In Putins Kopf
In Wladimir Wladimirowitsch Putins Kopf will man sicher nicht leben, aber dringend einmal hineinschauen. Selbst Vorschulkinder fragen danach, was „Putin so böse macht“. Wenn man sich aber von der Vorstellung frei macht, in Putin eine Inkarnation des ewigen Bösen zu sehen, steht man vor einem Rätsel. Was treibt den Präsidenten der Russischen Föderation an? Was hat ihn zu dem Kriegstreiber unserer Tage werden lassen, der unglaubliches Leid über die Menschen der Ukraine bringt – und sein eigenes Land mit sich ins Unglück zieht?
Aufklärung verspricht Michel Eltchaninoff in seinem Buch „In Putins Kopf – Logik und Willkür eines Autokraten“, das in deutscher Sprache inzwischen auch in einer kostengünstigen Ausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung und erweitert um ein aktuelles Kapitel zum Krieg in der Ukraine vorliegt. Eltchaninoff, Chefredakteur des französischen „Philosophie Magazine“, fragt in seinem handlichen und auch philosophischen Laien verständlichem Buch nach den ideologischen Quellen von Putins Handeln.
Es ist eine reiche russische Geistestradition, derer sich Putin offenbar sehr eklektisch bedient. Ich fühle mich beim Lesen von „In Putins Kopf“ gleich zweifach ertappt: Erstens sind mir die Werke der russischen Denker des Konservativismus, Nationalismus, Vertreter der eurasischen und panslawistischen Ideologien usw. mit Ausnahme der großen russischen Romanciers komplett unbekannt. Zweitens gebrauche ich Versatzstücke westlicher DenkerInnen wie Niklas Luhmann, Hannah Arendt und Paul Tillich anscheinend genauso utilitaristisch und denkfaul wie Putin Auszüge der Werke von Nikolai Berdjajew, Iwan Iljin und Wladimir Solowjow.
(Binnen-)Logik und Willkür
„Putin – ein versierter Kenner der Philosophie?“, fragt Eltchaninoff gleich zu Beginn seiner Auseinandersetzung und rät: „Lassen wir die Kirche im Dorf!“ Putin sei kein Intellektueller, habe „eher eine Vorliebe für Geschichte, Literatur und vor allem für Sport“. Als Staatenlenker hege Putin „nicht den Wunsch, eine Staatsideologie nach sowjetischem Vorbild durchzusetzen“. Trotzdem ergibt sich am Ende der Lektüre ein recht vollständiges Bild des Denkgebäudes, das sich Putin aus Baustoffen gebaut hat, die aus verschiedenen, sich zum Teil auch widersprechenden russischen Geistesströmungen stammen. Und das ganz offensichtlich hinreichend kongruent und konsistent ist, um als Grundlage seiner Politik zu fungieren.
Denn so willkürlich Putins Ausflüge in die Philosophie (ebenso auch in die Geschichtswissenschaft) sind, so „logisch“ ist sein Handeln. Wie so oft während des ersten Jahres des Ukraine-Krieges habe ich mich während der Lektüre von „In Putins Kopf“ gefragt, warum um Himmels Willen man Putin nicht genauer zugehört oder in seinem Wahn nur ein wenig ernster genommen hat. Was heute in der Ukraine geschieht, passt in schrecklicher Binnenlogik zu dem, was Putin seit Jahren denkt und tut. Man hätte die Zeichen an der Wand sehen können – ja, müssen – wenn man sich nur ein wenig mehr ins putinsche Denken hineinversetzt hätte.
„In Putins Kopf“ ist wegen seiner offenkundigen Aktualität nicht nur eines der wichtigsten politischen Sachbücher auf dem Markt, sondern für mich auch ein Lehrbuch. Natürlich werde ich – schon aus Zeitgründen – nicht in eine fiebrige Berdjajew-Lektüre abtauchen oder auch nur die Handvoll Dostojewksi-Romane aus meinem Bücherregal hervorkramen, um sie einer kritischen Relektüre zu unterziehen. Eltchaninoffs Buch aber hat mir en passant eine Ahnung von der Menge und Vielfalt russischen Denkens vermittelt, die ich zwar nicht einfach so einholen kann, aber mit der zu rechnen ist.
