Vielstimmiges Ringen um das bessere Argument
Gestern diskutierte die Synode der EKD in Ulm unter anderem über eine angemessene Haltung zu einer möglichen Änderung des §218 (wir berichteten). Im Anschluss daran pointieren der Münchner Theologieprofessor Reiner Anselm und sein Erlanger Kollege Peter Dabrock ihre Position nochmals mit besonderem Blick auf die aktuellen gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen, die einer Lösung bedürfen.
Die EKD plane einen Paradigmenwechsel, wie der Schwangerschaftsabbruch zu beurteilen und mit ihm umzugehen sei. So lautet das Narrativ, das gerade von manchen Medien, Kirchenvertretern und Theologen verbreitet wird. Und sie fügen an: Dabei passe man sich dem Zeitgeist an und vernachlässige theologische Fundierung und „fachethische“ Standards.
Wie so oft, verraten die Erzähler – und bewusst wird hier das Maskulinum nicht generisch verwendet – mehr über sich als über die Sache. Die ist viel zu ernst, um sie zum Spielball vermeintlicher Interessen zu machen. Denn es geht nicht um macht- und kirchenpolitische Interessen, sondern darum, eine ethische Orientierung und eine rechtliche Regelung für eine äußerst sensible Problemlage zu finden: Wie weit und mit welchen Mitteln darf die Gesellschaft in den intimsten Bereich einer Frau, in ihre Lebensführung und ihren Lebensentwurf eingreifen, um in der frühen Phase einer Schwangerschaft das Lebensrecht des Ungeborenen auch gegen den erklärten Willen der Schwangeren zu schützen, in deren Körper das Ungeborene heranwächst? Dabei zeigt die komplizierte Beschreibung des Problems bereits, dass einfache Gegenüberstellungen nicht weiterhelfen. Sie treffen noch nicht einmal die Problemlage.
Um sich zu vergegenwärtigen, wie sensibel und wie einzigartig die Frage einer rechtlichen Regelung des Schwangerschaftsabbruchs ist und welche Probleme bei der ethischen Urteilsbildung zu bedenken sind, sollte man sich klarmachen, dass nur im Fall des Schwangerschaftskonfliktes überhaupt zur Debatte steht, eine Person gegen ihren Willen zu verpflichten, den eigenen Körper irreversibel für den Schutz eines anderen sowie den Schutz gesellschaftlicher Interessen und Überzeugungen einzusetzen. Selbst bei der Wehrpflicht kennt die Rechtsordnung ein sogar grundrechtlich verbrieftes Recht, sich unter Berufung auf eine Gewissensentscheidung der Pflicht zum Einsatz des eigenen Körpers zu entziehen.
Eine wichtige Einsicht: Das Interesse, die derzeitige Regelung weiterzuentwickeln, ist aus der gestiegenen Aufmerksamkeit für die Einzigartigkeit der Konfliktlage, vor allem für die Schwangere, entstanden. Hier diffamierend und abschätzig von einer Anpassung an den Zeitgeist zu sprechen, offenbart nicht gerade eine seriöse Kenntnis der Debattenlage.
Entwicklungen nachvollziehen
Im Versuch, die derzeitigen Regelungen weiterzuentwickeln, werden nicht etwa ethische Standards geschleift, sondern es ist das Bemühen leitend, im nationalen Recht das nachzuvollziehen, was sich auf internationaler Ebene im Blick auf die spezifischen Rechte von Frauen, auch und gerade im Zusammenhang der Reproduktion, entwickelt hat. Hier halten sowohl die UN-Frauenrechtskonvention als auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention fest, dass sich Frauen frei für oder gegen Kinder entscheiden können und ihnen die entsprechenden Ressourcen zur Umsetzung dieser Entscheidung zu gewähren sind. Ergänzende Erklärungen dazu haben auf der Ebene internationaler Menschenrechtsdiskurse die Sachlage präzisiert, ohne dass es bislang zu einer Umsetzung dieser größtenteils explizit auch von der Bundesrepublik anerkannten Übereinkommen und Erklärungen in nationales Recht gekommen ist.
