Außengrenzen der Menschenwürde

Gespräch mit dem EKD-Flüchtlingsbeauftragten Christian Stäblein über das Recht auf Asyl in Europa, Flucht und Migration in der Bibel und das Kirchenasyl
Eingang zum Flüchtlingslager Lipa in Bihać: Die Unterkunft befindet sich in Bosnien, unweit der Grenze des EU-Landes Kroatien. Nur über unbefestigte Feldwege ist es in 750 Metern Höhe erreichbar.
Foto: EKD
Eingang zum Flüchtlingslager Lipa in Bihać: Die Unterkunft befindet sich in Bosnien, unweit der Grenze des EU-Landes Kroatien. Nur über unbefestigte Feldwege ist es in 750 Metern Höhe erreichbar.

zeitzeichen: Herr Bischof Stäblein, Sie sind nicht nur Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, sondern auch EKD-Beauftragter für Flüchtlingsfragen. In dieser Funktion sind Sie vor Kurzem entlang der Balkanroute gereist und haben zwischen Sarajewo und Zagreb die Flüchtlingslager Lipa und Ušivak an den EU-Außengrenzen besucht, mit Betroffenen gesprochen und Hilfsorganisationen besucht. Welche Erkenntnisse haben Sie dort gewonnen?

CHRISTIAN STÄBLEIN: Zunächst den großen Schrecken, den man an der Grenze und in dem Lager für die Flüchtlinge in Bihać an der Grenze zu Kroatien erlebt. Die Menschen dort und auch die Freiwilligen erzählen, wie furchtbar die illegalen Pushbacks tatsächlich angewendet werden. Nicht nur, dass Handys und alles Hab und Gut der Geflüchteten, nachdem sie aufgegriffen werden, an der Grenze zerstört werden. Sie berichten auch von körperlicher Gewalt, dem Brechen von Armen und Beinen, bis dahin, dass Kinder bedroht werden, damit sich die Eltern wieder zurückbewegen. Es haben mir alle bestätigt, dass in diesen Wäldern der Balkanroute Flüchtlinge liegen, die das nicht überlebt haben.

Und eine zweite Erkenntnis?

CHRISTIAN STÄBLEIN: Ich habe zwei Flüchtlingscamps besucht, bei Bihać und in Sarajevo. Und es gibt viele Helferinnen und Helfer in den Flüchtlingscamps, die dort wirklich viel tun, um trotz aller dieser Umstände die Menschenwürde zu wahren. Frei­willige aus Holland, aus Italien, die über die Internationale Organisation für Migration (IOM) der Vereinten Nationen organisiert sind. Und ich habe ein starkes Kirchennetzwerk baptistischer Kirchen wahrgenommen sowie auch das Rote Kreuz. Das versorgt Menschen außerhalb der Lager in den Wäldern mit Essen und Getränken. Eine weitere gewonnene Einsicht ist die für Europa komplexe Situation und dass es wirklich keinen Sinn macht, Kroatien allein ver­antwortlich zu machen oder gar zu beschimpfen.

Was ist stattdessen nötig?

CHRISTIAN STÄBLEIN: Den Kroaten an der Grenze geht es ähnlich wie den Italienern. Denn wir brauchen eine europäische Lösung. Gerade die Länder mit viel Arbeitsmigration und wenig Geld spüren, dass von den Menschen, die auf der Flüchtlingsroute bei ihnen vorbeikommen, ohnehin keiner bleibt. Sie sind im Grunde eine Durchgangsstation und werden mit der Hilfe weitgehend alleingelassen. Es harrt wirklich nach einer europäischen Lösung, die nicht mit dem Fingerzeig auf diese Länder beschlossen werden kann.

Die Pushback-Situationen an den Grenzen sind furchtbar. Gleichzeitig plakatiert DIE LINKE für den Europa­wahlkampf „Wer fliehen muss, muss Schutz finden“. Das leuchtet ein. Dem werden Sie zustimmen, trotz der Diskussionen, die sich daraus ergeben?

