in Paris dargestellt.

Die meisten dürften inzwischen das Foto dieser Szene kennen. Gibt es den Zusammenhang wieder, in dem es entstanden ist? Das Foto entsteht gegen Ende einer über 15 Minuten dauernden Performance innerhalb der langen Eröffnungsfeier. Sie war zum ersten Mal nicht auf ein Stadion konzentriert, sondern zog sich entlang der Seine und historisch wichtige Punkten quer durch Paris. Ein Skandal ist zunächst nicht zu erahnen. 

Atemberaubende Choreographie

Nun nähern wir uns der kritischen Szene: Wir sehen ein großes Lastenschiff mit Dutzenden Tänzerinnen und Tänzern. Langsam bewegt es sich im Dunkeln auf eine hellerleuchtete Brücke zu. Auf dem Schiff werden mitreißende moderne Gruppenchoreographien getanzt. Die Kamera wechselt immer wieder auf einen langen Laufsteg, der sich nach hinten über die ganze Länge der Brücke erstreckt. Rechts und links sitzen kostümierte Zuschauerinnen und Zuschauer. Sie betrachten das Geschehen auf dem Steg: Als „Mannequins“ tanzen Stars der Drag Queen- und Performer-Szene auf dem Laufsteg atemberaubende Choreographien oder präsentieren mitreißenden Gesang. Immer wieder wechselt die Kamera vom Schiff der Tänzer, das langsam unter der Brücke hindurch gleitet, auf die Brücke mit dem Laufsteg.

Dann blicken wir seitlich auf die Brücke. In der Mitte sitzt nun mit Barbara Butch eine der in Frankreich bekanntesten DJs, eine lesbische Aktivistin. Sie setzt sich im realen Leben für Body Positivity ein, also für eine positive Haltung von und gegenüber körperfülligen Menschen. Ihre Hände formen ein Herz, im Haar trägt sie einen glänzenden Strahlenkranz, fast wie eine Oblate. Rechts und links von ihr haben die vielen Gäste auf der Brücke zu ihr aufgeschlossen. Es sind viel mehr Personen als auf dem Bild von da Vinci. Dennoch ist eine gewisse Ähnlichkeit nicht zu verkennen. Von oben senkt sich nun eine überdimensionale Schale auf den Tisch. Die Servierhaube hebt sich und gibt den Blick frei auf eine fast nackte und blau bemalte Person. Es handelt sich um den Chansonnier Philippe Katerine, als blauer Dionysos verkleidet. Beim ersten Sehen glaubte ich, mehrere Personen zu sehen, aber die waren in Wirklichkeit schon vorher hinter der Haube. Unter der Haube war nur Katerine. Erst liegend, dann stehend trägt er sein Lied „Nu“ – „Nackt“ vor. 

Persiflage auf das Paradies?

In keiner der Stellungnahmen, die ich bisher gelesen habe, spielt der Text dieses französischen Liedes eine besondere Rolle. Allenfalls wird es als Persiflage über Nacktheit beschrieben. Die erste Zeilen lauten in deutscher Übersetzung: „Würde es Kriege geben, wenn wir nackt geblieben wären? Nein. Wo versteckt man einen Revolver, wenn man nackt ist? Wo?“ Und weiter: „Keine Reichen, keine Armen mehr, wenn wir alle wieder nackt werden. … Lasst uns leben, wie wir geboren wurden …“

Wenn die Szene am Tisch eine Persiflage auf das Abendmahl wäre: Ist dies eine Persiflage auf das Paradies? Wir sollten noch einmal in den Blick nehmen, was vor dem beim letzten Abendmahl vorging: Die Botschaft Jesus war für viele Menschen attraktiv, besonders für Menschen, die sonst wenig Anerkennung fanden. Man spürte seine Zuwendung. Die Botschaft vom nahen Gottesreich tat gut. Man erhoffte umfassenden Frieden und Befreiung vom Joch der römischen Besatzung. Als Jesus dann auf dem Esel nach Jerusalem einzieht, rufen diese Menschen das „Hosianna“. 

Aber Jesus findet nicht nur Zustimmung. Andere haben Angst, er würde die Verhältnisse auf den Kopf stellen. Man befürchtet Ärger mit der römischen Besatzungsmacht. Viele seiner religiösen Vorstellungen empfindet man als blasphemisch. Die Situation spitzt sich zu. Jesus spürt, dass es kein gutes Ende mit ihm nehmen wird. Einen Aufstand will er vermeiden. Einer der Jünger muss ihn ausliefern. Aber wer? Die Jünger sind entsetzt: „Bin ich’s?“ 

Botschaft des Miteinanders

Ob Thomas Jolly das Bild auf der Brücke mit dem Laufsteg beziehungsweise mit dem Tisch in Analogie zum „Abendmahl“ von da Vinci geplant hat, wird wohl offenbleiben müssen. Ganz sicher hat er eine weitergehende Analogie nicht geplant. Schon gar nicht stellt er einen Weltenerlöser (oder eine Weltenerlöserin) heraus. Wohl aber geht es ihm um eine Botschaft des Miteinanders gleichwertiger Menschen in Frieden. Das entnehmen wir dem Lied. Einfach Mensch unter Menschen sein dürfen. Damit sind wir relativ nahe an einem zentralen Anliegen die Botschaft und des Lebens Jesu.