Gerade wenn man also – mit guten Gründen – für die Geltung der Menschenrechte eintritt und auch mit ebenso guten Gründen sich an die Seite derer stellt, die für eine Stärkung des Völkerrechts eintreten, muss man anerkennen, dass eine erneute Überprüfung der nationalen Rechtslage, wie sie nun durch die – demokratisch legitimierte – Bundesregierung auf den Weg gebracht worden ist, ihre eigene, gerade auch ethisch stark begründete Bedeutung hat. Als Weiterentwicklung der Zwei-Reiche-und-Regimenten-Lehre hat dies die evangelische Rechtsethik eigens hervorgehoben.
Dabei steht es gerade der Kirche gut an, diese stärkere Berücksichtigung der spezifischen, unvergleichlichen Situation der Frauen in den Blick zu nehmen und sich für ihre Menschenrechte einzusetzen, präziser: sich für Frauenrechte einzusetzen, denn im Rahmen der Reproduktion gibt es Schutzbedürfnisse, die sich einzig auf die Situation der Schwangerschaft beziehen und in dieser Form das Sonderrecht von schwangeren Personen sind. Denn eine Schwangere ist durch die Schwangerschaft nicht nur, wie es das Bundesverfassungsgericht in beiden Urteilen zum Schwangerschaftsabbruch festhielt, „in manchen persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten beeinträchtigt“ (BVerfGE 39, 1 [43]). Vielmehr sind damit fundamentale körperliche Veränderungen und irreversible Entscheidungen verbunden, deren Entscheidbarkeit durch die betroffene Frau eigens zu schützen ist.
Es steht allerdings zu befürchten, dass sich ein Großteil der Kritik an der Stellungnahme des Rates der EKD auf die Anfrage der Regierungskommission für reproduktive Selbstbestimmung und Fortpflanzung und den sie erläuternden Diskussionsbeitrag von Reiner Anselm, Petra Bahr, Peter Dabrock und Stephan Schaede genau auf diesen Punkt konzentriert: Die Anerkennung nämlich von spezifischen, die Sonderstellung der (schwangeren) Frau betreffenden Rechtspositionen. Sollte dem so sein und sollten sich genau an diesem Punkt, nämlich an der Stellung der Frau, die Wege in der ethischen Ökumene trennen, so wäre dies aus evangelischer Sicht mit guten theologischen Gründen nicht nur nicht zu bedauern, sondern gar zu fordern. Denn dass schon der priesterschriftliche Schöpfungsbericht festhält, die Gottebenbildlichkeit des Menschen bestehe gleichermaßen für die nach seinem Bild geschaffene Frau wie den Mann (vgl. Genesis 1,27), sollte außer Zweifel stehen, ebenso wie die Aussage des Paulus im Galaterbrief, dass in der Gemeinde Christi der Unterschied von Mann und Frau gegenstandslos sei (vgl. Galater 3,28).
Ökumene wichtiges Ziel, aber …
Es ist beschämend, dass es der aufklärerisch-liberalen Rechtsentwicklung bedurfte, um diese gegenüber der orientalisch-antiken Umwelt durchaus revolutionäre Neuprägungen der biblischen Überlieferung erneut in den Vordergrund der christlich-religionskulturellen Aufmerksamkeit zu rücken. Umso wichtiger ist es, dies nun mit Nachdruck zu betonen. Dass dies von der römisch-katholischen Kirche nicht in derselben Weise nachvollzogen wurde und wird, ist nicht nur zu bedauern, sondern deutlich zu kritisieren. Sicher stellt die Ökumene ein wichtiges Ziel dar, aber das kann und darf kein Grund sein, in der Aufgabe eigener Überzeugungen und in Verkennung der tatsächlichen Situation des ökumenischen Gesprächs der Anerkennung der Frau in ihrer Gleichwertigkeit – wohlgemerkt: nicht in ihrer Gleichheit! – die Zustimmung zu versagen.
Nebenbei: Die Ökumene zu vielen katholischen Frauen, die sich in dieser Frage der EKD-Positionierung näher fühlen als der ihrer Amtskirche, dürfte sehr wohl gestärkt werden. Überhaupt ist in der bioethischen Ökumene seit vielen Jahren mehr Schein als Sein, wie Philipp Greifenstein jüngst trefflich analysiert hat. Schließlich: Wenn diese Aufnahme des völkerrechtlichen Diskurses und der Weiterentwicklung der Menschenrechte die bloße Anpassung an den Zeitgeist darstellen sollten, so wäre dieser vermeintliche Makel eine Auszeichnung. Gleiches gilt im Übrigen, sollte der attestierte Paradigmenwechsel in der stärkeren Berücksichtigung der spezifischen, einmaligen Situation der Schwangeren bestehen.
