Fundamente des Lebens (III)

Was es bedeutet, in Krisen auf Gott zu vertrauen
Fenster des Glaskünstlers Johannes Schreiter in einer Ausstellung im Galerieraum der Neuen Stadthalle im hessischen Langen (2020).
Foto: epd/Thomas Rohnke
Fenster des Glaskünstlers Johannes Schreiter in einer Ausstellung im Galerieraum der Neuen Stadthalle im hessischen Langen (2020).

Kann eine Vergegenwärtigung christlicher Gewissheiten bei der seelischen Bewältigung der multiplen Krisen dieser Tage helfen?
Die Hannoveraner Theologin Mareile Lasogga bringt in einem dreiteiligen Text die Fundamente christlichen Glaubens mit den Herausforderungen der Gegenwart ins Gespräch. Nach den ersten beiden Teilen im Oktober und November nun der abschließende dritte Teil.

In biblischer Perspektive erleben Menschen in Krisen weder Gottes Abwesenheit noch seine Ohnmacht. Die kritischen Widerfahrnisse können vielmehr ebenso wie segensreiche Ereignisse zur Erfahrung der Begegnung mit Gott werden. Besonders in den prophetischen Büchern offenbart sich Gott als Herr der Natur wie auch der menschlichen Geschichte, der in den individuellen Schicksalen und in den Katastrophen der Völker richtend, aber auch rettend am Wirken ist. Theologisch betrachtet, sind Krisen Zeiten, in denen Gott sich verbirgt und finden lassen will; in denen er sich in der Ambivalenz von Abstoßung und Anziehung vernehmen lässt. Es gehört zum prophetischen Amt der Kirche, Krisen in diesem spannungsvollen Sinnzusammenhang zu deuten und zu erhellen.

Das richtende und rettende Wirken Gottes in und durch Krisen lässt sich nicht in einem vordergründigen Sinne aufzeigen. Es handelt sich nicht um Zusammenhänge, die, wie Luther in seiner Vorrede zur Johannes-Apokalypse einmal sagt, offen zu Tage liegen „wie ein Kram auf dem Markt“. Fragen, die Erklärungen auf kausaler Ebene intendieren – wie beispielsweise: „Hat Gott das Coronavirus geschickt?“ –, verstellen die Perspektive. Gott hat der Welt Eigenmächtigkeit verliehen. Die biblischen Texte lassen jedoch keinen Zweifel daran, dass der biblische Gott gleichwohl der Herr seiner Schöpfung ist und bleibt. Gott bedient sich der gesetzlichen Kausalzusammenhänge und verfolgt in, mit und durch sie seine ganz eigenen Zwecke und Ziele mit seiner Welt – auch wenn wir diese nicht erkennen und verstehen. Theologisch lassen sich Krisen daher nur in finaler Hinsicht angemessen in den Blick nehmen.

Furten des Lebens

Welche Bedeutung lässt sich Krisen in dieser Perspektive beilegen? Krisen machen deutlich, wo und wie Menschen faktisch vor Gott dastehen. Krisen können den Blick schärfen für Dinge, die dringend der Klärung bedürfen im Leben der Einzelnen und der Gesellschaft. Die Krise führt über die Frage, was wir von Gott erwarten, hinüber zur anderen Frage, was Gott von uns erwartet. Gemäß der mehr sinnigen Bedeutung des griechischen Wortes krisis stellen Krisen die Frage nach den Prioritäten des Lebens in den Fokus und nötigen damit in einem ersten Schritt zur Unterscheidung zwischen Wahrheit und Täuschung, Gut und Böse, Bleibendem und Vergänglichem, Gott und den Götzen. Es geht darum, zu bedenken, welche Werte uns leiten; an welchen Dingen unser Herz faktisch hängt; wovon wir uns treiben und antreiben lassen. Auf welche Stimmen hören wir, und welchen Geistern geben wir Macht über uns? Von wem oder was lassen wir uns verführen, manipulieren? Was denken wir von uns, dass wir sind – und was sind wir tatsächlich? Wenn diese Dinge im Lichte Gottes durchsichtig werden, gewinnen Menschen Klarheit für ihr Leben.

An den Furten des Lebens begegnet uns Gott als ein Widerstand, mit dessen Unnachgiebigkeit wir wie Jakob am Jabbok zu ringen haben. Jakob kämpft mit der unheimlichen Gestalt die ganze Nacht bis zum Anbruch der Morgenröte. Er setzt alles ein, um sich von der bedrängenden Macht nicht überwinden zu lassen. Die Begegnung der Nacht hinterlässt ihre Spuren; Jakob wird an der Hüfte verletzt. Doch als ein versehrter Mensch wird er schließlich gesegnet. „Wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen“, spricht Gott (Jeremia 29, 13 f.). Im Horizont dieser Verheißung gelingt es Jakob schließlich, gegen Gott zu Gott hindurchzudringen.

