„Die Kirche ist am Ende“

Und das sei ein Grund zur Hoffnung, sagt der Theologe und Buchautor Tilmann Haberer. Ein Gespräch über das Christsein von morgen und Initiativen, die es jetzt schon leben
Tilmann Haberer
Foto: privat

zeitzeichen: Herr Haberer, Ihr aktuelles Buch heißt „Kirche am Ende“ und soll ausdrücklich kein Programm zur Rettung der Kirche oder ein Reanimations­versuch sein. Warum so negativ?

TLMANN HABERER: Die Diagnose ist gestellt, denn die Symptome sind klar: Immer mehr Menschen treten aus der Kirche aus, die Kirchensteuer­einnahmen sinken, die Zahl der Theologiestudierenden geht radikal zurück. Ihre Zahl reicht nicht mehr aus, um die verbleibenden 50 Prozent der Pfarrstellen zu besetzen. Das bedeutet für eine durch Kirchensteuern finanzierte und noch immer auf Pfarrer:innen zentrierte Kirche: Die Kirche, wie wir sie heute kennen, ist am Ende, so oder so.

Ein düsteres Szenario …

TLMANN HABERER: Nein, ein Grund zu Hoffnung. Denn ich unterscheide zwischen dem großen Tanker Kirche, der sich kaum noch umsteuern lässt und bald auf Grund laufen wird, und dem Christsein der Zukunft, das schon jetzt in vielen Initiativen im Vorgarten der Kirche oder außerhalb der kirch­lichen Welt sichtbar wird. Es sind viele kleine unterschiedliche Rettungsboote unterwegs, die die Gestrandeten aufnehmen können.

Diese Boote werden aber in Ihrer Vision nicht mehr über die Kirchensteuer finanziert.

TLMANN HABERER: Nein, die meisten solcher Projekte entwickeln sich jetzt schon außerhalb der kirchlichen Strukturen und finanzieren sich anders, etwa über Spenden, Drittmittel oder den Betrieb eines professionell geführten Cafés. Die Kirchensteuer gewährt den Gemeinden ja eine große Freiheit, sie müssen nicht auf die Zahlen schauen und können sich dennoch auf ein fest planbares Budget verlassen. Aber das bedeutet auch: Das Geld fließt, auch wenn nur drei Personen im Gottesdienst sitzen und die Gemeinde vor sich hindümpelt. Es gibt keinen Druck, irgendetwas zu verändern. Pfarrpersonen bekommen ein stattliches Gehalt von Menschen, die sie mit ihrem Angebot größtenteils gar nicht erreichen. Das ist nur schwer zu vermitteln.

Im Christentum von morgen gibt es auch kein verbeamtetes Personal mehr. Wer soll die Gemeinde dann leiten?

TLMANN HABERER: Es werden schon noch Hauptamtliche in den Gemeinden Dienst tun. Das werden aber nicht alles ordinierte Pfarrerinnen und Pfarrer sein. Schon jetzt werden ja Pfarrstellen berufsübergreifend ausgeschrieben, darauf können sich auch Diakone und Sozialarbeiterinnen bewerben. Was ich aber vor allem beschreibe, sind kleine Initiativen und Gruppen, die sich mit oder ohne Pfarrpersonen zusammentun. Wenn sie dabei sind, sind sie nicht unbedingt die Manager der Gruppe, sondern Mitglieder, die mitmachen.

Und das Ganze findet dann auch nicht mehr in Kirchen statt, denn das Christentum von morgen besitzt keine Immobilien. Was haben Sie gegen schöne Kirchen?

TLMANN HABERER: Gar nichts, sie sollen weiter bestehen bleiben und genutzt werden, aber man muss sie ja nicht besitzen und viel Geld für den Unterhalt ausgeben. Die Initiativen, die ich beschreibe, mieten Räume an. Oder sie stellen eine Jurte auf oder einen Bauwagen und führen dort die Menschen zusammen. Um Gemeinschaft zu stiften, braucht es keine großartigen Kirchengebäude.