In seiner Replik auf unseren Beitrag Dem tatsächlichen Schutz des Lebens dienen hier auf zeitzeichen.net wünscht sich Ernst-Wilhelm Gohl vertiefende Gespräche. Nicht anders war bereits unser Artikel zu verstehen. Niemand beendet in evangelischen Debatten die Diskussion, sondern treibt sie mit einem eigenen Beitrag weiter. Weitere Gespräche sollten sich auf die Frage beziehen, wie die einzigartige Konfliktlage, die aus der allseits anerkannten besonderen Beziehung der Schwangeren zum Ungeborenen als einer „Einheit in Zweiheit“ entsteht, ethisch und rechtlich zu bewerten ist. Und man sollte dabei anerkennen, dass die bisherige Modellierung des Konflikts einseitig zu Lasten der Rechte der Schwangeren aufgelöst worden ist. Hier möchten wir, abseits davon, was an unseren bisherigen Ausführungen wahrscheinlich schlicht überlesen wurde, noch einmal deutlich machen, welche Überlegungen theologischer wie „fachethischer“ Art uns zur Überzeugung gebracht haben, dass eine Regelung des Schwangerschaftskonflikts außerhalb des Strafgesetzbuchs bei gleichzeitiger Beibehaltung einer Beratungspflicht möglich ist. Dies wie auch unseren vorhergehenden Beitrag verstehen wir selbst ebenfalls als Einladung, in dieser schwierigen Frage nach menschendienlichen Lösungen zu suchen.
Vielfalt von Positionen würdigen
Wer einlädt, rechnet damit, dass Andere andere Auffassungen – aber bitte begründet und nachdenklich – einbringen. Dass dabei Vielstimmigkeit entsteht, ist Ausdruck des Ringens. Wir tun gut daran, und das macht das Evangelische aus, diese Vielfalt von begründbaren Positionen zu würdigen. Lassen Sie uns nicht den Geist der Verzagtheit annehmen, der behauptet, nur eine einzige Position in Fragen der Lebensführung sei eine gute, auch politisch gute. Kluge Politik sieht es als Stärke an, wenn wir nicht den Eindruck erwecken, als ob es die eine Position gäbe.
Vielleicht liegt da schon eine Wahrnehmungsdifferenz gegenüber denjenigen, die im Jahre 2023 behaupten, die gesetzliche Regelung aus dem Jahre 1995 habe bis heute den gesellschaftlichen Frieden in einer hochgradig umstrittenen Frage gewahrt und solle deshalb in Zeiten gesteigerter Polarisierung nicht aufgeben werden. Wir würden dagegen fragen: Wer definiert aus welcher Perspektive, dass die Lage von 2023 und 1995 die gleiche ist? Muss man nicht unter dem Eindruck der gerade geschilderten gesellschaftlichen Transformationen zu einer endlich angemessenen Anerkennung derjenigen, die den Konflikt für sich entscheiden muss, kommen und auch den alten Kompromiss hinterfragen? Mit Blick auf eine theologische Rechtsethik gefragt: Reichen vermeintliche Klugheitsargumente als hinreichende Gegenargumente gegen Initiativen der demokratisch gewählten Exekutive aus?
Wenn all das problematisch erscheint, muss man nochmals fragen: Wo also ist der eigentliche Kern des Ringens um den Schwangerschaftsabbruch im Jahre 2023, in dem gefordert wird, den Schwangerschaftsabbruch nicht gänzlich, aber doch umfangreicher als bisher außerhalb des § 218 StGB zu regeln? Zunächst ist daran zu erinnern, dass die von der Frauenrechtsbewegung vorgebrachte Kritik an der einseitig und eindeutig zu Lasten der Frau gehenden Regelungen des § 218 so alt ist wie der Paragraph selbst.
