Ein ganzes gebrochenes Herz
Er wollte seine Bücher nicht in unsere Köpfe stecken, sondern unsere Köpfe in seine Bücher. Denn Lernen habe etwas mit der Suche nach Wahrheit zu tun, mit Bewährung in der Gegenwart und Begegnung. Eine Erinnerung an den großen Gelehrten Yehuda Aschkenasy (1924–2011) von seinem früheren Studenten Peter Szynka, der Sozialwissenschaft an der Hochschule Hannover lehrt.
In den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg gab es zwischen den Generationen in Deutschland eine Mauer des Schweigens. In den Köpfen der Eltern war die Katastrophe des Krieges noch gegenwärtig, aber Geschichten wurden nicht erzählt. Positive Einstellungen zum Nationalsozialismus wurden geleugnet, autoritäre Erziehungsmethoden reproduziert und kritische Reflexionen vermieden. In dieser Situation erlebten wir an der Gesamthochschule Duisburg, wie der Evangelische Theologe Heinz Kremers und der Rabbiner Yehuda Aschkenasy sich vor den Studierenden die Hände zu Umkehr und Versöhnung reichten – über die Gräber und Gräben hinweg.
Zuvor hatte sich unter christlichen Theologen Kritik an einer jahrhundertealten Christologie entwickelt, die von Juden als Gottesmördern und Hostienschändern sprach. Martin Luther rief die Menschen auf, Synagogen anzuzünden, und rechtfertigte damit Pogrome. Die Kirchen erkannten ihre Mitschuld. Wichtige Schritte hierzu waren das Stuttgarter Schuldbekenntnis (1945), die internationale Seelisberger Konferenz (1947), die Enzyklika Nostra Aetate (1965) und schließlich der Synodalbeschluss der Evangelischen Kirche im Rheinland (EKiR) „Zur Erneuerung des Verhältnisses von Juden und Christen“ (1980).
Auf jüdischer Seite gab es bereits während der Shoah erste Überlegungen zu christlich-jüdischer Zusammenarbeit, da ja beide Religionen aus den gleichen Quellen schöpfen. So etwa durch den Rabbiner Zwi Taubes in der Schweiz oder die Einrichtung eines jüdisch besetzten Lehrstuhls für das Neue Testament an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Die Einrichtung eines Forschungsschwerpunktes zum Judentum in Duisburg stand im Zusammenhang mit der Vorbereitung des genannten Synodalbeschlusses der EKiR.
„Echte“ Chassidim
Ein Schlüsselseminar im Duisburger Forschungsprojekt hieß „Die Chassidim in der Tannaitenzeit“. Wir wussten weder, wer die Chassidim waren, geschweige denn, wann die Tannaitenzeit gewesen sein sollte. Neugierig meldeten wir uns an und erfuhren, dass es sich um die Chassidim Reschonim handelte, die hier besprochen werden sollten, also die früheren oder ersten Chassidim, und nicht um die Legenden der frommen galizischen Juden, die Martin Buber in seinem Bestseller Die Erzählungen der Chassidim oder die Legende des Baalschem beschrieben hatte.
Es ging also um die „echten“ Chassidim, die Tannaim, jene Generation von Schriftgelehrten, die sich nach der Zerstörung des Zweiten Tempels in Jerusalem daranmachten, die bis dahin von Mund zu Ohr tradierte Schriftauslegung der Thora aufzuschreiben. Dabei waren sich die Tannaim nicht immer einig. Sie beleuchteten die Schrift von verschiedenen Seiten, bezogen sie auf ihre Gegenwart und dokumentierten ihre Diskussionen und unterschiedlichen Sichtweisen. So ist die Mischna entstanden, die zum Kern des Talmuds wurde. Wir bekamen also im Seminar über die „Chassidim in der Tannaitenzeit“ Einsicht in die Entstehung der Mischna.
Haftungsgemeinschaft
Yehuda Aschkenasy benutzte gern neue Begriffe, um alte Traditionen verständlich zu machen. Modern waren damals die Begriffe „Hardware“ und „Software“. Er sagte zu uns, dass er zwar noch über die Software verfüge, die Hardware aber leider verloren gegangen sei. Er wolle aber seine Bücher nicht in unsere Köpfe stecken, sondern unsere Köpfe in seine Bücher. Auch sei Lernen ein dialogisches Verfahren und keine Einbahnstraße, wie man schon an den dokumentierten Diskussionen der Tannaim sehen kann. Lernen habe etwas mit der Suche nach Wahrheit zu tun, mit Bewährung in der Gegenwart und Begegnung. Langsam dämmerte uns, dass er mit „Verlust der Hardware“ die Ermordung von mehr als sechs Millionen Juden meinte.