Sie beschreiben in Ihrem Buch ein Beispiel einer solchen Einrichtung, eine Art Quartierswohnzimmer mit gutem Kaffee, Tee und gesunden Snacks, dazu gehören ein interreligiöser Raum der Stille und eine niederschwellige Beratungsstelle für die unterschiedlichsten Problemstellungen, die die Menschen mitbringen. Wo gibt es denn so etwas?

TLMANN HABERER: In dieser Form bislang an keinem Ort, das ist eine Vision, die wir mal für die „Münchner Insel“ entwickelt haben, die Einrichtung, in der ich zuletzt gearbeitet habe. Aber einzelne Elemente davon finden Sie an vielen Orten, etwa am Hauptbahnhof in Zürich: der interreligiöse Gebetsraum. Das Café mit Kapelle und Beratungsmöglichkeiten in der Hamburger HafenCity. Und die niederschwellige Beratungsstelle etwa bei uns in München. Es gibt alles, man muss es nur noch zusammendenken.

Welche Rolle spielen die Theolog:innen noch in einer solchen Einrichtung?

TLMANN HABERER: Sie werden un­bedingt gebraucht als Hüterinnen und Hüter der Tradition und als theologische Fachleute. In den Gemeinden heutzutage müssen sie ja alles Mögliche tun, für das sie nicht ausgebildet sind. Wenn es gelingen würde, die theologische und seel­sorgerliche Expertise der Theolog:innen wieder in den Mittelpunkt zu stellen und sie von den Managementaufgaben zu entlasten, bliebe immer noch genug Arbeit.

Allerdings würden sie diese nicht mehr als verbeamtete Pfarrer verrichten, oder?

TLMANN HABERER: Eher nicht. Vielleicht hätten sie einen Hauptjob, mit dem sie ihre Existenz sichern können, und würden in der Einrichtung ein Nebeneinkommen erzielen. Oder die Pfarrperson teilt sich eine Stelle mit einer Geschäftsführerin oder einem Sozialarbeiter. Das müsste am Ende die Einrichtung selber entscheiden.

Ihre Vorstellungen erinnern an missio­narische Projekte aus dem evangelikalen Bereich, die in der Form oft sehr modern daherkommen, aber häufig eine sehr konservative und enge theologische Richtung vertreten. Welche Inhalte werden im Christentum der Zukunft verkündet?

TLMANN HABERER: Ich war freudig überrascht, dass in vielen dieser Initiativen eine post-evangelikale Theologie vertreten wird. Das bedeutet, die Menschen dort stammen oft aus evangelikalen und freikirchlichen Gemeinden, aus denen sie eine Verbindlichkeit und eine Liebe zu Jesus und den Menschen mitbringen. Gleichzeitig haben sie aber ihren Glauben dekonstruiert. Daraus entsteht häufig eine sehr erfrischende Theologie.

Was bedeutet Dekonstruktion in diesem Zusammenhang? Welche theologischen Konstrukte lassen die Menschen hinter sich?

TLMANN HABERER: Viele Menschen, denen ich in solchen Projekten begegne, haben ihr Gottesbild ent­wickelt weg vom patriarchalen Gott, der im Jenseits sitzt und von dort aus regiert, hin zu einem nicht theistischen Gott. Sie sehen Gott als die Tiefe und das Geheimnis der Welt, haben eher ein panentheistisches Gottesbild. Zudem ist die Sühnetod-Theologie für viele Anlass zur Dekonstruktion, also die Idee, dass Jesus für unsere Sünden am Kreuz sterben musste. Und auch die Ablehnung von Sexualität jenseits der Heteronormativität auch in vielen neueren Freikirchen lässt viele den dort verkündeten Glauben hinterfragen.

Wie würde in den Initiativen des Christseins von morgen die sexualisierte Gewalt verhindert, wie sie uns jetzt etwa die ForuM-Studie vor Augen führt?