Allerdings wird man durchaus anerkennen können, dass mittlerweile von dieser eindeutig sozialdisziplinierenden und gegen das Selbstbestimmungsrecht der Frau gerichteten Zugangsweise nicht mehr viel übriggeblieben ist. Einzig die Aufnahme des Schwangerschaftsabbruchs in das Strafgesetzbuch und die Einordnung unter die „Straftaten gegen das Leben“ lässt den historischen Kern noch erkennen, verbunden mit der rechtlich ganz und gar einmaligen Konstruktion, dass die Rechtswidrigkeit bestehen bleibt, auch wenn der die Strafe begründende Tatbestand des Schwangerschaftsabbruchs, den § 218 StGB regelt, nicht verwirklicht ist, wenn die Schwangere vor dem Abbruch den Nachweis über eine Beratung in einer entsprechenden Einrichtung vorlegen kann (§ 218a). Auch wenn diese Beratung dem Leben dienen und darauf hinweisen soll, dass der Abbruch rechtswidrig ist und eine Ausnahme darzustellen hat, ist sie ausdrücklich ergebnisoffen zu führen (§ 5, Abs. 1 SchwKG).
Beruhigung der eigenen Klientel?
Die Rechtsordnung erkennt dabei an, dass die Entscheidung letztlich von der Schwangeren selbst getroffen werden kann und muss. Ein absoluter Lebensschutz – wie bisweilen vermutlich zur Beruhigung der eigenen Klientel insinuiert wird – lässt sich a priori nicht umsetzen, wenn man – wie im gemeinsamen Paper des katholischen Bischofs Fürst und des evangelischen Bischofs Gohl behauptet – den Lebensschutz des Embryos und das Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren „nicht gegeneinander ausspielen wolle.“
Macht man mit diesem Satz im Einzelfall ernst (wo, wenn nicht am Einzelfall, soll er sich bewähren?) und trägt ihn nicht wie eine leere Phrase vor sich her, dann muss man eben auch damit rechnen, dass eine Frau in Selbstbestimmung sagt: „Ich kann das in mir wachsende Leben nicht austragen.“ Dass aus evangelischer Sicht alles getan werden sollte, „Gegenkräfte zum Schwangerschaftsabbruch“ (Christiane Kohler-Weiß) zu stärken, haben sowohl der Rat der EKD wie auch wir in unserem gemeinsam mit Petra Bahr und Stephan Schaede verfassten Beitrag intensivst ausgeführt, ja war der Ausgangspunkt beider Argumentationen.
Mit dieser Konstruktion, die Entscheidung bei der Schwangeren zu belassen, liegt letztlich das ganze Gewicht auf der verpflichtenden Beratung. Sie soll die Schwangere zu einer verantwortlichen eigenen Entscheidung befähigen und zugleich auch die Rechtsposition des Ungeborenen sowie die Leistungen, die die Gesellschaft unterstützend zu gewähren bereit ist, darlegen. Nach Auskunft der Beratenden gelingt das auch in den allermeisten Fällen, auch wenn zuzugestehen ist, dass ein Teil der Schwangeren bereits mit einer gefestigten Position die Beratungsstellen aufsucht.
Es liegt in der Natur der Sache, dass solche Beratungsprozesse aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes nicht genauer dokumentiert werden. Dennoch bleibt es ein schmerzliches Desiderat, dass die Daten über Beweggründe, über konkreten Unterstützungsbedarf und tatsächliche Hilfsmöglichkeiten ausgesprochen dürftig sind. Trotz allem: Hier ist ein Modell des Interessenausgleichs entstanden, dessen Leistung allenthalben anerkannt wird. Zu diesem Modell gehört, das sei als Reaktion auf einen angeblich unbegründeten Paradigmenwechsel ausdrücklich erwähnt, dass die Schwangere gemäß § 218a (4) bis zur 22. Schwangerschaftswoche nach erfolgter ärztlicher Beratung straffrei bleibt.[1]
Anders als etwa die Diakonie Deutschland oder auch viele Frauenverbände es fordern, scheint es uns aus ethischen und auch aus theologischen Gründen notwendig, an einer Beratungspflicht festzuhalten, wobei deren konkrete Ausgestaltung, ob im Nebenstrafrecht oder als Ordnungswidrigkeit der weiteren, auch hier zu führenden Diskussion vorbehalten bleiben soll. Denn die Beratung eröffnet die Möglichkeit der Selbstreflexion, indem sie die dazu auffordert, die Gründe, die zur eigenen Entscheidung geführt haben oder führen, einmal explizit zu formulieren. Es macht einen Unterschied, ob dies nur im Selbstgespräch oder zumindest einmal im Gegenüber zu einer geschulten Gesprächspartnerin erfolgt. Zudem ist es dem Sachverhalt geschuldet, dass in der Tat die Balance zwischen Schwangerer und Ungeborenen nun auch nicht einseitig zulasten des Ungeborenen aufgelöst werden darf. Die Gesellschaft hat hier eine Schutzpflicht, die an dieser Stelle auch zur Geltung gebracht werden kann und soll.
