Der Papst als Pontifex

Ökumenische Brückenschläge zwischen Ost und West
Gemeinsame Messe mit Vertretern der Orthodoxie und der anglikanischen Kirche im Vatikan im Januar 2023: „Das Studiendokument knüpft an den Ehrenprimat an, der Rom seit alters in der Orthodoxie immer wieder zuerkannt wird.“
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Gemeinsames Gebet mit Vertretern der Orthodoxie und der anglikanischen Kirche im Vatikan im Januar 2023: „Das Studiendokument knüpft an den Ehrenprimat an, der Rom seit alters in der Orthodoxie immer wieder zuerkannt wird.“

Der Papst als Sprecher für die ganze Christenheit? Für manche Protestant:innen eine schwierige Vorstellung. Doch der Vatikan hat nun ein Papier veröffentlicht, das sich sowohl selbstkritisch als auch konstruktiv mit der ökumenisch verbindenden Form des Petrusdienstes beschäftigt. Thomas Söding, katholischer Professor für Neues Testament an der Ruhr-Universität in Bochum, deutet seine Inhalte.

Er soll das Gesicht der Einheit sein – und für die katholische Kirche ist er das auch. Aber spaltet er nicht eher die Gemüter? In der Neuzeit ist der Papst so hell angestrahlt worden wie nie zuvor, am stärksten mit der Definition der Unfehlbarkeit und des Jurisdiktionsprimates auf dem Ersten Vatikanischen Konzil 1870. Gerade dieser Lichtstrahl hat aber einen Schatten auf die ökumenischen Beziehungen zu den anderen Kirchen und Konfessionen geworfen: sowohl zur Orthodoxie als auch zum Protestantismus.

1995 hat Johannes Paul II. in der Enzyklika Ut unum sint offen die Frage gestellt, wie der „Dienst der Liebe“, der dem Bischof von Rom zukomme, so ausgeführt werden kann, dass er nicht Anstoß erregt, sondern Anerkennung findet, nicht zuletzt von den ökumenischen Geschwistern (Nr. 95). Joseph Ratzinger, seinerzeit als Präfekt der Glaubenskongregation an der Entstehung der Enzyklika nicht unbeteiligt, hat als Benedikt XVI. mit seinem Rücktritt am Rosenmontag 2013 entscheidend zur Entmythologisierung des Papstamtes beigetragen. Er erklärte damals, es könne Menschen überfordern, auch wenn – oder weil? – es für die katholische Kirche fundamental sei.

Unter Papst Franziskus hat das „Dikasterium für die Förderung der Einheit der Christen“, geleitet von Kardinal Kurt Koch, jüngst ein „Studiendokument“ veröffentlicht, das auf die Frage nach einer ökumenisch verbindenden Form des Petrusdienstes zurückkommt und die zahlreichen Antworten reflektiert, die in den vergangenen Jahrzehnten – direkt und indirekt – eingegangen sind. Ein bemerkenswerter Text ist entstanden, weit mehr als eine Fleißarbeit. Die Studie ist eine diskursive Analyse, die zeigt, dass die katholische Theologie besser wird, wenn sie ökumenische Anfragen aufnimmt; der Text ist eine hermeneutische Öffnung, die den Petrusdienst in die synodale Sendung der Kirche einordnet, und er ist eine neue Einladung an alle Glaubensgeschwister, das Gespräch fortzusetzen, ohne sich mit der Beschreibung des Status quo zufriedenzugeben, ohne sich einer illusionären Harmoniesucht hinzugeben und ohne die eigene konfessionelle Prägung aufzugeben.

Argumentative Ökumene: Die Studie beginnt mit einer sorgfältigen Auflistung der globalen und lokalen, der multi- und bilateralen Dokumente, in denen das Dikasterium ökumenische Antworten auf die Einladung von Johannes Paul II. gefunden hat, und entwickelt dann ein Argument in drei Schritten, dem eine kurze Zusammenfassung folgt.

Zuerst stehen drei grundlegende theologische Fragen: Wie wird das Zeugnis der Heiligen Schrift über Petrus erschlossen? Wie ist das Konzept des „göttlichen Rechts“ zu verstehen? Und wie sind die Definitionen des Vatikanum I zu sehen? In allen drei Fällen bildet die aktuelle exegetische, kanonistische, historische und dogmatische Forschung den Referenzrahmen; der Fokus liegt aber darauf, die ökumenischen Konsensdokumente zu Wort kommen zu lassen und mit dem katholischen Grundverständnis so gut zu vermitteln, wie es geht.