TLMANN HABERER: Es gibt dort nicht diese Machtstrukturen, die in der Kirche den Missbrauch begünstigt haben. Das Amt des evangelischen Pfarrers kombiniert ja eine gewisse Machtposition mit einer Vertrauensstellung. Es entsteht Nähe, und es ist eine schwierige Balance, die Nähe und die gebotene Distanz in Einklang zu bringen. Weniger Macht allein würde diese Balance nicht automatisch herstellen, das wissen Therapeutinnen und Seelsorger im weitesten Sinne. Aber es würde es vielleicht etwas leichter handhabbar machen.

In Ihrem Buch beschrieben Sie eine Fülle von Projekten, in denen das Christsein von morgen sichtbar wird. Welches davon ist Ihr liebstes?

TLMANN HABERER: Da fällt mir die Wahl natürlich schwer, aber wenn ich eines als primus inter pares herausgreifen soll, wäre es Polylux in Neubrandenburg. Das ist eine Gemeinschaft, die mit Menschen zusammenleben will, denen es nicht so gut geht. Sie haben Wohnungen in einer Plattenbausiedlung, in einem sozialen Brennpunkt, gemietet und leben dort. Sie sind nicht mit einem klassisch missionarischen Ansatz hingezogen, also mit der Vorstellung, unbedingt von Jesus zu erzählen, sondern wollten erst einmal zuhören. Dahinter steckt der Grundsatz: Gott ist schon längst da, bevor wir hinkommen. Die Erfahrungen und Bedürfnisse der Menschen wurden ernst genommen, und daraus entstand eine Sozialarbeit, die jetzt auch schon wieder Nachahmer gefunden hat, beispielsweise in Iserlohn.

Ist das der entscheidende Perspektiv­wechsel, den das Christentum von morgen braucht? Weg von der Frage, wie bekommen wir unsere Inhalte an die Leute, hin zur Frage, was benötigen die Menschen an diesem Ort konkret?

TLMANN HABERER: Die Frage danach, was unser Auftrag als Christenmenschen ist und was wir zu sagen haben, die fällt nicht einfach weg. Aber es ist der zweite Schritt. Der erste muss sein, mit den Menschen gemeinsam zu leben, und dann zeigt sich, was notwendig ist. Die Menschen in den Initiativen, die ich beschreibe, arbeiten aus einer christlichen Überzeugung heraus und pflegen untereinander ihre geistliche Gemeinschaft. Gottesdienste, Gebete und das Nachdenken über Bibelworte sind Kraftquellen der Arbeit, aber sie stehen nicht im Zentrum. Das hat etwas von Arkandisziplin …

Ein Begriff, den sie von Dietrich Bonhoeffer übernommen haben.

TLMANN HABERER: Ja, aus seinen letzten Briefen aus Tegel. Bonhoeffer meint, wir haben als Kirche so viel Schuld auf uns geladen, dass wir den Menschen nicht mehr sagen können, wie sie zu leben und zu handeln haben. Wir sollten stattdessen unseren Glauben für uns feiern und leben und dann nach draußen gehen als Kirche für andere. Wenn wir danach gefragt werden, geben wir Auskunft über unsere Motivation und unseren Glauben, aber wir drängen ihn niemandem auf.

 

Das Gespräch führte Stephan Kosch am 22. März auf der Leipziger Buchmesse.

 

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Tilmann Haberer

Tilmann Haberer (geb. 1955) ist evangelischer Pfarrer i. R., Gestaltseelsorger und systemischer Berater. Nach langjähriger Tätigkeit als Gemeindepfarrer in einer Münchner Citykirche war er sieben Jahre lang freiberuflicher Seelsorger, Journalist, Übersetzer und Autor. Von 2006 bis 2021 war er evangelischer Leiter der ökumenischen Krisen- und Lebensberatungsstelle „Münchner Insel“.

Foto: Rolf Zöllner

Stephan Kosch

Stephan Kosch ist Redakteur der "zeitzeichen" und beobachtet intensiv alle Themen des nachhaltigen Wirtschaftens. Zudem ist er zuständig für den Online-Auftritt und die Social-Media-Angebote von "zeitzeichen". 


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