Auch im realen laizistischen Frankreich gibt es diesbezüglich große Probleme, und die Eröffnungszeromine wurde bewusst als ein Fest des Friedens gestaltet. Niemand soll ausgeschlossen werden. In dieser Viertelstunde der Eröffnungszeremonie wendet sich die olympische Gemeinschaft queeren Menschen zu. Sicherlich gibt es auch unter den Sportlern der Olympiade queere Menschen. Ein Outing kommt für viele von ihnen nicht in Frage. In vielen ihrer Heimatländer müssen sie Repressalien befürchten, bis hin zur Todesstrafe. Die Eröffnungsveranstaltung macht Mut, wenigstens innerlich zu sich zu stehen. „Ihr gehört dazu!“, ist die Botschaft an dieser Brücke. Auch damit sind wir der Botschaft Jesu sehr nahe.

Ich muss an sogenannte „Gleichnis vom Großen Weltgericht“ in Matthäus 25 denken. Jesus knüpft dort an die Botschaft vom Anfang der Bibel an: „Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, männlich wie weiblich!“ Was für ein Satz in einer zutiefst patriarchalen Welt! Jeder Mensch gilt als Gottes Ebenbild. Und so sagt Jesus im Gleichnis vom Weltgericht: „Was ihr dem Geringsten (nicht) getan habt, habt ihr mir (nicht) getan!“ Also: Behandelt jeden Menschen als ein Ebenbild Gottes. Den Kranken, den Armen, den im Gefängnis – und heute müssten wir sagen: Auch den queeren Menschen.

„Hosianna!“ – „Blasphemie“

Die Reaktionen können unterschiedlicher nicht sein. „Warum stehen diese Minderheiten immer so im Vordergrund?“, ist noch einer der sachlicheren Einwände. Angesichts von 15 Minuten während einer über dreistündigen Show ist das „immer“ sicherlich überzogen. Unter den religiösen Menschen sind die Reaktionen gespalten. „Hosianna“ rufen sozusagen die einen, denn für sie ist die erlösende Botschaft der Menschlichkeit wichtig, die Jesus doch verkörpert hat. „Blasphemie!“ rufen die anderen. So kann und darf man das Abendmahl nicht darstellen! 

Dabei bleibt es nicht. Barbara Butch, ist die Frau, die an der Position steht, an der auf da Vincis Bild Jesus abgebildet ist. Sie bekommt jetzt unerträgliche Hassbotschaften und wird mit konkreten Gewaltphantasien überschüttet, wie man sie foltern und umbringen könnte. Wie in der biblischen Überlieferung markiert die Szene gewissermaßen den Umschlagpunkt zwischen einem „Hosianna!“ und dem „Kreuzige ihn!“ Wir erleben Gewaltphantasien gegen Menschen, die einfach Menschen sein wollen, so wie sie sind bzw. wie sie sich fühlen. 

Die Zeit des Paradieses, die Chansonnier Philippe Katerine in seinem Lied von Frieden und Nacktheit besingt, ist vorbei. Adam und Eva mussten das Paradies bekleidet verlassen. Bekleidet leben wir in einer Welt von Mühe und Arbeit, von Eifersucht und Brudermord, von Katastrophen und Krieg. Wir sehnen uns nach einer erlösten Welt. Auch Olympia und mit ihr die Eröffnungsveranstaltung sind ein Ausdruck dieser Sehnsucht. Und trotzdem geht es anderen zu weit: „So nicht! Das ist Blasphemie! Das widerspricht unseren religiösen Auffassungen!“ 

Ebenbild unter Ebenbildern?

Die Abendmahlsszene steht gewissermaßen im Schnittpunkt zwischen Zustimmung und Ablehnung. Beunruhigende Worte Jesu: „Einer von Euch wird mich verraten!“ „Bin ich’s?“, fragen sich die Jünger? Womit könnten wir heute Jesus verraten? Wem stimmen wir zu? Wen lehnen wir ab? Gehören wir zu denen, die zu Jesus und zu seiner Botschaft des Friedens stehen wollen? Wollen wir Ebenbild unter Ebenbildern sein und schließen dabei weder Arme, noch Kranke, weder Gefangene oder queere Menschen aus? Für mich wären das die Menschen vom Palmsonntag. Oder gehören wir zu denen, die – aus durchaus verständlichen und klugen und auch religiösen Gründen - am Karfreitag das „Kreuzige ihn!“ rufen?

„Bin ich’s?“ – Die Szene auf der Brücke katapultiert uns mitten in das Geschehen zwischen Palmsonntag und Karfreitag. Gründonnerstag ist der Schnittpunkt. Völlig ungewollt aktualisiert Thomas Jolly die biblische Szene. Gläubige Menschen wissen: Der Mensch denkt – und Gott lenkt. Und so bleiben die Fragen: Wo stehe ich in dieser aktualisierenden Inszenierung? Wo will ich stehen? „Hosianna!“ – oder „Kreuzige ihn!“? Es ist unsere Entscheidung.

 

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Foto: privat

Bernd Kehren

Bernd Kehren ist Pfarrer in der Evangelischen Kirche im Rheinland und seit 2020 Militärseelsorger in Mayen (Rheinland-Pfalz).


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