CHRISTIAN STÄBLEIN: Genau. Eine sichere Fluchtroute erweckt in diesen Diskussionen immer die Sorge, dass mehr Menschen kommen. Auf der anderen Seite ist die derzeitige Situation keine Alternative, weil sie Recht bricht und viel Leid produziert. Es ist eben eine Illusion, man könne Menschen durch eine europäische Festung abwehren und steuern. Mit dieser Illusion leben wir jetzt lange, sie ist immer wieder auf Kosten der Menschenwürde der Flüchtlinge gegangen. Deshalb sollten wir wenigstens auf der Route für Sicherheit sorgen. Eine politische Lösung muss auf anderem Weg gefunden werden. Wie zum Beispiel über die Unterstützung der Länder, aus denen die Menschen aufbrechen. Also über eine Veränderung der Situation in den Ausgangsländern, aber auch über eine Veränderung des Verteilungs­schlüssels in der EU. Es gibt so viele Länder in Europa, die Arbeitskräfte brauchen, die viel mehr als wir in Deutschland unter einem Arbeitskräfte- und Fachkräfte­mangel leiden. Die Länder, die sich Zuzug nicht leisten können, hoffen, dass alle Flüchtlinge vorbeiziehen. Und in den anderen Ländern heißt es, es ist zu viel. Die Leidtragenden sind in jedem Fall die Menschen.

Aber die Realität des europäischen Asyl­systems sieht doch eher so aus, dass wir denen helfen, die es über die Grenze schaffen, egal ob sie triftige Gründe haben oder nicht. Wir helfen nicht denen, die es nicht schaffen, Europa zu erreichen.

CHRISTIAN STÄBLEIN: Wir sollten nicht Not gegeneinander ausspielen. Natürlich gibt es Menschen, die nicht fliehen können. Doch wer an Europas Grenzen strandet oder gar stirbt, gehört auch zu den allerschlimmsten Leidtragenden. Das ist wie bei der Seenotrettung, sie ist unsere Pflicht. Aber schlimm genug, dass wir im Grunde an dieser Stelle nicht genau hinschauen. Das muss man ehrlich zugeben. Man muss sich das vergegenwärtigen, die Menschen versuchen mitunter 20 bis 25 mal, die Grenze zu überqueren, wie mir Volunteers berichteten. Aus meiner Sicht müssen wir Sorge tragen, dass niemand an unseren Grenzen stirbt oder Gewalt erleidet und alle ein faires Verfahren auf die Prüfung von Asyl bekommen.

Nun hat das englische Parlament Ende April ein Gesetz verabschiedet, das Abschiebungen von irregulär eingereisten Asylsuchenden aus Großbritannien nach Ruanda erzwingen soll. Der UK-Ruanda-Deal sieht vor, dass die Geflüchteten nach Ruanda ausgeflogen und ihr Asylantrag dort geprüft werden soll. Eine Rückkehr nach Großbritannien soll auch bei positiver Asylentscheidung ausgeschlossen sein.

CHRISTIAN STÄBLEIN: Was das englische Parlament jetzt ver­abschiedet hat, ist grausig. Dieses ist eine Situation, die sowohl das Individualrecht auf Asyl als auch faktisch eine menschenwürdige Behandlung dieser Menschen beendet.

Warum ist die Auslagerung an die EU-Außengrenzen kein gutes Verfahren?

CHRISTIAN STÄBLEIN: Bis zum Beweis des Gegenteils müssen wir davon ausgehen, dass diese Auslagerung der Prüfung und Anerkennung vor die Grenzen Europas eine ist, die rechtlich nicht funktionieren wird. Es gibt genug Beispiele. Denn das sind ja alles keine neuen Ideen, und es gelingt in der Regel nicht, hier einen Rechtsstatus herzustellen, der tatsächlich das gleiche faire Anerkennungsverfahren durchführt. Noch dazu werden Lager mit haftähnlichen Bedingungen geschaffen. Wir erleben doch in Griechenland, zu welchem Elend, welcher Rechtlosigkeit solche Lager führen – sogar innerhalb der EU. Das lässt sich aus meiner Sicht nicht mit unseren europäischen und christ­lichen Werten vereinbaren. Diese Lager sind eine Schande für Europa.

Der Migrationsforscher Ruud Koopmans sagt, das europäische Asylsystem gleiche einer Lotterie um Leben und Tod, um Freiheit und Unterdrückung, bei der die Gewinnchancen ungleich verteilt sind. Klar im Vorteil sei, wer jung, männlich, gesund ist und über ausreichend finanzielle Mittel verfügt. De facto entscheide nicht das Asylrecht über Aufnahme und Zurückweisung, sondern der Schlepper.

