Gemeinsam verschieden glauben
Dass Religion die Toleranz nicht gerade fördert, ist oftmals nicht nur für religionskritische Menschen ausgemachte Sache. Eine Studie des Kinderhilfswerkes World Vision unter Kindern in Ghana und Deutschland kommt hingegen zu anderen Ergebnissen.
„Mensch ist Mensch, die können ja nichts dafür, dass die Christ sind. Ich kann ja auch nichts dafür, dass ich Moslem bin.“ So entspannt beschreibt die junge Muslimin Natascha,13 Jahre, ihren Blick auf die unterschiedlichen Religionen. Bless, der 15jährige Protestant, streitet zwar manchmal mit seinen muslimischen Klassenkameraden darüber, ob Jesus oder Mohamed besser ist. Und er benennt sehr klar die unterschiedlichen Glaubenspraktiken in den beiden Religionen, sagt dann aber auch: „Aber wir folgen derselben Person.“ Bless und Natascha leben weit voneinander entfernt, sie in Deutschland, er in Ghana. Und doch teilen sie ein hohes Maß an religiöser Toleranz und sind damit durchaus typisch für die Kinder und Jugendlichen ihrer Generation.
Das zumindest legt eine neue Studie des evangelikal geprägten Kinderhilfswerkes „World Vision“ nahe, die in dieser Woche im Rahmen eines Parlamentarischen Abends in Berlin vorgestellt wurde. „Religiöse Diversität in der Lebenswelt von Kindern in Deutschland und Ghana“ lautet der Titel, befragt wurden in beiden Ländern jeweils 2500 Kinder und Jugendliche im Alter von 6 bis 16 Jahren. Damit wollten die Initiatoren mit Blick auf den Anspruch einer postkolonialen Entwicklungszusammenarbeit sich gleich zweimal vom paternalistischen Denken lösen. Zum einen sollen Kinder als Subjekte und kompetente Gesprächspartner zu Wort kommen. Zum anderen sollen „westliche Annahmen“ durch den internationalen Ansatz hinterfragt werden, in diesem Falle etwa die vermeintlich geringe Bedeutung von Religion für die Lebenswelt der Menschen.
Diskriminierung erfahren
Denn weltweit gesehen sind 84 Prozent der Menschen Mitglied einer Religionsgemeinschaft. Der Umgang mit religiöser Diversität gehört also zum Leben vieler Kinder und Jugendlichen, auch wenn das Thema in Deutschland eher ein neues Phänomen ist. So etwa in Schulen, die immer öfter vor der Frage stehen, wie sie im Ramadan mit fastenden Schüler*innen umgehen sollen oder auch mit religiös motivierten Konflikten auf dem Schulhof. Diskriminierungserfahrungen aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit machten Kinder allerdings in beiden Ländern. In Ghana sind vor allem Anhänger der traditionellen indigenen Religionen betroffen, in Deutschland überwiegend Muslime. Dabei stünden, so ein Hauptergebnis der Studie, Glaube und religiöse Toleranz nicht in Konflikt zueinander. Im Gegenteil: In Ghana steige die religiöse Toleranz mit dem Grad der Religiösität der Kinder und Jugendlichen. In Deutschland hingegen ist der entscheidende Faktor für religiöse Toleranz der sozio-ökonomische Status der Familie, in der die Kinder aufwachsen. Wer reich ist, ist als auch in diesem Punkt entspannter.
Ein weiterer Unterschied: In Ghana wissen die Kinder mehr über sich und die anderen Religionen, in Deutschland setzten sich die Kinder hingegen weniger mit Glaubensinhalten oder Praktiken anderer Religionen auseinander. Für sie ergebe sich religiöse Toleranz eher aus der gesetzlich verankerten Religionsfreiheit. Doch World Vision mahnt an: „Eine nachhaltige Pluralismuskompetenz muss auch wissensbasiert sein, um verstehen zu können, warum bestimmte Praktiken für Menschen wichtig sind oder nicht.“ Vorbehalte gegenüber interreligiösem Kontakten bzw. Kontakten zwischen Religionen und nicht-religiösen Weltanschauungen bezüglich einer Entfremdung oder Verwirrung der Kinder, „die in Deutschland weit verbreitet sind, müssen überwunden werden.“ Entsprechend fordert World Vision unter anderem von der Politik die Stärkung der religiösen Bildung in den Schulen.
Beeindruckt von der Studie zeigte sich auf dem parlamentarischen Abend der Bundestagsabgeordnete Frank Schwabe (SPD), der Beauftragte der Bundesregierung für Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Die Ergebnisse stellten die Frage, ob er sich in diesem Amt mehr auch um die Religionsfreiheit in Deutschland kümmern müsse, sagte Schwabe in seinem Redebeitrag. Er regte an, in Deutschland entspannter mit den Feiertagen von Nicht-Christen umzugehen. Global dürfe Religion als Faktor zur Erreichung der weltweiten Entwicklungsziele (SDGs) nicht unterschätzt werden.
Die Studie ist abrufbar unter folgendem Link:
https://www.worldvision.de/sites/worldvision.de/files/pdf/World_Vision_Kinderstudie_2023.pdf
Stephan Kosch
Stephan Kosch ist Redakteur der "zeitzeichen" und beobachtet intensiv alle Themen des nachhaltigen Wirtschaftens. Zudem ist er zuständig für den Online-Auftritt und die Social-Media-Angebote von "zeitzeichen".