Drei Perspektiven

Sodann werden drei „Perspektiven für einen Dienst der Einheit in einer wiedervereinten Kirche“ benannt: Welche Gründe aus der Tradition, aus der Ekklesiologie und aus der aktuellen Situation sprechen für die Notwendigkeit eines universalen Dienstes der Einheit? Wie lässt sich das von Joseph Ratzinger entwickelte Postulat verstehen, es dürfe nicht mehr Anerkennung des Primates verlangt werden, als im 1. Jahrtausend akzeptiert war? Und welche Kriterien der Primatsausübung können im 21. Jahrhundert leitend sein? Die Methode der Studie ist auch in diesem Teil die Dokumentation und Reflexion signifikanter Antworten aus der Ökumene – und ihre Einordnung auf dem katholischen Koordinatensystem.

Die eingehende Erörterung führt zu drei Konsequenzen: Eine Neuinterpretation des Ersten Vatikanischen Konzils ist angezeigt; der Primat muss auf ökumenisch verbindende Weise ausgeübt werden; und er gehört mit Synodalität zusammen, sowohl intern in der katholischen Kirche als auch extern in den Beziehungen zu anderen Konfessionen. Dass Kurt Koch das Studiendokument zusammen mit Kardinal Mario Grech, dem Chef des vatikanischen Synodensekretariats vorgestellt hat, ist ein Zeichen.

Katholisch-orthodoxe Perspektiven: Das Studiendokument stellt die katholischen Parameter des Papsttums nicht zur Disposition, sondern stärkt sie: dadurch, dass Überspitzungen abgeschliffen, Zusammenhänge hergestellt und neue Deutungsangebote gemacht werden.

Am markantesten ist ein Vorschlag, der aus der Zeit gefallen scheint, aber seine beste Zukunft noch vor sich haben kann. Die Alte Kirche kennt das Modell von fünf Patriarchaten, unter denen Rom neben Konstantinopel, Alexandria (Ägypten), Antiochia (Syrien) und Jerusalem die Nummer 1 ist – nicht juristisch, aber auch nicht nur politisch, sondern theologisch, ausgezeichnet durch die Petrus- und die Paulustradition, die hier, am Ort des Martyriums beider Apostel, gepflegt wird. Benedikt XVI. hatte Irritationen ausgelöst, weil er den Ehrentitel „Patriarch des Abendlandes“ abgelegt, Franziskus Hoffnungen geweckt, weil er ihn wieder angenommen hat. Das Studiendokument begründet sie, weil sie den Jurisdiktionsprimat auf den „Westen“ bezieht, aber an den Ehrenprimat anknüpft, der Rom seit alters in der Orthodoxie immer wieder zuerkannt wird. Die Differenzierung hat das Potential, das Prinzip der Autokephalie, der rechtlichen Unabhängigkeit der orthodoxen Kirchen, im Grundsatz anzuerkennen. Schon der Titel der Studie „Der Bischof von Rom“ zeigt eine Zurückhaltung, die nicht nur klug, sondern auch gut ist.

Angebot zur Güte

Freilich fragt sich, wie die Resonanz sein wird. Zum einen taugt in der globalisierten Welt das geografische Ordnungsprinzip weniger denn je bei der Unterscheidung von Zuständigkeiten; zum anderen ist die Orthodoxie zerrissen, weil das Beispiel Russland zeigt, wie anfällig die Autokephalie für Nationalismus ist und wie sehr ein anti-westlicher Affekt die Orthodoxie selbst vor eine Zerreißprobe stellt. Dennoch ist der Vorstoß wichtig: Er macht ein Angebot zur Güte; es wird zur Nagelprobe kommen, was ein „Ehrenprimat“ heute heißen kann, und es wird für die Unierten wichtig sein, ihre Zugehörigkeit zur nicht nur „römisch“-katholischen Kirche zu betonen. Aus der Studie des Einheitsdikasteriums erwächst die Aufgabe, einen Konkretisierungsvorschlag sowohl für die Fokussierung der Jurisdiktion zu machen als auch zur ökumenischen Weitung der „Unfehlbarkeit“, die dem Zweiten Vatikanischen Konzil zufolge, mit Berufung auf das Johannesevangelium, die Verheißung für die Gemeinschaft der Gläubigen ist, ohne dass eine Alternative zur Vollmacht des Papstes aufgebaut würde.

Katholisch-evangelische Perspektiven: Für den Protestantismus taugt der Vorschlag, an die Tradition der Patriarchate anzuknüpfen, allerdings wenig. Sie ist ihm fremd. Er tut sich schon mit dem Dienst des Petrus, mit dem Amt des Bischofs und dem Konzept einer sichtbaren Einheit, die auch personal repräsentiert wird, traditionell schwerer als die Orthodoxie, wiewohl die protestantische Pluralität groß ist und einzelne ökumenische Dialoge zeigen, dass von evangelischer Seite nicht von vornherein alle Türen zugeschlagen sind.