CHRISTIAN STÄBLEIN: Wir müssen über das Bestehende hinaus gute neue Ideen entwickeln. Wie zum Beispiel das Programm „Neustart im Team“ (NesT), das wir gemeinsam mit dem Bundesinnenministerium durchführen. Dabei geht es seit 2023 um ein reguläres Aufnahmeprogramm für besonders vulnerable Personen, die aus ihren Ländern fliehen müssen und schon zuvor in Kontakt mit uns kommen und ausgesucht werden. Frauen und Kinder können auf diese Weise ihre Heimatländer verlassen und sich in einem so genannten Resettlement hier neu ansiedeln und im Team neu starten. Bei einem Besuch in Witten habe ich das Projekt kennengelernt. Diese ehrenamtliche Arbeit in unseren Kirchengemeinden erfordert viel Kraft, bei der aber gleichzeitig Menschen an den Routen vorbei, in Sicherheit zu uns kommen. Es ist eine kleine Zahl bisher, und nicht leicht zu praktizieren, aber es antwortet genau auf das, was Sie zu Recht benennen. „Natürlich“ sind es vor allem junge Männer, denen man in den Lagern begegnet. Oft werden sie auf die Flucht geschickt, weil sie die besten Chancen haben durch­zukommen, vielleicht Unterstützung nach Hause zu schicken.

„Neustart im Team“ ist praktisch eine Kontingentierung im Kleinen, wie man sie eigentlich in politischen Forderungen jetzt schon versucht umzusetzen?

CHRISTIAN STÄBLEIN: So ist es. Die Kontingentvorschläge aus den
konservativen Kreisen sind ja im Grunde kein falscher Gedanke, um, wie Sie es eben beschrieben haben, diese „Lotterie“ oder dieses „survival of the fittest“ zu beenden und tatsächlich den Menschen zu helfen, denen geholfen werden muss. Die Schwierigkeit beginnt dort, wo das Individualrecht auf Asyl abgeschafft wird und das Kontingent voll sein soll. Es ist eine Illusion, dass das diesen Wettlauf beenden würde. Deswegen sind die Forderungen nach einer sicheren Fluchtroute, nach Kontingentierung oder Benennung sicherer Herkunftsländer und vieles andere auch besser als das, was wir im Moment haben. Aber die Europäische Union will derzeit in eine andere Richtung.

Das individuelle Recht auf Asyl ist gebunden an das Grundgesetz. Trotzdem wird es in diesen Zeiten auch in Frage gestellt. Warum finden Sie dieses im Grundgesetz niedergelegte individuelle Asylrecht unaufgebbar?

CHRISTIAN STÄBLEIN: Weil es ein tiefer Ausdruck unserer Humanität und unseres Glaubens ist, ein solches Recht zu haben und zu bewahren. Wenn ich das biblische Zeugnis anschaue, sehe ich die tiefe Verankerung von Asyl und Flucht, die zu diesem Leben dazugehören. Oder ein bisschen zugespitzter: Sehr wahrscheinlich sind diese Rechtskomplexe, die sich mit dem Schutz des Fremden/der Fremden in der Bibel beschäftigen, älter als die zehn Gebote, sie gehören zum ältesten Gebotsbestand mit dazu. „Du sollst den Fremdling schützen“, „Du sollst für ihn da sein“, „Am heiligen Ort gibt es das Recht, einen Bannraum, in dem Sicherheit herrscht“ und, und, und. Warum kommt es in der Bibel vor? Weil es kein Zufall ist, sondern weil es im ersten und im zweiten Testament zum Urbestand der Identitätsbildung dazugehört. Das berühmte so genannte alttestamentliche Credo beginnt mit dem Satz „Dein Vater war ein umherziehender Aramäer.“ Hier gibt es in den ältesten Glaubensbeständen die Situation der Migration, des Fremdseins, des Fliehens, des Auf-dem-Weg-Seins grundgelegt als konstitutives Element der Erfahrung dieses Gottes. Es sind bekannte Sätze, die ich da zitiere. So auch das Lieblingswort mindestens der Generation vor mir, was Taufsprüche anging: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.“ Der 23. Psalm ist ein Wort für Menschen auf dem Weg, beim Weidewechsel. Weil sie nicht an einer Stelle wirtschaftliches Auskommen hatten, sondern alle halbe Jahre woanders hinziehen mussten.

Migration ist also eine zutiefst menschliche Erfahrung in der Bibel?

CHRISTIAN STÄBLEIN: Ja, so ist es. Und das tiefe Tal – „ob ich wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück“ – ist ein Migrationsweg, der an dieser Stelle beschrieben wird. Das können wir für das zweite, das Neue Testament so wiederholen. Das findet sich auch dort wieder. Wie zum Beispiel die Fluchtgeschichte um die Geburt Jesu herum und alles, was dazugehört, ist Urbestand unseres Glaubens. Es ist gut, wenn wir das auch in unserer Rechtsnorm bewahren können.