Dostojewski übrigens – das nur als kleine Notiz – wird von Eltchaninoff gegen die Vereinnahmung durch Putin kräftig in Schutz genommen: Er habe „ein zu gewaltiges Œuvre hinterlassen, als dass man ihn durch einen ideologischen Diskurs vereinnahmen konnte, und erst recht nicht durch einen Nationalismus mit wissenschaftlichem Anstrich“. Westliche Leser:innen mit mehr verfügbarer Studienzeit als sie mir vergönnt ist, sollten das allerdings nicht allein zum Anlass nehmen, den ihnen ohnehin lieben Schriftsteller erneut zu lesen, sondern vielleicht einmal in den von Eltchaninoff vorgestellten „Giftschrank“ weiterer Autoren zu greifen: zumindest als intellektuelle Feindbeobachtung.
Die „praktische Vernunft“ der Deutschen
Dass Politiker:innen überhaupt Philosoph:innen zitieren und sich in geistige Traditionslinien stellen, ist in Deutschland absolut unüblich geworden. Robert Habecks Versuche einer nicht allein an den Notwendigkeiten des Moments orientierten politischen Erzählung sind hierzulande schon das höchste der Gefühle – und werden sogleich kritisiert. Wer auch nur den Anschein erweckt, sein Handeln sei von übergeordneten Ideen oder gar einer Mythologie beeinflusst, steht sofort unter Ideologieverdacht.
Ich finde das – nur um hier wirklich nicht missverstanden zu werden – ganz ok so. Von großen Ideen und Erzählungen hat die Geschichte die Deutschen hoffentlich nachhaltig kuriert. Nur sollten die ach so pragmatischen Deutschen nicht vergessen, dass es Russen, aber auch Polen und Franzosen aus nicht minder nachvollziehbaren Gründen ganz anders halten. Der französische Präsident Emmanuel Macron würzt seine Reden gerne mit kulturellen und philosophischen Anspielungen. Das letzte Kant-Zitat, das mir von einem deutschen Kanzler erinnerlich ist, stammt hingegen von Gerhard Schröder, der seiner SPD 2005 unterstellte, sie sei und bleibe „die Partei der praktischen Vernunft“. Deutscher wird’s kaum.
Selbstverständlich landet auch Eltchaninoff ganz zum Schluss – übrigens im Rückgriff auf „Die Dämonen“ von Dostojewksi – bei der „Rache“ des Realen: Die Hauptsache ist eben nicht die Legende, wie Dostojewskis „professioneller Revolutionär“ Pjotr Werchowenskij noch meinte. Aber die Leere, die das Fehlen von Ideologien, Großerzählungen etc. in den Köpfen der allermeisten Deutschen hinterlassen hat, ist auch eine Chance für Verführer, sie abermals zu füllen. Vielleicht steckt in dieser Bestandsaufnahme schon mehr Erklärung der Anziehungskraft des Putinismus als in den Analysen seiner verschiedenen philosophischen Quellen. Diese Anziehungskraft ist keineswegs auf das russische Volk oder russischsprachige Menschen begrenzt, sondern wirkt – vermittelt durch geschickte Propaganda – auch im Westen. Wer meint, ihm würde übel mitgespielt, und die passende psychische Disposition mitbringt, wird empfänglich für chauvinistische Ideen und das Denken in Verschwörungstheorien.
Gegen die Gefahren einer mythologisch aufgeladenen Politik, die sich in Kriegen entlädt, hilft wohl tatsächlich nur die Aufklärung einer kritischen Masse wacher Zeitgenoss:innen. Um in diesem Sinne woke zu werden und dem Putinismus zu begegnen, sei die Lektüre von Michel Eltchaninoffs „In Putins Kopf“ dringend empfohlen.
Philipp Greifenstein
Philipp Greifenstein ist freier Journalist sowie Gründer und Redakteur des Magazins für Kirche, Politik und Kultur „Die Eule“: https://eulemagazin.de