Keine unzumutbare Bevormundung
Gerade weil wir für die Neubewertung der Rolle der Schwangeren eintreten, stellt es in unseren Augen keine unzumutbare Bevormundung dar, ihr die Pflicht zur Beratung und damit die Rechtfertigungspflicht des eigenen, selbstbestimmten Handelns aufzuerlegen. Wo gewünscht, kann diese Beratung dann auch der Ausgangspunkt sein, über Schuld und Rechtfertigung im Horizont des Glaubens nachzudenken, allerdings sollten die Gesprächsformen nicht verwischt und nur entsprechende Anschlussmöglichkeiten präsentiert werden.
Dies alles vor Augen, stellt sich umso deutlicher die Frage, wozu es unter diesen Bedingungen die Feststellung, dass die Schwangere eine grundsätzlich rechtswidrige Tat begeht, als Vorschrift des Strafgesetzbuchs noch braucht? Wohlgemerkt: unter der Bedingung, dass die Beratungspflicht, die Aufforderung, rechtfertigende Gründe zu benennen, aufrecht erhalten bleiben und nicht-freiwillig durchgeführte Schwangerschaftsabbrüche und Spätabbrüche selbstverständlich strafbewehrt bleiben.
Wäre es nicht an der Zeit, diesen Rest der ursprünglichen Zielsetzungen des § 218, der sich in der Tat gegen ein libertäres Ausüben des Selbstbestimmungsrechts durch die Frauen wendete, auch zu beseitigen und damit die besondere Situation gerade der frühen Schwangerschaft ausdrücklich anzuerkennen? Es handelt sich angesichts der bereits jetzt herrschenden Regelung um eine symbolische Anerkennung, die an der faktischen Struktur, wie die Entscheidungen derzeit getroffen werden, nichts ändert. Aber sie ist für die Betroffenen in ihrer existenziellen Not eine wichtige Geste, die ihre Eigenverantwortung – und damit auch ihre Entscheidung sowie die damit einhergehende Rechtfertigungsbedürftigkeit ausdrücklich anerkennt.
Genau die Wegnahme der Pönalisierung wäre verantwortungsethisch ein Schritt, die Gegenkräfte gegen den Schwangerschaftsabbruch zu stärken. Glaubt denn irgendjemand, eine Frau mache sich die Entscheidung leicht? Glaubt denn irgendjemand, die straffreie Rechtswidrigkeit halte Frauen, die zum Abbruch entschlossen sind, davon ab? Verantwortungsethisch haben wir wie auch der Rat der EKD die erfolgreicheren, sprich: dem Leben dienenden Wege zuvor skizziert: Beratung und Unterstützung.
„Mehr Theologie?“
Allen, die sich in ihrem Ringen um die verantwortlichere im Spektrum der angebotenen Lösungen durch die Kritik an der vermeintlichen Theologieferne der Stellungnahme der EKD verunsichert fühlen, sei versichert: Es ist ein Leichtes, in den konkreten, hier notwendig nur in den Grundlinien skizzierten rechtsethischen Fragen zum Schwangerschaftsabbruch wie in vielen anderen ethischen Konflikten „mehr Theologie“ zu fordern. Zugleich bleiben die, die die Forderung aufstellen, oft weit hinter ihrem eigenen Anspruch zurück. Diese Diskrepanz wiederum ist wenig glaubwürdig. Da es aber in theologischen und kirchlichen Beiträgen zu konkret-ethischen Fragen eine allseits beliebte rhetorische Figur ist, andere Argumentationen mit diesem Hinweis zu verunglimpfen, verdient sie eine kritische, d.h. unterscheidungskompetente Reflexion, um sich nicht an falscher Stelle verunsichern zu lassen.
