Schluss mit der Selbstverzwergung: In Philosophie und Theologie ist eine Drift hin zum Lebenspraktischen auszumachen. Fragen der Lebensführung und Lebensgestaltung sind nicht mehr tabu. Selbst das Lebensgefühl steht nicht länger unter Kitschverdacht. Eindrucksvoll gelingt dies dem Philosophen Byung-Chul Han, erklärt der Theologe und Schriftsteller Klaas Huizing.
Sowohl die Philosophie als auch die Theologie fuhren in Deutschland lange einen konsequenten Kurs der Selbstverzwergung, weil sie Gattungsunterschiede strikt hochhielten, lesbare Texte als Feuilleton bashten, die Fragen nach Lebenskunst oder Glück lieber als Franzosenkrankheit denunzierten. Der Essay als eigenständige Gattung wurde in den geisteswissenschaftlichen Instituten an deutschen Universitäten nie richtig heimisch. Abkopplungseffekte vom Lesepublikum nahm man gelassen hin. Klein, aber fein, bitteschön. Geschwindschreiber standen unter Verdacht. Und stilistische Könnerschaft wurde als Mätzchen abgeurteilt. Wer am Büchermarkt Erfolg hatte, flog hochkant aus dem kuscheligen Zitatkartell heraus. Peter Sloterdijk oder Byung-Chul Han wurden nicht einmal in Fußnoten beerdigt. Und hybride Formen von Philosophie verstießen gegen das Reinheitsgebot.
Nur langsam ändert sich die Großwetterlage. Sowohl in der Philosophie als auch in der Theologie ist eine Drift hin zum Lebenspraktischen auszumachen. Mit plötzlicher Vehemenz werden jetzt Fragen der Lebensführung und Lebensgestaltung behandelt. Sogar das Wort Lebensgefühl steht nicht länger unter Kitschverdacht. Orientierungswissenschaft lautet in neuem Design, vom erschöpften Ringen um Glaubensgewissheit entlastet, ein zentrales Stichwort. Ob sich in naher Zukunft universitäre Theologinnen und Philosophinnen ein Buch wie Lob der Erde. Eine Reise in den Garten (Vorsicht: ein Bestseller!) von Byung-Chul Han zu schreiben getrauen, bleibt abzuwarten. Ich würde es sehr gerne lesen.
Byung-Chul Han, der in Süd-Korea aufwuchs und dort mit einem Studium der Metallurgie begann (das erinnert spontan an Novalis), studierte dann in Deutschland Philosophie, deutschsprachige Literatur und – je nach Geschmack, ein kleines Wunder oder eine Irritation: katholische Theologie. Han bekleidete Professuren in Karlsruhe und Berlin. Kräftigen Import orderte er von Martin Heidegger und Michel Foucault. Der starke Einfluss von Heidegger zeigt sich auch bei seinem bisher letzten, wie häufig sehr schmalen und hoch konzentrierten Buch: Die Krise der Narration.[1] Im besten Byung-Chul-Han-Sound wird eröffnet: „Heute reden alle von Narrativen. Der inflationäre Gebrauch von Narrativen verrät paradoxerweise eine narrative Krise. Mitten im lärmenden Storytelling herrscht ein narratives Vakuum, das sich als Sinnleere und Orientierungslosigkeit äußert. Weder Storytelling noch der Narrative Turn wird die Rückkehr der Erzählung herbeiführen können. Das ein Paradigma eigens thematisch wird und auch zu einem beliebten Gegenstand der Forschung avanciert, setzt eine tiefliegende Entfremdung voraus. Der laute Ruf deutet auf deren Funktionsstörung hin.“ (9)
