Der Spielverderber
Robert F. Kennedy Jr. hat keine Chance auf einen Sieg bei den US-Präsidentschaftswahlen. Aber als unabhängiger Kandidat bringt er das Rennen durcheinander. Denn Amerika bleibt dem Kennedy-Mythos treu, meint der US-Korrespondent Andreas Mink.
Robert F. Kennedy Jr. strahlt Zuversicht aus. Laut einer aktuellen Umfrage erwägt ein Drittel der US-Amerikaner, ihn als unabhängigen Kandidaten bei den Präsidentschaftswahlen im November zu unterstützen. Und mit Sympathiewerten um die 50 Prozent rangiert der Sohn von Robert F. Kennedy und Neffe von Ex- Präsident John F. Kennedy deutlich vor Joe Biden oder Donald Trump mit jeweils 40 Prozent. Mit diesen guten Werten im Rücken ruft RFK Jr. via Emails zu Wahlspenden auf und behauptet, einen „klaren Weg“ ins Weiße Haus zu haben. Die These ist freilich steil. Denn im Schnitt sind laut Demografen nur zehn Prozent des Wahlvolks entschlossen, wirklich für ihn zu stimmen. Aber allein das macht ihn bereits zum großen Spielverderber dieser Präsidentschaftswahlen. Denn RFK Jr. ist für beide Kandidaten gefährlich, und es bleibt völlig unklar, ob der Spross eines legendären Klans von Demokraten Biden oder Trump die Stimmen für einen Sieg abjagen wird.
Kennedy profitiert von dem Frust breiter Schichten über beide Parteien. Auch wenn er selbst schon 70 ist, wirkt der braun gebrannte Bodybuilder deutlich fitter als die greisen Konkurrenten. Mit der 38-jährigen Juristin und Philanthropin Nicole Shanahan hat Kennedy zudem Ende März eine junge Vize-Kandidatin auserkoren. Das neue Team bietet sich als Alternative zum „Duopol“ von Demokraten und Republikanern an, die gleichermaßen nur Schergen mächtiger Wirtschaftsinteressen seien. Dass Shanahan als Ex-Gattin des Google-Co-Gründers Sergey Brin über ein stattliches Vermögen verfügt, kommt RFK Jr. indes gelegen. Denn Shanahan hat ihn bereits mit vier Millionen US-Dollar an Spenden unterstützt. Obendrein teilt sie als Anhängerin von New-Age-Lehren dessen Überzeugungen – auch bei der Agitation gegen Impfstoffe.
Impfstoffe als Obsession
Hier haut Kennedy kräftig auf die Pauke. Er verkauft die Covid-Pandemie in einem Bestseller als Werk einer Verschwörung von Politikern, der Pharmaindustrie und Schurken wie Bill Gates: Damit seien Billionen US-Dollar einer Handvoll Superreichen zugeschanzt worden. Vakzine sind eine Obsession von RFK Jr. Seit der Jahrtausendwende propagiert er dazu Lügenmärchen: Impfstoffe und Chemikalien im Trinkwasser trieben Amerikas Jugend in den Autismus, machten Kids zu Hermaphroditen, führten zu Krebs und zerstörten die Immunkräfte. Dabei greift RFK Jr. auch zu Nazi-Vergleichen. Die Covid-Lockdowns in Amerika Anfang 2022 hat er als „schlimmer als die Zustände in Hitler-Deutschland“ bezeichnet. Im „Dritten Reich“ hätte man sich über die Alpen in die Schweiz retten oder wie Anne Frank verstecken können. Heute gäbe es in Amerika kein Entrinnen vor dem Staat. Doch auch wenn seine Stimme von einer spasmodischen Dysphonie, einem Stimmritzenkrampf, gestört wird, hat RFK Jr. auch zur Außenpolitik viel zu sagen. So sieht er die amerikanische Unterstützung für die Ukraine nach dem russischen Überfall als Tragödie. Die Blüte der ukrainischen Jugend werde für die Interessen von Eliten in Washington geopfert, die Russland angeblich zerstören wollen. Vor allem diese Aussage würde seinen Onkel im Grab rotieren lassen. Schließlich schwor JFK 1961 bei seinem Einzug ins Weiße Haus, für den Triumph der Freiheit rund um den Globus wäre kein Opfer zu groß.
