Zwei Sprachen, ein Spirit
Eine Art Kellerdisco, ein Raum mit Alufolie an den Wänden, darauf Graffitis mit phallischen Symbolen. Ein altes Sofa an der Wand, davor ein Wohnzimmertisch mit Getränken. Im Raum einige abgetrennte Flächen, in denen jugendliche Schauspieler in die Rolle von Revolutionären treten und immer wieder eine Geste wiederholen. Jesus segnet, eine Königin kämpft, Coco Chanel präsentiert selbstbewusst ihre Schönheit, einer mit Bart schreibt und eine schwarze Gestalt mit Pestmaske steht bedrohlich da. Die Bässe wummern, irgendwann kommt mehr Bewegung in die Szene, die Figuren fallen aus ihrem Rahmen, kommunizieren körpersprachlich, Jesus geht zur Wand und reißt ein Loch hinein. Dahinter eine Kanne und ein paar Tassen. Tee gefällig?
Kunst in Zeiten des Krieges, fordernd, kraftvoll, selbstbewusst – so kann sie aussehen, wenn Jugendliche aus der Ukraine Theater machen. Denn was so allgemeingültig allegorisch wirkt, soll vor allem die Lage im Donbass beschreiben, aus dem die jungen Künstler stammen. Dort haben viele von ihnen an dem internationalen Projekt „Misto to go“ („Stadt zum Mitnehmen“) gearbeitet, das Künstler*innen und Pädagog*innen aus Deutschland und der Ukraine seit 2018 an sechs Schulen im Donbass umsetzen. Theatermachen über das eigene Leben und die gemachten Erfahrungen ist dabei stets Teil der Arbeit, die in jährlichen Symposien im Donbass vorgestellt wurde.
Diesmal ist alles anders. Der Krieg machte die Jugendlichen zu Flüchtlingen, viele von ihnen leben jetzt in Bautzen, wo Georg Genoux, einer der Initiatoren, ein „soziotheatrales Zentrum“ leitet. Das „Thespis“ war der Ort des diesjährigen Symposiums, mit rund 60 Teilnehmern aus Deutschland und der Ukraine, gefördert unter anderem vom Auswärtigen Amt und unterstützt von dem Bautzener Burgtheater und seinem Intendanten Lutz Hillmann. Das Thema entstand schon im vergangenen Dezember im Donbass, nämlich: Wie können Frieden und Dialog unter den Menschen geschaffen werden? „Damals waren schon viele russische Soldaten an der Grenze“, sagte Genoux zur Eröffnung. „Aber ich habe nicht mit einem Krieg gerechnet.“
Diskussion nach einer Theaterperformance von jungen Künstler*innen aus der Ukraine.
Doch er kam und hat seine Spuren in den Biographien der jungen Menschen hinterlassen. Wie tief diese gehen, wurde auch deutlich beim zweiten Theaterstück des Symposiums, einem Gastspiel des Jungen Deutschen Theaters aus Berlin. In „Linie 8 und Pudding für alle“ beschreiben Jugendliche aus Berlin und der Ukraine ihre Erfahrungen an unterschiedlichen Plätzen in Berlin, in der U-Bahn, auf dem Fernsehturm. Aber im Zentrum des Stückes, das die Theaterpädagogin Sofie Hüsler gemeinsam mit den Jugendlichen erarbeitet hat, stehen berührende persönliche Texte über das, was für die jungen Menschen auf der Bühne Heimat bedeutet. Über die Suche nach einem Stück Ukraine in Berlin, über die Bedeutung der Familie und das schmerzvolle Getrenntsein von denen, die in der Heimat bleiben mussten. Zu hören ist das laute Nachdenken der Deutschen mit und ohne Migrationserfahrungen darüber, dass Heimat offenbar erst dann bedeutsam wird, wenn man sie verliert. Die Zuschauer erleben eine Annäherung in aller Fremdheit, zärtliche Worte und Gesten zwischen den Jugendlichen – zwei Sprachen, ein Spirit. Der Blog zum Stück steht hier.
Heimat bewahren, die es so nicht mehr gibt, will auch das Projekt „Mykolaivka-TV“ über die ukrainische Kleinstadt Mykolaivka. 15.000 Menschen lebten dort vor dem Krieg, die meisten haben die Stadt verlassen. Doch die junge Regisseurin Albina Bakuleva, die in Deutschland die Jahrgangsstufe 11 besucht, und Kamerafrau Alisa Kuznetsova, Absolventin des Schulprojekte und mittlerweile Filmstudentin in Kiew, bewahren mit professioneller Bildsprache die Erinnerungen. An den Borschtsch, den eine alte Frau vor der Kamera kocht und erklärt, warum es nicht nur um einen Eintopf geht. An den „Stadtgeburtstag“, der vor dem Krieg immer ausgiebig in Mykolaivka gefeiert wurde, an die Schule und ihre Absolventen. „Die Stadt sind die Menschen“, sagt Bakeluva, die das Projekt gerne noch weiter fortführen will. Einen Trailer dazu kann man hier sehen.
Safe Space für Mädchen
Die Menschen aus dem Donbass unterstützen sich weiterhin auch über Ländergrenzen hinweg, auch bei dem schweren Thema „Sexualisierte Gewalt“. Im Dezember vor einem Jahr fand noch in der Ukraine ein Online-Workshop in einer Schule dazu statt. „Danach berichteten viele Mädchen und junge Frauen von entsprechenden Erfahrungen“, erinnert sich Georg Genoux. Als Folge entstand nun das Projekt „Soulsisters“, eine Offline- und Online-Plattform und ein „Safe Space“ für Mädchen ab 13 Jahre. In Bautzen selber treffen sich diese zum Austausch über Rollenbilder und Erwartungen an das eigene und manchmal auch an das andere Geschlecht. Zudem bieten Expertinnen einen Online-Chat auf Deutsch und ukrainisch an, der sich auch an Opfer sexualisierter Gewalt richtet.
„Ich habe den tiefen Wunsch, dass wir alles, was wir erarbeitet haben, wieder in die Ukraine hineintragen können“, sagt Genoux. Ob es schon im kommenden Jahr klappt? Das wäre wohl zu viel der Hoffnung. Dass Kunst stark macht und gerade auch jungen Menschen die nötige Energie und das Selbstbewusstsein für die Zeit nach dem Krieg vermitteln kann, das konnten alle erleben, die bei diesem Symposium dabei waren. Zu wünschen bleibt abschließend nur, dass die Beteiligung und Anteilnahme von deutscher Seite bei kommenden Veranstaltungen dieser Art stärker ausfällt, als in diesem Jahr.
Stephan Kosch
Stephan Kosch ist Redakteur der "zeitzeichen" und beobachtet intensiv alle Themen des nachhaltigen Wirtschaftens. Zudem ist er zuständig für den Online-Auftritt und die Social-Media-Angebote von "zeitzeichen".