Han entleiht sich von Heidegger die Idee der Zuhandenheit aus dessen Hauptwerk Sein und Zeit und überträgt die Idee hoch kreativ auf die Narration. So wie der Hammer in seiner Unauffälligkeit zuhanden ist und seine Funktion erfüllt, so auch die vertraute Narration. Nur wenn der Hammerkopf wackelt, die Finne abgenutzt oder der Stil zerbrochen ist, wird er auffällig und negativ vorstellig. Vergleichbares gilt für Erzählungen: „Als Erzählungen uns im Sein verankerten, das heißt uns einen Ort zuwiesen und aus dem In-der-Welt-Sein ein Zu-Hause-Sein machten, indem sie dem Leben Sinn, Halt und Orientierung gaben, das heißt, als Leben selbst Erzählen war, war weder vom Storytelling noch von Narrativen die Rede. Solche Begriffe werden gerade dann inflationär verwendet, wenn Erzählungen ihre ursprüngliche Kraft, ihre Gravitation, ihr Geheimnis, ihre Magie verloren haben.“ (9f.) Von dieser Schwundkraft ist die Religion (und damit auch die Theologie) vehement betroffen. „Religion ist eine charakteristische Erzählung mit innerem Wahrheitsmoment.“ Und jetzt kommt mein Lieblingssatz: „Sie erzählt die Kontingenz weg. Die christliche Religion ist eine Metaerzählung, die jeden Winkel des Lebens erfasst und es im Sein verankert. Die Zeit selbst wird narrativ aufgeladen. Der christliche Kalender lässt jeden Tag als sinnvoll erscheinen. In der postnarrativen Zeit wird er zum sinnentleerten Terminkalender entnarrativiert. Religiöse Festtage sind Glanz- und Höhepunkte einer Erzählung. Ohne Erzählung gibt es kein Fest, keine Festzeit, kein Festlichkeitsgefühl als gesteigertes Seinsgefühl, sondern nur Arbeit und Freizeit, Produktion und Konsum. Feste werden in der postnarrativen Zeit zu Events und Spektakeln kommerzialisiert. Auch Rituale sind narrative Praktiken. Sie sind immer in einen Erzählkontext eingebettet. Als symbolische Techniken der Einhausung verwandeln sie das In-der-Welt-Sein in ein Zu-Hause-Sein.“ (10f.)
Wie Heidegger ist Han Verfallstheoretiker, der die Genese oder Genealogie von Entfremdungsprozessen aufspüren will, die zur langsamen „Erosion der Gemeinschaft“ (Vom Verschwinden der Rituale, 52021, 7) führen und nicht einfach rückabgewickelt werden können. Welteröffnende Narrative fallen nicht vom Himmel, lassen sich nicht, wie auch Rituale, über Nacht implementieren. Poetologisch bestimmt Han die Erzählung als „Schlussform. Sie bildet eine geschlossene Ordnung, die Sinn und Identität stiftet. In der von Öffnung und Entgrenzung geprägten Spätmoderne werden Formen des Schließens und Abschließens immer mehr abgebaut.“
Statt Erzählung, so Hans Gegenwartsanalyse, herrscht ein „Tsunami der Information“: In der Informationsgesellschaft wird die Information „additiv und kumulativ“ angehäuft, Information „ist kein Sinnträger, während die Erzählung Sinn transportiert. Sinn heißt ursprünglich Richtung. Wir sind heute also bestens informiert, aber orientierungslos.“ Und weil Informationen kein Angebot zum identitätsstiftenden In-der-Welt-Sein anbieten, kann Han sogar im Heideggersprech von einer Seinsvergessenheit reden.