Man beginne erneut mit der ganz einfachen Rückfrage: Was soll denn der theologische Beitrag sein, den man in der Debatte um die rechtliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs im Jahre 2023 erwartet? Soll es ein Verweis auf die Bibel sein? Dabei kann es ja nicht darum gehen, einzelne biblische Szenen oder Verse herbei zu beschwören. Selbstverständlich ist es anregend, sich zu fragen, ob Schwangerschaftsabbrüche als Konflikt zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren und dem Lebensrecht des Ungeborenen in irgendwelchen biblischen Traditionen vorkommen. Man erkennt schnell: Nein! Das ist nicht der Fall. Auch der einzige Fall, bei dem es zu einer fahrlässigen Herbeiführung einer Fehlgeburt kommt (Exodus 21, 22-25[2]), dürfte wenig Orientierungspotenzial für die schwierigen aktuellen Fragestellungen bieten. Das ist eine Binsenweisheit für alle, die sich als evangelische Theolog:innen mit ethischen Fragestellungen auseinandersetzen – wie bei fast allen durch moderne (biomedizinische) Technologien nochmals verschärften Konfliktlagen.
Ebenso wenig orientierend für die infrage stehenden Sachverhalte sind die Gebotsformulierungen des Dekalogs. Dass zwischen der Unbedingtheit des Dekaloggebotes „Du sollst nicht töten!“ (das seine Apodiktizität nur gegenüber dem unbegründeten Morden aufrecht erhält) und den vielen begründeten Ausnahmen eine Spannung herrscht, wissen alle, die sich auch nur ein wenig in die Materie vertieft haben. Selbst beim Schwangerschaftsabbruch räumen sogar „pro-life“-Hardliner ein, dass bei einer Schwangerschaft nach einer Vergewaltigung oder einer medizinischen Notlage ihr ansonsten hochgehaltenes, vermeintlich kategorisches Tötungsverbot Risse bekommt.
Deshalb ist es Stand der ethischen Debatte, nicht einfach auf die Bibel, sondern auf sich durch die biblische Tradition durchziehende Motive zu verweisen. Motive, die in ihrer Vielfalt – zumindest in der evangelisch-theologischen Tradition – von der zentralen Botschaft der Rechtfertigung der gottlosen Sünder und der Versöhnung der Welt in Jesus Christus her gebündelt werden. Selbst wenn man dann die Gottebenbildlichkeit des Menschen (als Präfiguration der Menschenwürde), die jedem Menschen gerade auch in all seiner Endlichkeit, seiner Verletzlichkeit und seinem Scheitern von Anfang bis Ende gilt, oder wenn man die Gemeinschaftstreue (als Präfiguration von Solidarität, Gerechtigkeit, Inklusion, Beteiligung und Befähigung) oder wenn man den Schalom als Impuls für einen gerechten Frieden, der mehr ist als Waffenstillstand, als solche Hauptlinien mit systematischem Einfluss für gegenwärtige ethische Urteilsbildung identifiziert – man wäre doch allzu naiv, wenn man behaupten wollte: Jetzt hätte man den Schlüssel für aktuelle konkret-ethische Entscheidungsstrategien auf der Schwelle von Politik, Recht und Zivilgesellschaft, in der die Kirchen und Theologien ihren Ort haben. Da ist nicht nur der breite historische Graben zwischen antikem Denken, vermittelt über mehrere Tausend Jahre Kulturgeschichte, hermeneutisch zu bedenken, sondern auch die im Verhältnis dazu völlig eigentümliche Gegenwart einer komplexen und pluralistischen Weltgesellschaft und die mit ihr einhergehenden Rechtsprozesse, die ja ihre eigene ethische Dignität haben – ganz zu schweigen von der Vielfalt der sozialpsychologischen Vorurteilsstrukturen (sogenannte Biases), die moralische Urteile oft indirekt, aber wirksam prägen. Wir können es drehen und wenden, aber wir werden die sowohl in den maßgeblich erachteten biblischen Traditionen selbst vorfindlichen wie in der Rezipierendenperspektive nicht zu bändigende sozialpsychologische Vielfalt nicht in den Griff bekommen. Das Schriftzeugnis ist insofern immer das Zeugnis derer, die sie lesen, ihrer Vorprägungen und auch ihrer Vorurteile. Dies ist unvermeidlich.
