Freie Liebe

Randalus Lieder ohne Worte

Sind Lieder ohne Worte noch Lieder? Es ist gar nicht lange her, da hat der Hornist Felix Klieser mit seiner schmelzschönen CD „Beyond words“ (2021) auf betörende Art und Weise den Beweis geliefert, dass Worte hinter den Melodien verschwinden können und die Melodien ihre Geschichten auch ohne Worte schwebend weiterzugeben vermögen. Gleiches tut nun der estnische Pianist Kristjan Randalu mit der Einspielung von Robert Schumanns Dichterliebe opus 48. Dabei geht er sogar noch einen Schritt weiter. Er verzichtet bei der Neuaufnahme des Zyklus nicht nur auf den Text – allein die beibehaltenen Titel lassen noch die dahinter verborgenen Geschichten erahnen –, er legt sich auch mit der Musik an. Und das tut er auf (mich) höchst ansprechende Art und Weise. 

Keine Sorge: Kristjan Randalu ist weder Dekonstruktivist, noch weiß er es irgendwie besser, stutzt Schumann zurecht oder begegnet der Romantik mit vermeintlich aufgeklärter neuneuzeitlicher Brechung. Nein. Er duelliert sich nicht mit Schumann, er spielt mit ihm auf respektvollste Art und Weise, ohne je übergriffig zu werden. So gerät unter den Fingern Kristjan Randalus Robert Schumanns inniges und verträumtes, trauriges und sehnendes Eintauchen in das von Heinrich Heine offen und gleichzeitig verborgen ausgemalte Seelenleben zu einer Begegnung mit der musikalischen Essenz, mit dem wortlos klar klingenden Urgrund des Gefühls, das jedem dieser sechzehn Szenen, monolithisch aufleuchtend, zugrunde liegt. Manchmal scheinen Schumann und Randalu restlos zu verschmelzen, oft passt nichts zwischen beide außer ein Hauch, ein changierender Duft. 

Manchmal aber fließt Randalus Spiel auch aus einer Sequenz in ein neu sich öffnendes Bett und folgt seiner eigenen Form, keiner vorformulierten Idee, keinem Wort, keiner Silbe verpflichtet … dann werden die Ohren augenblicklich größer, die Sinne folgen dem geschmeidigen Wanderer über die Tasten in ein Land, das ohne Namen, aber voller Klang ist – und von dort geht es insgeheim wieder nach Hause, unmerklich geführt entlang dem sinnvollen Titelgerüst des Schumannschen Originals. Das ist ein Schmecken und Schluchzen und Schlendern. Das ist ein Ruhen und Rasen und Rauschen. Wunderbar in die Zeit gefallen und ihr gleichzeitig entfremdet – aber nur so weit, wie das Rettungsseil reicht.

Kristjan Randalu gelingt dies, weil er alle tief den Jazz atmende Improvisation mit einem ungeheuer gelassenen Puls verbindet, der aller Spannung auch immer so viel Entspannung beimischt wie nötig. Damit beschenkt er alles mit einer tiefen inneren Freiheit, die Heines Worte bei aller lebendigen Schönheit zu atmen kaum imstande sind. So macht sich diese Dichterliebe auf der Wurzel Schumannscher romantischer Innerlichkeit auf ins Offene und bekennt sich mit der neu daraus erwachsenen Sehnsucht zu ihrer Zeit, in aller Verbundenheit und Ferne.

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