Auch diese Pointe verdankt sich Heidegger: Han übernimmt die vehemente Technikkritik Heideggers (in allen seinen Essays): „Der Verlust an Empathie im Zeitalter des Smartphones ist ein beredtes Zeichen dafür, dass es kein Erzählmedium ist. Bereits sein technisches Dispositiv erschwert das Geschichtenerzählen. Tippen oder Wischen ist keine narrative Geste. Das Smartphone lässt nur einen beschleunigten Informationsaustausch zu. Außerdem setzt das Erzählen das Lauschen und die tiefe Aufmerksamkeit voraus. Die Erzählgemeinschaft ist eine Gemeinschaft der Lauschenden. Wir verlieren aber zusehends die Geduld fürs Lauschen, ja die Geduld fürs erzählen.“ (14) Han ist ein Meister darin, Entfremdungspotentiale zu entdecken, die positiven Effekte neuer Techniken interessieren ihn weniger. Deshalb ein kleiner Einspruch: Richtig ist: Neue Medien sind zunächst dominant und können Aufmerksamkeit bannen und dabei zum Fluch werden, diese neue Medien wie das I-Phone schaffen aber zugleich neue Formen von Öffentlichkeit, steigern mögliche Kooperationen. Das ist nicht eben wenig. Und: Es gibt nicht nur das Wischen als beinah obszöne Geste des Wegwischens, sondern auch die mit Daumen und Zeigefinger auszuführenden Streckung, ich nenne es: stretching von Photos, die im Freundschafts-Chat bei der besten Freundin im mitgeschickten Selfie Spuren von Trauer oder Missmut im Gesicht entdecken helfen – etwa nach der Trennung von einem Freund. Und diese Anzeichen im Gesicht können wie „Stiche“ (punctum: Roland Barthes) wirken, die die Aufmerksamkeit der Freundin wecken, die sie vielleicht erschüttern und sie dazu animieren, die Freundin anzurufen oder besser noch: aufzusuchen, um sie in den Arm zu nehmen. Die Kunst Gesichter zu lesen hat (auch) einen positiven Schub bekommen.
Für Han ist der neu-böse Feind der Neoliberalismus, der in einer großen Koalition mit anderen Autoren wie etwa mit dem Soziologen Hartmut Rosa oder dem Philosophen Axel Honneth für Entfremdungsprozesse wie den Verschnellungszwang vorgeladen wird. Die digitale Welt, so Han, erzeugt ein neues Regime und eine neue Herrschaftsform, das Informationsregime, dem wir uns durch liken und sharen unterwerfen. Das Fremde, das Andere, das ganz Andere, wird ausgetrieben. Diese neue „Welt bildet eine neoliberale Hölle des Gleichen ab, in der paradoxerweise Authentizität und Kreativität beschworen werden.“ (24) Das Selbst verkommt zum „Quantified Self“ (41), wir sind Nummerngirls und Nummerboys, transparent und ohne Geheimnis, leben in einer entzauberten Welt ohne Aura. „Die heutige Entzauberung geht auf die Informatisierung der Welt zurück. Die Transparenz ist die neue Formel der Entzauberung.“ (63, siehe Transparenzgesellschaft, 2012)
Als Heilmittel, als Antidot gegen die neoliberale Verwüstung tritt Han als Lizenzträger der Erzählung auf, die sich aus dem großen Reservoir von Erfahrung und Weisheit speist. Mit Benjamin deutet Han den Erzähler als Person, die „»dem Hörer Rat weiß«. Der Rat verspricht keine einfache Lösung des Problems. Er ist vielmehr ein Vorschlag, wie eine Geschichte fortzusetzen ist. Sowohl der Ratsuchende als auch der Ratgebende gehören in eine Erzählgemeinschaft. Wer Rat sucht, muss selbst erzählen können. Der Rat wird im gelebten Leben als Erzählzusammenhang gesucht und gegeben. Als Weisheit ist er »in den Stoff gelebten Lebens eingewebt«. Die Weisheit ist in das Leben als Erzählen eingebettet. Ist das Leben nicht mehr erzählbar, verfällt auch die Weisheit. An deren Stelle tritt die Technik der Problemlösung. Die Weisheit ist eine erzählte Wahrheit: »Die Kunst des Erzählens neigt ihrem Ende zu, weil die epische Seite der Wahrheit, die Weisheit ausstirbt.«“ (26)