Aus katholischer Sicht ist zu wünschen, dass die evangelische Theologie nicht auf der These einer ekklesiologischen Fundamentaldifferenz beharrt, um sich weiteren Dialogen über den Petrusdienst zu entziehen, sondern dass sie sich öffentlich Rechenschaft darüber ablegt, inwieweit die aus der Reformationszeit, der Konfessionalisierung und dem Kulturkampf stammenden Abgrenzungen gegenüber dem Papalismus heute noch leitend sind. In seinen besten Momenten kann der Papst der Sprecher nicht nur der katholischen Kirche, sondern der ganzen Christenheit, ja sogar aller friedliebenden Religionen und der vernünftigen Menschheit sein. Auch für die evangelischen Kirchen ist diese Stimme wichtig.

Desto mehr kommt es darauf an, dass die katholische Kirche nicht nur einlädt, sich mit dem Papsttum zu befassen, sondern auch Auskunft gibt, wie sie – mit dem Papst – auf die Evangelischen zugeht. Müsste sie nicht Vollmitglied im Ökumenischen Rat der Kirchen werden? Ist es nicht an der Zeit, die spezifische Kirchlichkeit der evangelischen Gemeinschaften anzuerkennen? Worte sind wichtig, Bilder wie jenes 2016, da Papst Franziskus und die Bischöfin Antje Jackelén, beide in derselben liturgischen Kleidung, einander beim Gottesdienst in Lund umarmen, sagen mehr. Am Ende zählen Zusagen und Vereinbarungen: Die Begrenzung des Jurisdiktionsprimats und die Öffnung der Unfehlbarkeit für das Zeugnis des ganzen Volkes Gottes, das größer ist als die katholische Kirche, weisen die Richtung.

Synodale Katholizität: Ökumenisch hoch bedeutend sind die Verschränkungen von Primat und Synodalität. Sie greifen eine dynamische Entwicklung der katholischen Kirche auf, die, so Papst Franziskus, eine „synodale Kirche“ sei: einschließlich des Bischofs von Rom und der anderen Bischöfe. Sowohl die orthodoxen als auch die evangelischen Kirchen kennen Synoden. Die katholische Kirche hat nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil Bischofssynoden eingerichtet, die auf kontinentaler und globaler Ebene regelmäßig zusammenkommen, um den Papst zu beraten. Bei der gegenwärtigen Weltsynode über Synodalität hat der Papst aber erstmals in nennenswerter Zahl Mitglieder mit Sitz und Stimme berufen, die nicht Bischöfe sind, darunter über 50 Frauen aus der ganzen Welt. Dies ist ein Zeichen, wohin der Weg in die Zukunft führt.

Kein Widerspruch

Dass Primat und Synodalität kein Widerspruch sind, sondern einander wechselseitig bedingen, ist eine Frucht des Dialoges mit der Orthodoxie. Sie ist auch für die evangelisch-katholischen Beziehungen gut. Zum einen ist Synodalität die ekklesiologische Metatheorie hinter der Schrift-Theologie und der Traditions-Hermeneutik des Studiendokumentes: Die Kirche deutet die Bibel, indem sie sich an ihrem Zeugnis messen lässt; sie bildet Tradition und schreibt sie fort. Dies macht sie ökumenisch, so das Versprechen. Zum anderen führt sie aus einem Kirchenmodell heraus, das an die Monarchie angelehnt ist. Der Bischof von Rom nimmt seinen Dienst so wahr, dass er nicht an der Spitze einer Entscheidungspyramide sitzt, sondern im Boot beim Knüpfen des Fischernetzes, das zur Mission ausgeworfen wird.

Das Studiendokument zeigt im biblischen Part die Schwächen des Petrus deutlich auf: sein Schwanken, sein Versagen, seinen Willen zu herrschen, sogar über Jesus. In der weiteren Entwicklung des Gedankens fällt dieser Aspekt aber aus, vom Eingeständnis machtbesessener Renaissance-Päpste abgesehen. Joseph Ratzinger hat in einem Aufsatz geschrieben, die Verleugnung Christi durch Petrus nehme das massive Versagen der Amtsträger vorweg, Jesus aber halte an seinem Jünger und auch an dessen Dienst fest (Zur Gemeinschaft berufen, Freiburg 1991,56–57): „Er, der von Gott her Felsgrund sein darf, ist vom Eigenen her ein Stein auf dem Weg, der den Fuß zum Stolpern bringen will.“ In einer schriftgemäßen, ökumenisch aufgeschlossenen Theologie des Petrusdienstes müsste diese Spannung in Energie verwandelt werden: nicht nur zur Bestätigung des Petrusdienstes, sondern auch für seine Praxis im Wissen um die Versuchung der Macht. Markante Synodalität ist ein Weg. Sie muss ökumenisch geprüft und geöffnet sein. 

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