Also steckten wir unsere Köpfe in seine Bücher. Wir begegneten Rabbi Hillel und seinem Schnellkurs in Judaistik. Jemand, der Hillel provozieren wollte, bat ihn, das Judentum zu erklären, während er auf einem Bein stehe. Hillel entgegnete: „Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht. Das ist die ganze Gesetzeslehre, alles andere ist nur die Erläuterung, gehe hin und lerne sie.“
Heute ist diese Szene als Relief auf der großen Menora vor der Knesset in Jerusalem dargestellt. Ein weiterer Ausspruch von Rabbi Hillel beeindruckte uns: „Wo keiner wie ein Mann ist, sei da ein Mann!“ Was sollte das bedeuten? In der Musikkneipe ging uns später ein Licht auf. Dort schaute Warhols Einstein mit herausgestreckter Zunge auf uns herab. Darunter sein Zitat über falsch verstandene Männlichkeit während des Nationalsozialismus: „Wenn einer mit Vergnügen zu einer Musik in Reih und Glied marschieren kann, dann hat er sein großes Gehirn nur aus Irrtum bekommen, da für ihn das Rückenmark schon völlig genügen würde.“ Es kam uns so vor, als wollte Einstein uns Hillel erklären.
Wieder zurück im Seminar. Ein Zitat von Rabbi Schimon ben Jochai lautet: „Israel ist ein Leib und eine Seele. Begeht einer eine Übertretung, dann tragen alle die Konsequenzen; ist einer betroffen, dann sind alle betroffen.“ Hier geht es um Haftungsgemeinschaft und Solidarität: „Jeder, der die Möglichkeit hat zu protestieren gegen die Menschen in seinem Haus (seiner Stadt, in der ganzen Welt) und protestiert nicht, der wird für die Menschen in seinem Haus (seiner Stadt, die ganze Welt) verantwortlich gemacht.“
Diese Stelle kam natürlich in den 1970er-Jahren bei den Studierenden besonders gut an. Wir protestierten gegen die atomare Wiederbewaffnung, den Nato-Doppelbeschluss, den Schnellen Brüter in Kalkar und allgemein gegen autoritäre Erziehung. Trotz der Notwendigkeit des Protestierens ging es Schimon bar Jochai aber auch um Zusammenhalt. Zur Erklärung einer Stelle aus Amos 9,6–7 und im Hinblick auf die zwölf Stämme erzählte Schimon bar Jochai eine Parabel von jemandem, der Schiffe mit Seilen und Ankern zusammengebunden hat, um darauf einen Palast zu bauen. „Wenn die Schiffe zusammenhalten“, so Schimon bar Jochai, „hält der Palast stand. Werden sie getrennt, dann kann er nicht bestehen. So ist es auch mit Israel.“
Wer war dieser uns so prägende Mann, der sich in der rabbinischen Literatur auskannte und die darin enthaltenen Anekdoten einer Generation von Studierenden passgenau darbieten konnte? Einer Generation, die in einem Generationenkonflikt stand, sich nach Frieden und Freiheit sehnte und sich anschickte, Verantwortung zu übernehmen? Über sein Schicksal während des Nationalsozialismus mochte er nicht sprechen. Die folgenden Fakten wurden aus niederländischen Schriften und deutschen Akten rekonstruiert:
Yehuda Aschkenasy wurde 1924 in Karlsbad geboren. Sein Vater war Hebräischlehrer am Rabbinerkolleg in Breslau, seine Mutter Kurärztin. Später übernahm sein Vater ein Hotel in Marienbad. Die böhmischen Bäder waren Treffpunkt und Schmelztiegel verschiedenster jüdischer Gruppen. Wichtige jüdische Kongresse und Konferenzen fanden dort statt.
Als die Nationalsozialisten die Macht in Tschechien übernahmen, floh die Familie in die Slowakei, später nach Mukatschewo (Munkatsch), früher Ungarn, jetzt Ukraine. Als die Nazis auch dahin vorrückten, ging er nach Budapest und arbeitete dort im Untergrund für eine zionistische Jugendorganisation. Jüdischen Kindern sollte zur Flucht nach Israel verholfen werden. Aschkenasys Eltern und sein jüngerer Bruder wurden in Auschwitz ermordet.