Relationale Anthropologie
Mit all dem ist dann auch noch nicht die ganze Problematik einer Verhältnisbestimmung zwischen naturwissenschaftlichen Aussagen und den auf sie bezogenen Konsequenzen in den Blick genommen, das vielleicht herausforderndste Problem einer evangelisch-theologischen Bioethik: Die evangelische Tradition hat in Übereinstimmung mit der biblischen Tradition an die Stelle einer Substanzontologie eine Ontologie der Beziehungen gesetzt. Das heißt: Nicht die natürlichen Fertigkeiten, sondern die Beziehungen, allen voran die Beziehung zu Gott, konstituieren den Menschen. Diese relationale Anthropologie bildet auch die Grundlage der ethischen Theoriebildung, die im Hintergrund der Stellungnahme des Rates der EKD steht und die wir gemeinsam mit Petra Bahr und Stephan Schaede näher erläutert haben. Niklas Schleicher hat dies in einem Kommentar in „Die Eule“ noch einmal detailliert rekonstruiert. Mit dieser Herangehensweise konnte die reformatorische Theologie nicht nur das Besondere des Glaubens als Beziehungsgeschehen entfalten und besonders die Substanz-Akzidenz-Unterscheidung nach Thomas von Aquin zurückweisen. Zugleich bahnte sie damit einen Weg, in der Ethik den Sein-Sollens-Fehlschluss zu vermeiden.
Dennoch aber kann eine ethische Theoriebildung nicht im Sinne einer bloß konstruktivistischen Erkenntnistheorie entworfen werden, sondern muss einen Bezug zur Empirie und zum naturwissenschaftlichen Kenntnisstand herstellen. Dort aber stellen sich neue Fragen: Was meint heute Anfang und Ende des individuellen Menschseins, wenn wir neue biomedizinwissenschaftliche Beobachtungs- und Interventionsmöglichkeiten und darauf aufruhende neue, zum Teil im Ergebnis miteinander inkompatible Naturwissenschaftstheorien haben, die Evidenzen, die noch vor Jahrzehnten gegolten haben, unklar(er) machen: Weder ist der Zeitpunkt etwa der Befruchtung klar zu bestimmen (ganz zu schweigen, was dieser Begriff eigentlich meint) noch stellt eine Schwangerschaft einfach die Reifung einer Leibesfrucht unabhängig von dem Beitrag der Mutter dar.
Zumindest in der ersten Hälfte der Schwangerschaft – hier liegt auch die Ratio der gegenwärtigen Regelungen – bedarf es einer intensiven und noch lange nicht verstandenen Interaktion zwischen mütterlichem und kindlichem Organismus, nicht zuletzt etwa für den Beginn des Denkens. Es sei damit überhaupt nicht gesagt, dass keine politische, rechtliche und ethische Orientierung mehr möglich wäre. Aber zur ethischen Ehrlichkeit gehört eben, dass mit einigen markigen Formulierungen die Herausforderungen im Jahre 2023 nicht gelöst sind.
Um es an der hier debattierten Fragestellung der möglichen Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs zu verdeutlichen: Da schreiben der katholische Bischof von Rottenburg Stuttgart und der evangelische Landesbischof von Württemberg in einer Stellungnahme zur EKD-Stellungnahme: „‘Das Leben ist Gabe Gottes. Gott überlässt seine Gabe nicht den Mächten der Zerstörung. Menschen sind berufen, Gottes Willen zu tun und Leben wie Lebensmöglichkeiten auf der Erde zu bewahren.‘ Diese Grundüberzeugung wurde 2000 in einer gemeinsamen Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz in ökumenischer Einigkeit formuliert. Daran orientieren wir uns bis heute. Wir betonen den gottgegebenen Wert des Lebens von seinem Beginn an bis zu seinem Ende. Der Mensch als Gottes Ebenbild hat eine unverlierbare Würde und ein unveräußerliches Lebensrecht.“
Jenseits der Gemeinplätze
Wer wollte widersprechen? Unser zeitgleich geschriebenes Diskussionspapier setzt ähnlich an und von Anselm bis Körtner könnten analoge Zitate gebracht werden. Aber seien wir ehrlich: Alle ernsthaften ethischen, rechtlichen und politischen Probleme beginnen doch erst jenseits dieser Gemeinplätze. Sie sind so richtig wie nichtssagend, wenn es um konkrete Handlungsoptionen geht, bei denen die Probleme eben im Detail liegen und für die ohne einen ethischen Kohärentismus keine Orientierung und auch verantwortliche rechtlich Umsetzung zu gewinnen ist.