Luther deutet die Jakob-Geschichte als Ermutigung durchzuhalten; beharrlich und beherzt zu suchen, zu bitten und anzuklopfen, solange bis der Glaube schließlich siegt und Gott überwindet. Auch in der Krise begegnen wir Gott – jedoch auf eine unheimliche, harte, schmerzhafte Weise, die individuell wie kollektiv Spuren hinterlässt. Anders aber lässt die Furt sich nicht überqueren. Damit sind eine Warnung und eine Mahnung verbunden, die Gnade Gottes nicht mit Gutmütigkeit oder gar Ohnmacht zu verwechseln und in ihrem Ernst zu verharmlosen. Dass Gottes Gnade nicht billig zu haben ist, wissen wir. In Krisen jedoch bekommen wir existenziell zu spüren, was es bedeutet, im Ringen mit dem verborgenen, unheimlichen Gott durchzudringen zu dem Gott, der sich in Jesus Christus als unser Vater offenbart hat.

Vertrauen zu Gott ist nichts, was man „hat“, über das man verfügen kann. Vertrauen muss immer wieder neu errungen werden. Glauben ist deshalb auch geistliche Arbeit und erfordert Beharrlichkeit, Mut und Entschlossenheit. Zu den tröstenden und beglückenden Erfahrungen, die dem Glauben verheißen sind, muss man sich manchmal geistlich hindurcharbeiten. Luther gebraucht eindrücklich das Bild von Dornen, Spießen und Schwertern, durch die man hindurchbrechen muss zum Gott allen Trostes. Gottvertrauen ist deshalb immer auch das Ergebnis des Willens, an Gott in den Rätseln des Lebens trotzdem festzuhalten. Ich muss es wagen, ohne zu wissen, wie es ausgeht. Die krisis – so die zweite Bedeutung – führt deshalb auch in die Entscheidung für oder gegen Gott. Das ist der schmale Weg, der zum Leben führt (Matthäus 7, 14) und der in einem sehr ernsten Sinn alternativlos ist.
Damit rückt schließlich ein dritter Aspekt in den Blick, der für das Verständnis der Krise konstitutiv ist: die Scheidung. Das griechische Wort bedeutet auch: beurteilt werden, zur Rechenschaft gezogen, gerichtet werden. Krisen enthalten Chancen; aus Krisen folgt jedoch nicht automatisch etwas Gutes. „Ich habe Gott von Angesicht gesehen, und doch wurde mein Leben gerettet“ (Genesis 32, 31). Dass Jakob am Ende der Nacht noch am Leben ist und den Anbruch der Morgenröte erlebt, ist nicht selbstverständlich, auch nicht „normal“, sondern nicht weniger als ein Wunder. Es gibt den schmalen Weg, der zum Leben führt; aber auch den breiten Weg, der ohne Hoffnung ist. Die Botschaft des Evangeliums ist eine frohe Botschaft vor einem ernsten Hintergrund. Man kann seine Lebenschancen auch verspielen und das Leben verlieren. Die populären Trostworte, dass auf Regen Sonnenschein folgt oder am Ende des Tunnels Licht ist, sind nicht nur trivial, sondern auch irreführend, weil sie die Krise in einem prozessualen Ablauf verorten, der durch die Erfahrungen des Lebens negiert wird. Nicht alle Menschen gehen aus Krisen stärker, reifer und verständiger hervor. Es gibt viele, die darin zerbrechen, verbittern, resignieren und ihr Herz Menschen und Gott gegenüber verhärten. In unheimlichen Szenen beschreibt die Offenbarung des Johannes, wie die Menschen sich durch die Katastrophen, die über die Erde hereinbrechen, nicht von ihrem unheilvollen Weg abbringen lassen wollen. Im Gegenteil, gerade die Massivität des erlittenen Unglücks führt dazu, dass sie Gott lästern (Offenbarung 16, 9.11.21). Das Angebot der Gnade gilt uneingeschränkt jedem Menschen und wird bedingungslos jedem Menschen zugeeignet, der glaubt. Nehmen wir das Angebot an? Das ist die Frage, an der sich entscheidet, ob wir das Leben gewinnen oder verlieren.

Jakobs Kampf endet mit dem Anbruch der Morgenröte. Im Licht des beginnenden Tages lässt die unheimliche Gestalt endlich los und entschwindet. Jakob geht die Sonne auf. In der Morgendämmerung zeichnen sich die Konturen eines neuen Tages ab. Jakob erkennt den Weg, der vor ihm liegt und darf weitergehen. Etwas Neues beginnt. In seinem Kampf mit dem unheimlichen Gott ist er hindurchgedrungen zu dem Gott, der ihm einen neuen Namen und eine neue Perspektive für sein Leben gibt. So wie die Furt zwei Ufer hat, führt die Krise Menschen nicht nur an die Grenzen ihrer eigenen Möglichkeiten, sondern sie erschließt ihnen auch den Blick auf die andere Seite, wo die Möglichkeiten Gottes beginnen. Daher ist Jakobs Kampf verheißungsvoll. Denn – auch das bezeugen die biblischen Texte in aller Klarheit – Krisen sind Übergänge, in denen Gott Neues schafft. Luther sieht Gottes schöpferisches Wesen darin beschlossen, dass er aus nichts alles machen und deshalb auch aus unheilvollen Dingen Gutes hervorbringen kann. Vom Anfang der Schöpfungsgeschichte bis zum letzten Buch der Offenbarung zieht sich wie ein roter Faden die Erfahrung und das Bekenntnis, dass Gott immer wieder neue Anfänge gewährt.

