Zeitgeschichtsschreibung ist spannend, kritisch und vor allem: nicht unbeteiligt und daher auch nicht unbefangen. Der Koblenzer Kirchenhistoriker Thomas Martin Schneider legt mit Kirche ohne Mitte einen entsprechend persönlichen und besorgten Diskussionsbeitrag zur kirchlichen Zeitgeschichte vor. Seine These ist, dass die deutsche evangelische Kirche ihre „Mitte“ verloren habe, sprich ihr Proprium und Alleinstellungsmerkmal. Kirche geriere sich vielmehr als Nichtregierungsorganisation und scheue reformatorisch-theologische Klarheit.
Bevor Schneider diese energische Zeitdiagnose angeht, wirft er einen kirchenhistorischen Blick zurück ins 20. Jahrhundert. Die Schlaglichter beginnen mit dem Kaiserreich, beleuchten die Entwicklungen vor und nach dem Zweiten Weltkrieg und reichen bis zu den Umbrüchen der 1960er-und 1980er-Jahre, wobei Schneider die Politisierungen von Kirche in Ost wie West ins Zentrum rückt. Augenfällig ist, dass dieser Rückblick die liberale Theologietradition mit ihren wirkmächtigen Vertretern Ernst Troeltsch und Paul Tillich bis hin zu Trutz Rendtorff und Dietrich Rössler komplett außen vorlässt. Irritierenderweise werden auch die innerkirchlichen Bewegungen hin zur Frauenordination oder der Gleichstellung homosexueller Menschen nicht aufgerufen.
Es folgen Skizzen von zeitgeschichtlichen Wirkfeldern der Kirche, und hier legt der Autor den Finger in die Wunden: Schneider prangert unverblümt die „Linkspolitisierung“ und den „monokulturellen Moralismus“ der EKD-Repräsentant:innen an. Zu Recht problematisiert er das nicht vorhandene Mandat der EKD, politisch derart vereindeutigend Farbe zu bekennen. Darüber hinaus geht es Schneider auch um den grundgesetzlich verbürgten konfessionellen Religionsunterricht an staatlichen Schulen, der oft genug nur noch dezimiert stattfindet oder komplett wegfällt. Verbiegungen bei der Ökumene, die Selbstbewusstsein gegenüber der römisch-katholischen Kirche vermissen lassen, werden genauso Thema wie die schmerzliche Abwesenheit von Kirche während der Corona-Pandemie. Auch beschäftigen Schneider scheinbare Anbiederungen an den Zeitgeist, wenn es etwa wieder heißt „7 Wochen ohne“ oder das Magazin chrismon Prominente über Gott sinnieren lässt.
Natürlich reflektiert der Autor die Subjektivität und Zeitgebundenheit seiner eigenen Schlaglichter. Gleichwohl handelt es sich um durchaus berechtigte Kritik am Protestantismus der Gegenwart. Schneiders Analyse, inwieweit der Kirche die „Mitte“ fehle, ist dabei vielseitig in ihrer Pointe: Die politische Mitte fehle in kirchlichen Debatten und Standpunkten, die bürgerliche Mitte fehle in kirchlichem Ehrenamt und Gruppen, die theologische Mitte fehle in der geistlichen Ausrichtung auf Jesus Christus.
Schneider beklagt neben abgerissenen Traditionen auch die verlustig gehende Bedeutung von Kirche und will daher die Sicht freilegen auf das eigentümlich Christliche. Dass Kirche ihren Rest an öffentlicher Autorität besser nutzen könnte, Diskurse ermöglichen statt zementieren möge, die junge Generation religiös bilden sollte – einverstanden. Doch die Frage nach der Kirche erschöpft sich bei Schneider in institutionalisierter und explizit bestimmter Religion. Daher rechnet er wie übrigens auch die Autor:innen der neuerlichen Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) nicht mit der Vieldeutigkeit des religiösen Bewusstseins, was offenbar mit eben jener Abstinenz gegenüber der liberalen Theologietradition zu tun hat. Demgemäß fällt leider auch kein Wort zu existenziell menschlichen Fragen, etwa, was es bedeutet, in der Welt zu sein – oder eben außer sich.
Gegenstand der Theologie ist gerade auch, was ihr Gegenstand eigentlich sei. Die christlichen Texte, Symbole, Handlungen sind enorm voraussetzungsreich, ohne Weiteres können nur noch wenige sie verstehen. Und doch enthalten sie alle wesentlichen Aussagen zum Menschen in seiner Welt. Sollten diese nicht anschlussfähig und aussagekräftig sein gegenüber den vielfältigen Formen von Religion in unserer Gegenwart? Eine spannende Aufgabe eigentlich auch für die kirchliche Zeitgeschichte.
Julian-Christopher Marx
Dr. phil. Julian-Christopher Marx ist Wissenschaftlicher Referent für Religions- und Migrationspolitik bei Prof. Dr. Lars Castellucci MdB. Seine Forschungsschwerpunkte sind Soziologie und Theorie der Religion sowie das Verhältnis von Religion und Politik.