Obwohl er mit Lügen und wirren Theorien hausiert, zehrt RFK Jr. von der Aura seines Klans. So hat ihm Nicole Shanahan im Februar einen Werbeclip für den Football-Super-Bowl finanziert, der auf einer Wahlwerbung von 1960 beruht. Nur taucht RFK Jr. nun anstelle von JFK auf, um die „Großartigkeit“ Amerikas zu wahren. Das hat ihm öffentliche Kritik seiner Verwandtschaft eingebracht, die Kennedy als schwarzes Schaf betrachtet und treu zu der demokratischen Partei seiner Vorfahren steht. Dabei hatte RFK Jr. eigentlich zunächst eine relativ Kennedy-konforme Laufbahn eingeschlagen. Er war zwar als Teenager geschockt von der Ermordung seines Vaters 1968 und glitt in Alkohol- und Heroinsucht ab. Dann aber wurde er als Jurist mit seiner Organisation „River Keeper“ ab den 1980er-Jahren einer der erfolgreichsten Umweltschützer der USA und hat etwa wesentlich zur Wiederbelebung des Hudson River beigetragen. Dass er derart vom Kurs abkam und zu einer Ikone von Verschwörungstheoretikern mutierte, erklären US-Medien primär mit einem übersteigerten Geltungsbedürfnis.
Doch auch Trump und Biden sind den Kennedys verfallen. Trump attackiert RFK Jr. nun verstärkt als Linksradikalen und verkappten Demokraten. Das signalisiert in erster Linie, dass viele seiner Anhänger laut Analysten eine Schwäche für Kennedy haben. Trump selbst hat RFK Jr. wiederholt als „außerordentlich klugen Mann“ gerühmt, den er persönlich sehr schätze. Und er prahlt, mit vielen Mitgliedern der Familie eng befreundet zu sein. Biden identifiziert sich dagegen als irisch-katholischer Demokrat vollständig mit den Kennedys. Dass ihn JFK als Teenager zu einer politischen Karriere inspiriert und er im US-Senat einen Mentor in dessen Bruder Ted Kennedy gefunden hat, gehört zum Selbstverständnis des 81-Jährigen. So sitzen Trump und Biden als Verehrer der Kennedys ausnahmsweise im gleichen Boot mit weiten Teilen der Nation.
Diese Faszination fußt einerseits auf der unwiderstehlichen Kombination aus Triumph und Tragödie, Glamour und Grauen, die den Klan umweht. Hier Morde, Unglücksfälle und Exzesse mit Sex und Drogen – auch RFK Jr. war als junger Mann wie der Vater, Großvater und die Onkel ein leidenschaftlicher Schürzenjäger. Auf der anderen Seite die glorreichen drei Jahre von JFK im Weißen Haus. Blendend aussehend, trotz schwerer Gesundheitsprobleme wie einer Nierenkrankheit, Immunschwäche und chronischen Rückenleiden, im Pazifikkrieg hoch dekoriert und obendrein der bis heute jüngste Amtsinhaber, brachten Kennedy und seine Gattin Jackie nach den grauen Eisenhower-Jahren eine lockere Eleganz in das Weiße Haus. Ihre Partys wurden zu Rendezvous für Nobelpreisträger, internationale Geistesgrößen wie André Malraux und Berühmtheiten aus Kunst und Kultur wie Marilyn Monroe, Norman Mailer, Mark Rothko, Leonard Bernstein oder Frank Sinatra und dessen Clique. Als Schlagwort dazu ging „Camelot“ in die Geschichte ein: Die Kennedy-Präsidentschaft als Neuauflage des mythischen König Artus und seiner Tafelrunde.
Solche Feiern hat Washington seither nicht mehr erlebt. Doch hinter der schillernden Fassade standen damals noch echte Macht und dazu historische Versprechen. Dies erklärt der Historiker Joshua Freeman, der mit „American Empire“ eine grundlegende Geschichte Amerikas von 1950 bis zur Jahrtausendwende publiziert hat. Schon Kennedys Antrittsrede am 20. Januar 1961 gilt als Höhepunkt politischer Rhetorik in den USA: Die Nation werde „jede Last tragen, um den Erfolg der Freiheit auf der Welt zu sichern.“ Doch während JFK Amerika zu „größten Opfern“ aufforderte, stand das Land 1960 nicht allein im Zenit als Großmacht, sondern hatte auch einen bis dahin beispiellosen Wohlstand erreicht. Basis war ein durch die Mobilisierung der Volkswirtschaft für den Zweiten Weltkrieg angeschobener Innovations- und Wachstumsschub, der die USA zur dominanten Industrienation und zum wichtigsten Kapitalgeber der „freien Welt“ werden ließ.
Ihre sicheren Jobs, neue Autos und Eigenheime müssten die Amerikaner also nicht aufgeben, so Kennedys eigentliche Botschaft an das Wahlvolk. Als globale Ordnungsmacht waren die USA nun bei Militär, Wirtschaft und Wissenschaft dominanter als einst Großbritannien oder Rom in ihrer Blütezeit. Dazu waren Amerikas Sprache und Pop-Kultur außerhalb des Sowjetblocks und Rotchinas zu einer globalen Lingua Franca geworden. Kennedy wollte Amerika auf dieser Grundlage zu neuen Höhen führen und nicht allein den Kommunismus niederringen. JFK und sein Beraterkreis der „Besten und Klügsten“ waren auch felsenfest davon überzeugt, dass sie mit der anscheinend unaufhaltsam wachsenden Wirtschaft Amerikas im Rücken nun auch die fundamentalen Probleme im Lande selbst anpacken, das soziale Netz ausbauen und die Armut von Weißen im ländlichen Südosten, vor allem aber die systematische Unterdrückung der von Wahlen und Lebenschancen weitgehend ausgeschlossenen Schwarzen beheben konnten. Dass NASA-Astronauten als erste Männer auf dem Mond landen sollten, war da keine Frage mehr.