Nur konsequent ist für Han auch die Theorie letztlich eine Erzählung und als solche auch Heilung, wie er mit einem Seitenblick auf Platon und Freud erinnert. „Bereits Platons Dialoge machen klar, dass die Philosophie eine Erzählung ist. Platon übt zwar im Namen der Wahrheit Kritik am Mythos als Erzählung, aber paradoxerweise macht er selbst sehr häufig Gebrauch von mythischen Erzählungen. In manchen Dialogen spielen sie eine zentrale Rolle. In Phaidon etwa erzählt Platon vom Schicksal der Seele nach dem Tod wie Dante in seiner Göttlichen Komödie. (…) Die Philosophie als »Dichtung« (mythos) ist ein Wagnis, ein wundervolles Wagnis. Sie erzählt, ja wagt eine neue Lebens- und Seinsform.“ (76f.) Das Erzählen erhebt Han zu einem medium salutis. Mit einer tiefen Verbeugung vor Freud gesagt: „Psychische Störungen sind Ausdruck einer blockierten Erzählung. Die Heilung besteht darin, den Patienten von dieser Erzählblockade zu befreien, das Nichterzählbare zu versprachlichen. Der Patient wird in dem Moment geheilt, in dem er sich freierzählt.“ (81) Dieser wunderbare Essay ist ein großes Lob der Erzählung.
Um sich erneut ins Erzählen einzuüben, preist Byung-Chul Han die Muße (52), die Heideggersche Wiederentdeckung der Gelassenheit, das Verweilen, die Contemplation, die Schonung, beschwört den Eros (Agonie des Eros, 2012) und mit dem späten Foucault die Askese. Han scheut sich nicht, ganz lebenspraktische Hinweise zu geben, wie das Verweilen eingeübt werden kann: So ist für Han der Garten ein Ort des Verweilens, wie es im Lob der Erde heißt (65). Dieses ganze Buch ist eine geschlossene Erzählung, auch ein Wagnis, ein Versuch, erzählt, wie Han einen Garten mit vielen Winterblühern bestückt, damit er auch im kalten Berliner Winter sich am Blühen erfreuen kann. Han schreibt Hymnen an die Nacht und an die Blumen, ein nachhaltiger Prozess der Wiederverzauberung. „Mein Garten hat mich wieder gottgläubig gemacht. Die Existenz Gottes ist für mich nicht mehr eine Sache des Glaubens, sondern eine Gewissheit, ja eine Evidenz. Gott ist, also bin ich. Ich machte die Knieschutzmatte aus Schaumstoff zu einem Gebetsteppich. Ich betete zu Gott: »Ich preise deine Schöpfung, deren Schönheit. Danke! Grazie!« Denken ist Danken.“ (Lob 106f.) Mit diesem neuen Selbstverständnis kann er im Urlaub in Italien in Riechweite des Vesuv ´“rücksichtslose Touristen“, die „Selfies vor dem Altar“ in einem „Dom an der Piazza Santa Chiara“ machten, vertreiben – wie weiland Jesus die Geldwechsler aus Tempel (Lob 138f.)
Wie gesagt: ein Wagnis, in großen Zügen eine Dichtung, ein spätmoderner Mythos, der, weil viele Gartenliebhaberinnen und Gartenliebhaber Erfahrungsanknüpfungen haben, das Zeug besitzt, zum neuen Mythos aufzusteigen. In diesem späten Text macht Han einen expliziten Move hin zum Propheten, der Touristen das Fürchten lehrt und sittliche und kulturelle Verrohung anprangert. Bisher blieb der prophetische Ton im Text oft gedämpft, hier führt Han Prophetie und philosophische Weisheit zusammen: Zorn, Rat und Dankbarkeit.
Diese drei?
[1] Han (2023). Folgende Zitate beziehen sich auf dieses Buch.
Klaas Huizing
Klaas Huizing ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Würzburg und Autor zahlreicher Romane und theologischer Bücher. Zudem ist er beratender Mitarbeiter der zeitzeichen-Redaktion.