Das eine ist das biblische Zeugnis, das andere sind gesellschaftliche Funktionalitäten. So sagte der EKD-Beauftragte für die Evangelische Seelsorge in der Bundespolizei Karl-Hinrich Manzke kürzlich gegenüber zeitzeichen, dass die Forderung nach dem Ende des Sterbens im Mittelmeer nur wirklich Kraft habe, wenn sie zugleich verbunden sei mit der Aussage, dass es eine politische Lösung brauche, um die ungeregelte Zuwanderung zu stoppen. Das eine soll nicht ohne das andere gesagt werden, sonst wäre es unterkomplex. Stimmen Sie dem zu?

CHRISTIAN STÄBLEIN: Erstens bedeutet die christliche Stimme immer einen unbedingten Hinweis auf die Menschenwürde und die Würde vor Gott und von Gott. Zweitens sind wir als Menschen auch in diese Welt gestellt. Und wir kennen als Protestanten sehr wohl die verschiedenen Mandate oder „Reiche“ – weltlich und geistlich –, in denen wir unsere Aufgaben zu erledigen haben. Es ist immer ein Spagat. Trotzdem oder gerade deshalb: Wir brauchen die Seenotrettung, man lässt keinen Menschen ertrinken. Und wir brauchen gute Regelungen der Zuwanderung. Denn wir wissen um den Fach- und Arbeitskräftemangel in etlichen europäischen Ländern. Und wir haben gleichzeitig diese Migrationsbewegung. Das reine Rufen nach dem Ende der ungeregelten Zuwanderung bedeutet im Zweifelsfall, wieder auf den Festungsgedanken zuzugehen. Und mit dem sind wir schnell am Ende, weil er nicht funktioniert.

Nun hat die EU Ende April das Gemeinsame Asylrecht (GEAS) verabschiedet, das die Migration begrenzen und steuern soll. Wird sich dadurch die Situation verbessern?

CHRISTIAN STÄBLEIN: Zunächst hat ja die jüngste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung noch einmal gezeigt, dass es in der Bevölkerung eine hohe Akzeptanz für die ökumenische Arbeit der Kirchen für die Flüchtlingsarbeit gibt. Anders als Karl-Hinrich Manzke, der formuliert, dass wir als Kirchen kein Wächteramt mehr haben, betone ich diese unbedingte Stimme der Gewissenseinrede. Diese Stimme der Gesellschaft, die sehr wohl weiß, dass es immer auch eine Stimme des Gewissens gibt und braucht. Sie ist wichtig, auch wenn man nicht immer alles danach ausrichten kann. Die GEAS-Programme sind für uns alle, die sich in der Evangelischen Kirche für Geflüchtete einsetzen, problembehaftet. Die Auslagerung der Anerkennungsverfahren vor die Grenze, die Schaffung von Lagern, das Zwingen von unschuldigen Menschen – sogar Familien und Kindern –, über lange Zeit in diesen Lagern zu leben. Da sollten wir jetzt wenigstens in den nationalen Umsetzungsregelungen die verbleibenden Spielräume von Humanität nutzen. Das hat ja auch Außenministerin Annalena Baerbock deutlich angesprochen.

Allerdings steht die Bundesrepublik Deutschland mit diesen Forderungen in Europa ziemlich allein.

CHRISTIAN STÄBLEIN: Auf meiner Reise habe ich erfahren, dass diese deutsche Sonderrolle beim Finden euro­päischer Lösungen nicht immer hilfreich ist. Deshalb ist es ein wichti­ger Punkt, immer wieder auf eine gemeinsame Lösung zu drängen. Nicht einverstanden sind wir damit, dass europäische Lösungen oftmals bedeuten, die menschenrechtlichen Standards nach unten zu senken oder die Angelegenheiten vor die Grenzen zu verlagern. Aber dieser politische Realismus gehört dazu. Wir sind im Moment eher eine Ruferin, allein. Trotzdem dürfen wir diese Stimme als Kirchen nicht aufgeben.

Die auch von der EKD unterstützte Seenotrettung United4Rescue findet große Anerkennung. Wäre das Zeugnis nicht glaubwürdiger, wenn sie nicht nur ein Rettungsschiff im Mittelmeer unterstützte, sondern sich selbst auch an den Kosten beteiligte?

