Ein demokratischer Sozialist

Der Koreaner Teckin Jung hat über Helmut Gollwitzer promoviert. Das war gewagt
Foto: Bertold Fernkorn

Wegen der starken konservativen Tendenz in den meisten koreanischen Kirchen waren viele Kommilitonen überrascht, dass sich Teckin Jung in seiner Dissertation mit dem deutschen Theologen Helmut Gollwitzer beschäftigt hat. Denn der gilt als Sozialist

Ich wurde 1986 in Seoul geboren, als Einzelkind eines ziemlich frommen Ehepaars. Unsere Familie ist reformiert, geprägt durch eine presbyterianische Kirche in meiner Heimat. Als ich 15 Jahre alt war, bin ich allein – zum Zweck des Auslandsstudiums – nach Australien gegangen, wo ich mein Abitur gemacht habe. Dort habe ich wegen meines großen Interesses am christlichen Glauben drei Jahre Evangelische Theologie studiert, dann kehrte ich wieder nach Südkorea zurück, um dort weitere fünf Jahre Theologie zu studieren.

Mein erstes Interesse an Helmut Gollwitzer ist durch Karl Barth geweckt worden, dessen Theologie beziehungsweise politische Ethik Gollwitzer sehr inspirierte. Über meinen Doktorvater Traugott Jähnichen hatte ich später die Chance, mich auch in Deutschland in dieses Feld tiefer hineinzuarbeiten. Dabei ist Gollwitzer in Korea eigentlich nur durch zwei Bücher bekannt, die ins Koreanische übersetzt wurden: seine „Kapitalistische Revolution“ und „Befreiung zur Solidarität“. Gollwitzer galt in Südkorea lange als Sozialist, was angesichts der vorherrschenden antikommunistischen Atmosphäre in Gesellschaft und Kirche seine Rezeption etwas behindert hat. Wegen dieser starken konservativen Tendenz in den meisten koreanischen Kirchen waren viele Kommilitonen überrascht, dass ich mich in meiner Dissertation mit Helmut Gollwitzer beschäftigt habe, der eben als Sozialist gilt. Es ist nicht leicht, mit diesem Schwerpunkt an den theologischen Fakultäten in Korea eine Stelle zu bekommen, eben weil Gollwitzer auch in der Tradition von Barths Faszination für den Sozialismus steht. Aber auch in der koreanischen Theologie gibt es progressive Strömungen, die aufgeschlossen sind und sich mit solchen Fragen und Personen auseinandersetzen.

Mich faszinieren an Helmut Gollwitzer nicht zuletzt seine politischen Positionen. Er hat ja eine lange Entwicklung durchgemacht als Pfarrer der Bekennenden Kirche und ausgewiesener Nazi-Gegner. Dann als Soldat, der in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten ist, die ihn ebenfalls geprägt hat. Die Realität unbegrenzter Machtkonzentration im Realsozialismus, die die Verstaatlichung der Produktionsmittel tatsächlich bewirkt hatte, begriff er als menschenverachtend. In den 1950er-Jahren sprach sich Gollwitzer daher für eine Reform des Kapitalismus, für Freiheit und eine demokratische Ordnung aus. Gleichzeitig war er gegen die Wiederbewaffnung und gegen eine Atombewaffnung der Bundesrepublik.

In den 1960er-Jahren war Gollwitzer fasziniert von der Kibbuzim-Bewegung in Israel und von humanistischen Ideen, die unter anderem in der Tschechoslowakei aufkamen. Angesichts der Ausbeutung in den Ländern des Südens der Welt hat er sich in späteren Jahren wieder intensiver mit dem Kapitalismus beschäftigt. In den 1970er-Jahren trat Gollwitzer öffentlich für eine sozialistische Demokratie ein. Zugleich war er in seiner Theologie als Lutheraner und Barthianer eher konservativ. Anders etwa als Jürgen Moltmann oder Dorothee Sölle hat er nie ein eigenes politisch-theologisches Programm entwickelt. Dennoch bleibt er mit seinen theologischen und politischen Gedanken bis heute aktuell.

Natürlich musste ich mich beim Thema Gollwitzer sehr in die deutsche Geschichte einlesen, aber die hat mich schon immer interessiert, also die Zeit der Weimarer Republik, die NS-Zeit und die Zeit der deutschen Teilung, die für uns Koreaner viele Bezüge zu unserer eigenen Situation hat. Es gibt da durchaus situative Gemeinsamkeiten. Auch deshalb hoffe ich, dass ich in Korea einen Verlag finden kann, der meine Dissertation auf Koreanisch herausbringt.

Da ich glaube, dass Gollwitzers „Befreiung zur Solidarität“ eine gute Zusammenfassung seines theologischen Denkens darstellt, würde ich die gern noch einmal ins Koreanische übersetzen. Wichtig an Gollwitzers Theologie finde ich auch seine Kritik oder Selbstkritik einer westlichen, weißen Theologie sowie seine Kritik an den Kirchen des Nordens. Gollwitzer hat ja nicht nur marxistische Ansätze rezipiert, sondern auch in seine Theologie eingearbeitet. Das gilt ebenso für theologische Gedanken aus dem Süden der Welt. Gollwitzer hat die Rolle der Kirche in der Gesellschaft reflektiert, ihre Klassenbindung und ihre Interessen durchdacht. Das halte ich für noch heute bedeutend für die Erneuerung der Kirche und ihren Auftrag für und in der Öffentlichkeit. Die Konsequenz von Gollwitzers Denken ist natürlich faszinierend, aber es gibt da auch Seiten, die mich nicht überzeugen: So sehr er dialogfähig war etwa gegenüber Marxisten, Studenten und Intellektuellen oder Gelehrten aus dem Süden der Welt, so schwer tat er sich beim Dialog mit reformbereiten oder konservativen Kräften in der westdeutschen Gesellschaft. Das finde ich fragwürdig. Als Demokraten müssen wir doch Kompromisse eingehen. Auch sein Anspruch eines „prophetischen Wächteramts“ der Kirche grenzte manchmal an Dialogunfähigkeit, da diese Rolle nicht wirklich eine Selbstbegrenzung vorsah. Hinzu kommt, dass die alten Propheten Israels keineswegs in ihren Gesellschaften so viel Einfluss hatten, wie es ihnen das Alte Testament später zusprach. Sie setzten sich zwar gegen eine Verabsolutierung von Macht ein, aber wirklich mächtige Figuren, die eine göttliche Sendung in Gehorsam des Volks ummünzen konnten, waren sie nicht. Ihre Funktion, die ethische Dimension gesellschaftspolitischer Fragestellungen aufzudecken, verliert jedoch nicht an Bedeutung.

Überzeugend finde ich bei Gollwitzer aber weiterhin seinen Freiheitsbegriff, der eben eine kommunikative Freiheit bedeutet: als Freiheit zum Dienst und zur Einsatzbereitschaft für den Nächsten und Benachteiligten. Es ist eine Aufgeschlossenheit für die andere Seite, eine Konsequenz evangelischer Freiheit im Dienst für das Miteinander und den Nächsten. Dazu kommt eine Analyse der Klassen- und Interessenbildung samt den Privilegien in der Gesellschaft. All dies sind Punkte, die wir noch heute von Gollwitzer lernen können.

 

Aufgezeichnet von Philipp Gessler

Literatur
Teckin Jungs Dissertation ist erschienen als „Evangelische Freiheit und Weltverantwortung. Eine Rekonstruktion des Zusammenhangs von Glauben und Politik bei Helmut Gollwitzer“ im LitVerlag, 304 Seiten, Euro 39,90.

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