Arbeit im Untergrund
Im Jahr 1944 stand Ungarn unter Druck der Nationalsozialisten. Gleichzeitig geriet Deutschland in die Defensive. Nach geheimen Plänen sollten neue Führerhauptquartiere gebaut werden, die „bombensicher“, das heißt unterirdisch sein sollten. Hierfür forderte Hitler von der ungarischen Regierung 140 000 jüdische Arbeitskräfte an.
Yehuda Aschkenasy wurde festgenommen und ausgeliefert. Er kam erst nach Auschwitz, dann nach Buchenwald. Yehuda wurde zu Arbeitseinsätzen im Außenlager S III in Ohrdruf eingesetzt. Dort war die Sterberate besonders hoch, die Hälfte starb, Leichen wurden mit dem Bauschutt entsorgt. Aschkenasy erkrankte an Tuberkulose. Im November 1944 half er im Krankenzelt. Ein Arzt schrieb ihn deshalb „dauerhaft nicht arbeitsfähig“. Plötzlich sollten die Nicht-Arbeitsfähigen auf einen „Invalidentransport“, also vernichtet werden. Der Arzt korrigierte seinen Befund und schrieb Aschkenasy wieder arbeitsfähig. Auch diesen Arbeitseinsatz überlebte er.
Im Mai 1945 kam die Befreiung. Aschkenasy war gerade mal 20 Jahre. Mit einem Freund gelangte er in die britische Besatzungszone und in ein Hospital für jüdische TBC-Patienten in Gauting, von dort aus in eine jüdische TBC-Klinik nach Davos. Dort erholte er sich langsam, aber nie ganz. Er lebte nach der Devise, „kein Herz ist so ganz wie ein gebrochenes“. Er wollte nur, dass so etwas nie, nie wieder passiert.
Aschkenasy ging nach Israel und arbeitete als Sozialarbeiter. Er hörte Vorlesungen an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Seine Lehrer waren Hugo Bergmann, Ernst Simon und Martin Buber. Er schloss eine Rabbinerausbildung bei dem Neutestamentler David Flusser und dem Religionshistoriker Shmuel Safrai ab. Er ging in die Niederlande und arbeitete für das Anne-Frank-Haus in Amsterdam und mit der Aktion Sühnezeichen.
Schließlich bekleidete Aschkenasy eine Professur für Rabbinische Literatur an der Katholischen Universität Utrecht. Er baute ein unabhängiges Lehrhaus in Hilversum auf, die Folkertsma Stichting. Ihr Zweck war, leichtere Zugänge zur rabbinischen Literatur zu schaffen. Nach Bubers Worten sollten Lehrhäuser nicht in geschlossenen Zirkeln arbeiten, sondern in die Gesellschaft „ausstrahlen“. Im Lehrhaus entstand das Periodikum „Tenachon“. Aschkenasy war Mitbegründer der Reihe „Compendia Rerum Iudaicarum ad Novum Testamentum“ (CRINT), die bis heute fortgesetzt wird. Er war Mitherausgeber der Reihe „Information Judentum“ und der Bücher von Abraham Jehoschua Heschel beim Neukirchener Verlag.
Verschollene Bücher
Aschkenasy beteiligte sich am Forschungsschwerpunkt Judentum der Gesamthochschule Duisburg und beriet die EKiR-Synode bei ihrem bahnbrechenden Synodalbeschluss zum Umgang der Kirche mit dem Judentum. Schließlich entdeckte er in Amsterdamer Antiquariaten verschollene Bücher der ersten jüdischen Universität in Deutschland, der Ephraim-Veitel-Stiftung in Berlin. Er sorgte für die Rückkehr der Bücher nach Deutschland. Dort bilden sie heute den Kern der „Yehuda-Aschkenasy-Sammlung“ an der Universität Potsdam. Vor 13 Jahren starb Yehuda Aschkenasy.
Immer wieder hat Aschkenasy Brücken über Gräben gebaut, die unüberwindbar schienen. Dafür gebührt ihm großer Dank – aber für mich persönlich zählt eines fast noch mehr: Er hat jungen Menschen geholfen, sich der Geschichte zu stellen und Verantwortung zu übernehmen. In diesem Jahr wäre Yehuda Aschkenasy 100 Jahre alt geworden.
Peter Szynka
Dr. Peter Szynka ist Verwalter der Professur für Sozialwissenschaft an der Hochschule Hannover.