Das gilt im Übrigen auch für die folgende Aussage des Bischofspapiers: „Der Schutz ungeborenen Lebens ist eine Aufgabe der ganzen Gesellschaft. Es ist daher wichtig, immer wieder darauf hinzuwirken, dass die Gesellschaft familienfreundliche und unterstützende Rahmenbedingungen für Kinder schafft. Ziel dieser Rahmenbedingungen ist es, dass Eltern zu ihrem Kind schon während der Schwangerschaft ‚ja‘ sagen können.“
Seien wir doch mit uns und anderen ehrlich: Die Probleme beginnen erst, wenn diese Aussage in konkrete gesetzliche Regelungen umgeschrieben werden muss. Unser Vorschlag war: Mehr Lebensschutz, indem wir die Selbstbestimmung der Frau stärken. Dazu trägt bei, sie von der Verdachtshermeneutik der Pönalisierung zu befreien und für die Stärkung der Eigenverantwortung und Selbstbestimmung eben auch mehr Ressourcen in die Beratungs- und Unterstützungsstrukturen für die Frau, ihren Partner und die betroffenen Familien zu stecken. Ja, da wird sich zeigen, wie ernst die Gesellschaft es damit meint, die Gegenkräfte zum Abbruch zu stärken: Das Ganze wird den Staat, aber auch die Wohlfahrtsträger etwas kosten.
Wenn wir in der evangelischen Kirche das Gespräch – bitte unbedingt auch unter einer stärkeren Beteiligung von Frauen – weiterführen, sollten wir es so tun, dass wir uns nicht auf Gesetzespredigt und theologisch salbungsvolle Worte beschränken, sondern so in „Tat und Wahrheit“ (1. Johannes 3,18) Vorschläge unterbreiten, die effektiv und nicht nur gesinnungsmotiviert dem ungeborenen Leben dienen. Das wird nur dann gelingen, wenn Frauen Mut gemacht wird, eine Schwangerschaft auszutragen. Angst zu machen, ist kein guter Ratgeber, erst recht nicht für eine Kirche, die Menschen in all ihren Lebenserfahrungen an der Seite stehen will. Ihr Kompass sollte sein: „Furcht gibt es nicht in der Liebe.“ (1. Johannes 4,18).
[1] Umso erstaunter, um nicht zu sagen irritierter waren wir, zu lesen, dass Bischof Gohl unseren Verantwortungsbegriff – und dann noch mit dem Gestus, wir mögen uns doch „fachethisch“ klüger machen – kritisierte. Offensichtlich hat er nicht realisiert, dass unser Insistieren auf gesellschaftlicher Verantwortung die Schwangere nicht entmündigen soll, im Gegenteil: Ziel ist die Stärkung ihrer am Ende eben unabweisbaren Verantwortung. Gohl scheint dagegen den Frauen das „Recht auf Entscheidung“, das „unter der Hand zu einer großen Last“ würde, den offensichtlich seines Erachtens überforderten Frauen abnehmen zu wollen. Soll etwa über die Frau hinweg entschieden werden? Soll sie etwa doch entmündigt werden? Das kann er nicht wollen. Wir legen dagegen Wert darauf, dass die letzte Verantwortung bei der Frau liegt und es eine Pflicht der Gesellschaft gibt, angesichts dieser Last ihr gegenüber unterstützend tätig zu werden. Anderen wie bspw. dem theologischen Ethiker Alexander Maßmann ist diese doppelte Verquerung im Verantwortungsverständnis Gohls zuvor schon aufgefallen.
[2] „(22) Wenn Männer miteinander streiten und stoßen dabei eine schwangere Frau, sodass ihr die Frucht abgeht, ihr aber sonst kein Schaden widerfährt, so soll man ihn um Geld strafen, wie viel ihr Ehemann ihm auferlegt, und er soll’s geben durch die Hand der Richter. (23) Entsteht ein dauernder Schaden, so sollst du geben Leben um Leben, (24) Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, (25) Brandmal um Brandmal, Wunde um Wunde, Beule um Beule.“ (Exodus 22, 22-25)
Reiner Anselm
Dr. Reiner Anselm ist Professor für Systematische Theologie und Ethik an der Universität München.
Peter Dabrock
Peter Dabrock ist seit 2010 Professor für Systematische Theologie mit dem Schwerpunkt Ethik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Von 2012 bis 2020 war Dabrock Mitglied des Deutschen Ethikrates und von 2016 bis 2020 dessen Vorsitzender.