Pflichtlektüre

Deutsch-jüdische Geschichte

Stellen wir uns einfach mal vor, ein Teil des Staates Israel wäre heute in Bayern. Klingt abstrus, ist es aber nicht. Den Vorschlag zu einer jüdischen Zone dort ließ Militärgouverneur Eisenhower immerhin prüfen. Die meisten der 200 000 Shoa-Überlebenden, die 1945 als Displaced Persons in Deutschland waren, befanden sich in der US-Zone und eben in Bayern. Zuerst weiterhin in KZs untergebracht, zudem mit Antisemiten sowie am Holocaust beteiligten DPs, richtete man dann rein jüdische Lager ein. Eines war Föhrenwald in Oberbayern, ein Ortsteil der Kleinstadt Wolfratshausen, angelegt als Nazi-Mustersiedlung für Arbeiter von Munitionsfabriken. Bis zu 6 000 Juden lebten zeitweise dort. Als letztes solcher Lager wurde es, das muss man so bös sagen, 1957 „judenfrei“, denn darauf kam es den nun bundesdeutschen Behörden an.

Der Wolfratshauser Journalist Alois Berger wurde in dem Jahr geboren. Juden kamen in seinem katholischen Alltag bloß zu Ostern vor, als Jesusmörder. In Föhrenwald ging er zur „Spätberufenen-Schule“, wusste aber bis 2017 – von nichts. Von seiner früheren Lehrerin erfuhr er, dass es Juden gegeben hatte und beim Renovieren mitunter mal ein Davidstern und hebräische Schriftzeichen aufgetaucht waren oder eine Menora auf einem Giebel durchschimmerte. Doch erzählt hatte all die Jahre niemand etwas.

Das holt Alois Berger nun mit Föhrenwald, das vergessene Schtetl nach, auch weil er wissen wollte, warum er so lange „mittendrin und ahnungslos“ war. Gut lesbar und breit recherchiert bringt er weitaus mehr zutage als eine lokale Randnotiz. Das Buch profitiert sehr von vielen Gesprächen mit Augenzeugen, vor allem als Kinder dort Aufgewachsenen, aber auch mit „Shabbes-Gojim“, die für Fromme samstags Arbeiten übernahmen. Zu Beginn dominierten dort nämlich Chassiden – Jiddisch war Lagersprache und Föhrenwald „das letzte Schtetl Europas“. Als sich deren Rabbi ein zionistischter Aktivist entgegenstellte, der samt Partnerin und achtzig aus Polen herausgeschmuggelten Waisenkindern im Lager ankam, gab es Konflikte.

Föhrenwald wurde dann quasi Teil der Kibuzzim-Bewegung, auch mit Kontakt zur „Haganah“, Israels bis 1948 illegaler Untergrundarmee. Im „Hochlandlager“, einer landwirtschaftlichen Außenstelle und einst HJ-Camp, bildeten sie geheim Offiziere aus. Mit der Staatsgründung stand Israel ja der erste Krieg bevor. Der Lagerzuzug hielt unterdessen lange an. Pogrome wie das im polnischen Kielce 1946 und der russische Antisemitismus trieben viele Überlebende gen Westen. In Bayern, dessen Polizei und Justiz wie überall in der BRD Nazi-dominiert waren, wollte man sie aber loswerden. Man setzte auf Schikane, sorgte sich allerdings um die Weltöffentlichkeit. Der zuständige Staatssekretär – er brachte auch den Auschwitz-Überlebenden Philipp Auerbach zur Strecke  – hatte die zündende Idee: Man verkaufte Föhrenwald der katholischen Kirche.

In konzentrischen Kreisen, die gleichermaßen in Lokal- und Weltpolitik ausgreifen, holt Berger die Geschichte und das Leben dahinter wieder ins Licht, darunter auch die von den ehemaligen Bielski-Partisanen, die sich in Föhrenwald wiedertrafen. Sie hatten in Ostpolens Wäldern 1 200 Menschen vor der Shoa bewahrt. In Schulen und Ministerien (nicht nur in Bayern) sollte dieses herausragende Buch Pflichtlektüre sein.

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