Nicht besser, sondern neu

Gott wird in der Bibel bekannt als ein Gott, bei dem kein Ding unmöglich ist. Wo nichts ist, ruft Gott, dass es sei. Das ist die Grundstruktur der Erfahrung, die allen Menschen gemeinsam ist, denen Gott begegnet. Gott schafft aus nichts etwas; Menschen machen aus etwas Vorhandenem etwas anderes. Gott macht das Alte deshalb nicht besser, sondern er macht es neu: „Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden“ (2. Korinther 5, 17).

Der Mensch, an dem die Möglichkeiten Gottes in ihrer ganzen Fülle deutlich geworden sind, ist Jesus Christus. Er hat gelebt, geliebt und gelitten; schließlich fand dieses Leben früh einen gewaltsamen Tod. Dass seine Geschichte nicht in Vergessenheit geraten ist, liegt nicht daran, dass Menschen sie aufgeschrieben haben und sich daran erinnern, sondern weil diese Geschichte weitergegangen ist. Als die Möglichkeiten Jesu am Ende sind, wird Gottes Macht an ihm wirksam und lässt aus dem Tod neues Leben hervorgehen. Der, der sich in die äußerste Tiefe der Gottverlassenheit begeben hat, den hat „Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist“ (Philipper 2,9). Der auferstandene Christus sitzt zur Rechten Gottes, und „die Engel und die Gewaltigen und die Mächte“ sind ihm untertan (1. Petrus 3,22). Dass das Evangelium allen Menschen weltweit und bis zum Ende der Zeiten gepredigt werden soll, hat seinen Grund nicht darin, dass Jesus in vorbildlicher Weise gelebt oder das Leben in herausragender Weise zu deuten verstand, sondern allein darin, dass er der Kosmokrator ist (Matthäus 28, 18 f.).

„Eines hat Gott geredet, ein Zweifaches habe ich gehört“, spricht der Psalmbeter: „Gott allein ist mächtig und du, Herr, bist gnädig“ (Psalm 62, 12 f.). Gottes Macht ist eine, aber nicht die ganze Wahrheit. „Du, Herr, bist gnädig“ – das ist die Botschaft, die aller Welt gepredigt werden soll. Im Evangelium von Jesus Christus hat Gott sich Menschen als der zu erkennen gegeben, als der er von uns erkannt sein will: als zugewandtes Gegenüber, als liebender Vater, als Du. In Christus will und wird er sich finden lassen, von denen, die ihn von ganzem Herzen suchen. Nur im Sohn ergreifen wir Gott als unseren Vater. Um Jesu willen, in seinem Namen, dürfen wir mit Zuversicht vor Gott treten „zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben“ (Hebräer 4,16).

Jesus Christus ist das fleischgewordene Wort, die Verheißung, dass Gott seine Liebe über seinen Zorn hat siegen lassen – ein für alle Mal. Diese Zusage gilt unverbrüchlich, und Christus ist das „Siegel“ (Johannes 6,27), das sie uns verbürgt. Um seiner Liebe willen wendet sich uns Gott in seiner Macht barmherzig zu.

Gott, bei dem kein Ding unmöglich ist, erschließt Menschen durch seine Macht und in seiner Liebe neue Lebensmöglichkeiten. Im Glauben gewinnen wir Anschluss an seine Fülle, seinen Reichtum und seine Kraft. Menschen leben im Glauben aus einem „Überschuss des Möglichen“ (Ingolf Dalferth), über den sie nicht verfügen, sondern den Gott ihnen zuspielt, indem er im Alten immer wieder Neues möglich werden lässt. Er tut dies in überraschender, unableitbarer, wunderbarer Weise. Und er tut es nicht, weil wir es verdient hätten, sondern aus Liebe – bedingungslos, unverdient, umsonst.

Kraft der grenzenlosen Möglichkeiten Gottes eröffnen sich Menschen unerwartete neue Perspektiven, Erkenntnisse und Lebenschancen. Sie machen neue Begegnungen, erleben neue Wendungen in ihrem Leben und spüren neue Lebenskräfte. Die schöpferische Wirksamkeit Gottes ist nicht auf den Bereich menschlicher Innerlichkeit begrenzt, sondern wirkt gleichermaßen auch in den Zusammenhängen der Natur und den gesellschaftlichen und politischen Konstellationen der Geschichte. Gott ist über allen Dingen, in allen Dingen und durch alle Dinge am Wirken zum Wohl und zum Heil der ganzen Welt. Er richtet, rettet und schafft Neues in allem, was geschieht. Nicht nur, aber gerade in den Krisen des Lebens, greift das Vertrauen des Glaubens deshalb aus auf den, „der überschwänglich tun kann über alles hinaus, was wir bitten oder verstehen“ (Epheser 3, 20).

Gott hat die Macht. Und Gott ist die Liebe. 

Alle drei Teile des Textes finden Sie hier: www.zeitzeichen.net/node/10816

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