CHRISTIAN STÄBLEIN: Ich bin zunächst froh, dass wir diese zivile Seenot­rettung haben, von der United4Res­cue ein Baustein von vielen ist. Es ist ein sichtbares, mahnendes Zeichen, dass dieses Problem noch nicht gelöst ist. Wir haben das unbedingte Gebot, keinen Menschen ertrinken zu lassen. Für mich ist es zweitens ein Gewissens­zeichen, als Mahnung an die Gesellschaft. Und wenn man sich dann mit den Menschen intensiver unterhält, bekommt man Einblicke in die unmenschlichen Systeme anderer Länder wie Libyen. Sie schicken die Leute erst aufs Wasser, fangen sie wieder ab, um dafür EU-Gelder einzustreichen, um sie dann wieder loszuschicken. Das ist unmenschlich. Hier in meinem Büro hängt ein Rettungsring von der Sea-Eye 4, der mich bei jedem Gang mahnt. Dieser Rettungsring hat tatsächlich Menschenleben gerettet. Und das ist unsere erste Aufgabe, es sind Kinder Gottes. Alle sind am Ende Kinder Gottes.

Welche Rolle kann dabei das Kirchenasyl spielen?

CHRISTIAN STÄBLEIN: Wir haben in Deutschland in der Kooperation von Kirchen und Staat enorm viel erreicht. Es gab lange Zeit keine Akzeptanz gegenüber dem Kirchen­asyl mit der Begründung, das sei kein Recht sui generis in unserem Rechtsstaat. Aber das, was wir heute als Kirchen­asyl praktizieren, nämlich von uns aus sofort an die staatlichen Stellen melden, damit das Verfahren noch einmal überprüft wird, halte ich für einen guten, fairen Rechtsstand. Natürlich gibt es verschiedene Per­spektiven auf das Kirchenasyl. Aber die Erfolgsquote an der Stelle gibt uns Recht, weil in fast allen Fällen hinterher eine Anerkennung vor Gericht festgestellt wird. Es ist eine Praxis innerhalb unseres rechtsstaatlichen Systems und aus meiner Sicht die Erinnerung an das Land und die Gesellschaft, dass es immer einen Moment der Barmherzig­keit, des Gewissens und des noch­maligen Überprüfens geben muss.

Obwohl ein Großteil der Geflüchteten keine Chancen nach Artikel 16a hat, bleiben die meisten hier. Es gelingen kaum Abschiebungen. Würden Sie als EKD-Flüchtlingsbeauftragter sagen, das ist richtig?

CHRISTIAN STÄBLEIN: Legitim sind Abschiebungen generell selbstverständlich. Aber die Frage nach den Herkunftsländern ist ein wesentlicher Faktor. Der Fokus auf Abschiebungen hilft gar nichts für die Lösung der Aufgaben. Das stete Lenken darauf schafft nur eine schlechtere Stimmung gegenüber den Menschen. Mehr nicht.

Das Thema Migration ist das nächste Schwerpunktthema der EKD und der Synodaltagung im November. Was raten Sie der Synode aufgrund Ihrer Erfahrungen, die Sie in den vergangenen zwei Jahren gesammelt haben?

CHRISTIAN STÄBLEIN: Zunächst einmal freue ich mich darüber, dass die Synode sich das Thema zu eigen macht. Es ist eines der fundamentalen Themen, gesellschaftlich wie auch in unserem Glaubenszeugnis. Ich hoffe, dass es in der theologischen Frage ein vertiefendes Nachdenken und Reflektieren gibt. Wir brauchen diese theologische Grundlegung und Ver­gewisserung. Nur wer an dieser Stelle kräftig ist, kann auch die Stimme des Gewissens stark machen.

 

Das Gespräch führten Kathrin Jütte und Reinhard Mawick am 25. April in Berlin.

 

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Foto: Matthias Kaufmann

Christian Stäblein

Christian Stäblein ist seit No­vem­ber 2019 Bischof der Ev­an­gelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Ober­lausitz (EKBO). Seit April 2022 hat er das Amt des EKD-Flüchtlingsbeauftragten inne. Der 1967 im niedersächsischen Bad Pyrmont geborene Theologe, der in Göttingen, Berlin und Jerusalem studierte, promovierte am Lehrstuhl für Praktische Theologie der Universität Göttingen über das Thema „Überleben nach dem Holocaust“. Nach Stationen als Pfarrer und Leiter des Prediger­seminars Loccum wurde er 2014 zum Propst der EKBO gewählt.

Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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