Niedrigschwellig

500 Jahre Gesangbuch

Zur Reihe der 500-jährigen Reformationsjubiläen gesellt sich 2024 das so wirkmächtige Evangelische Gesangbuch, ein Signet des Protestantismus. Dies ist Anlass für diese niederschwellig konzipierte Gesangbuchgeschichte des deutschen Sprachraums von 1524 bis heute, reich bebildert mit einer Vielfalt von Titelseiten und Titelbildern. Das Buch entstand in Kooperation des Kieler Emeritus Johannes Schilling, bis vor kurzem auch Präsident der Luther-Gesellschaft, mit seiner letzten Assistentin dort, Brinja Bauer. Es ist wirklich sehr gut zu lesen und ansprechend aufgemacht. Allerdings setzen viele Abbildungen schon sehr gute Augen voraus, wenn man die Textfülle der Titelblätter entziffern will. Für interessierte evangelische Laien wie Theologen dient das gewiss der Horizonterweiterung, denn das heutige deutsche „Einheitsgesangbuch“ mit Regionalteilen der Landeskirchen ist eine ziemlich späte Erscheinung der Geschichte. Im buntscheckigen deutschen Protestantismus war gerade die Gesangbuchlandschaft sehr bunt.

Im Fokus – und das ist neu – ist hier tatsächlich das Druckmedium Gesangbuch, nicht das Kirchenlied als solches. Bereits die Einleitung Schillings „Was ist ein Gesangbuch?“ benennt dazu viele Aspekte. Die Grobgliederung der historischen Darstellung orientiert sich dann einfach an den Jahrhunderten, trägt die (eigentlich erledigte) theologische Epochengliederung wie zum Beispiel Pietismus, Aufklärung, Erweckung aber auch mit ein. Am Ende stehen Erwägungen zur Zukunft im Blick auf das im jetzigen Revisionsprozess anvisierte Gegenüber von Gesangbuch und Datenbank.

Gleichwohl waren „die bedeutendsten Liederdichter“ auch zu würdigen, und so bekommt Paul Gerhardt (als einziger) ein eigenes Kapitel: „Ein Lutheraner im Barock“. Luther ist demgegenüber nicht als Dichter, sondern (nur) mit seinen Gesangbucheditionen und den Vorreden dazu im Blick. Im 19. Jahrhundert wird Philipp Spitta (mit seinem „Psalter und Harfe“), im 20. Jahrhundert Jochen Klepper (mit seinem „Kyrie“-Liederbuch) zum „bedeutendsten“ der Poeten gekürt. Der eher willkürlichen Heroisierung einzelner Dichter leistet dieses Vorgehen Vorschub. Es wäre mutiger und für die Lesekundschaft wohl auch noch spannender gewesen, ganz beim Thema Buch zu bleiben.

Wie nämlich aus den Gesangbüchern unterschiedlicher Machart jeweils gesungen wurde, ist nur wenig thematisiert. Was Melodien mit Generalbass bedeuten – oder im 20. Jahrhundert Gitarrengriffe –, was „Kantionale“ für Schulen (im Anschluss an Walters „Chorgesangbuch“ von 1524) leisteten, und wozu man dann „Choralbücher“ als Pendant brauchte? Die extrem auflagenstarken Büchlein mit zweistimmig gesetzten Melodien à la „Missionsharfe“ kommen nicht vor und auch nicht ihre Pendants in heutiger Zeit (zum Beispiel „Feiert Jesus“). Stattdessen wird konstatiert: „Die Gesangbücher der Erweckung fanden als solche keine Fortsetzung.“ Schließlich wären auch Geheimdrucke bei Hugenotten und Reformierten oder bei Evangelischen in Österreich ein spannendes Sujet. Stattdessen wirkt die Darstellung doch etwas „staatstragend“ motiviert: Ausgerechnet vom Eisenacher Kernliedergesangbuch von 1854, als kirchenleitende Steuerungsmaßnahme konzipiert, ist das Inhaltsverzeichnis abgedruckt – mit Referenzangaben zum heutigen EG als ziemlich getreuem „Nachfolger“. Das heutige Schreckgespenst für alle Gesangbuch-Fans, den Beamer, und den damit verbundenen Habitus des Singens einfach zu negieren, macht die Historiendarstellung gewiss einfacher, aber nicht relevanter.

Schließlich noch ein vehementer Einspruch in Sachen Theologiegeschichte: Crügers ab 1647 edierte Praxis pietatis melica unter „Pietismus“ zu subsumieren, geht nun wirklich nicht – auch wenn das Signalwort „pietas“ da im Titel steht. Hier wurde die Chance vertan, gerade anhand der Gesangbuchgeschichte den Weg von der Orthodoxie zum Pietismus neu zu skizzieren.

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