Junger Hoffnungsträger
So war JFK mit seinem „kraftvollen und selbstbewussten Liberalismus mitten im Kalten Krieg der junge Hoffnungsträger in dem goldenen Moment der amerikanischen Geschichte“, wie Freeman sagt. Wenn Trump also von einer Epoche „amerikanischer Größe“ fabuliert, die er wieder aufleben lassen wolle, so ist damit eigentlich die Kennedy-Ära gemeint. Hier liegt die Erklärung für die Faszination der Trumpschen Formel „Make America Great Again“, zumal für seine älteren Anhänger. Denn so „groß“ wie unter JFK war Amerika nie zuvor und nie wieder. Auch Biden sieht sich als dessen Nachfolger, der Amerika wieder zurück zu gebührender Macht und Größe führt.
Uneingelöste Versprechen
Nun ist aber nicht allein für Historiker offenkundig, dass JFK seine Versprechen nicht eingelöst hat. Natürlich muss hier der Verweis auf den 22. November 1963 in Dallas, Texas, kommen. Seine Ermordung hat die glorreichen Momente und Hoffnungen auf immer eingefroren, drängt zu quälenden Fragen statt kühlen Analysen zum Vermächtnis Kennedys: Hätte er Amerika aus Vietnam heraushalten, die Rassenkrawalle und den Niedergang der amerikanischen Wirtschaft etwa gegenüber Japan und Deutschland verhindern können – jene Entwicklungen also, die den Höhenflug des Landes jäh gestoppt und dann allmählich das Vertrauen einer zunehmend tiefer gespaltenen Bevölkerung in ihren Staat und das gesamte System untergraben haben?
Aber während das Engagement der Amerikaner in Vietnam schon unter Eisenhower begonnen hatte, bleiben solche Spekulationen müßig. Klar ist indes, dass JFK zwar als Außenpolitiker gegenüber den Sowjets Stärke und vor allem Lernfähigkeit bewiesen hat. Aber die großen Aufgaben im Inneren fand sein ungeliebter Vize und Nachfolger Lyndon B. Johnson unerledigt vor. Der ruppige Texaner war im Gegensatz zu dem unerfahrenen Kennedy durch seine Jahrzehnte im Senat ein gewiefter Machtpolitiker und konnte binnen Monaten die historischen Bürgerrechtsgesetze, eine lange überfällige Reform des rassistischen Immigrationsrechts aus den 1920er-Jahren und einen massiven Ausbau des sozialen Netzes mit staatlichen Krankenversicherungen für Senioren und Bedürftige durchsetzen. Dazu aber schickte LBJ nicht zuletzt aus Furcht vor einem Gesichtsverlust nach den grandiosen Versprechen seines Vorgängers im Kampf gegen den Kommunismus bald Hunderttausende junger Männer in die Dschungel Indochinas.
Auch die innenpolitischen Reformen zeitigten unerwartete Krisen. Vor allem trieb die Gleichberechtigung der Schwarzen in Kombination mit dem Ende des Nachkriegsbooms Weiße aus der Arbeiterschaft und im rassistischen Süden den Republikanern in die Arme. Dazu kam die immer stärkere Zuwanderung von Lateinamerikanern, Asiaten und Afrikanern. Viele Weiße fühlten sich davon persönlich und in ihrer gesellschaftlichen Dominanz bedroht und igeln sich nun in blinder Gefolgschaft zu Trump ein.
Politisches Erbe
Kann JFK daher als überschätzt gelten, so wollten seine Brüder Robert und Ted die Fackel der Hoffnung weitertragen. Die Ermordung von RFK 1968 ließ den 1962 als 30-Jähriger in den Senat gewählten Ted zum politischen Erben werden. Er wurde nach privaten Skandalen allmählich zum Arbeitstier und „Löwen des Senats“. Doch Ted Kennedy scheiterte bis zu seinem Tod 2009 mit seinem zentralen Anliegen, einer staatlichen Gesundheitsversorgung nach europäischem Vorbild. Der Nimbus des Namens blieb jedoch erhalten. Barack Obama wäre 2008 kaum Präsident geworden, hätten ihn der Senator und JFKs Tochter Caroline Kennedy nicht bei Partei und Wahlvolk hoffähig gemacht. Doch als der erste Schwarze ins Weiße Haus einzog, war der „goldene Moment“ der Nation schon längst verglommen. Die Strahlkraft von RFK Jr. heute zeigt indes, wie finster es inzwischen um Amerika steht.