„Gott thront auf den Lobgesängen“

Warum Psalmen und Lieder zum Danken und Loben so wichtig sind
Erntedankaltar 2019
Foto: epd
Geschmückter Altar in der katholischen Kirche im hessischen Rockenberg, Erntedankfest 2019.

Morgen wird in vielen Kirchengemeinden das Erntedankfest begangen. Aus diesem Anlass denkt Hans Jürgen Benedict, Prof. em. für Diakoniewissenschaft in Hamburg, über das Wesen des Dankes in Verbindung mit dem Lob Gottes nach.

„Hans-Jürgen, hast du dich auch bei Tante Tutti bedankt?!“ Ich bekam etwas geschenkt, war noch mit dem Auspacken oder dem ersten Spiel mit dem Geschenk beschäftigt, wurde aber sofort von den Eltern mit leicht drohendem Unterton ermahnt, mich auch bei der Geberin zu bedanken. Tante Tutti war eine Seele von Mensch, nur mochte ich mich nicht so gern bei ihr bedanken, weil sie einen immer mit feuchten Schmatzern an ihren großen Busen presste. Deswegen zögerte ich die Danksagung hinaus. Der Zwang zum Danksagen konnte einem als Kind das Glück des Beschenktseins vergällen.

Die eher ungute Erinnerung an die Zwangskultur des Dankens in der Kindheit bestimmt für mich auch die Liedzeile des Chorals „Mein erst Gefühl sei Preis und Dank.“ (EG 451). Hier wird ja auch in einer Art verdecktem Imperativ das Danken als ein Grundgefühl des religiösen Menschen eingefordert. Der Text ist von Christian Fürchtegott Gellert, dem Professor der Dichtkunst und Beredsamkeit in Leipzig, zu seiner Zeit im 18. Jahrhundert ein beliebter Dichter von Fabeln und Lustspielen. Die ersten beiden Strophen des Liedes lauten so:

1. Mein erst Gefühl sei Preis und Dank, / erheb ihn meine Seele. / Der Herr hört deinen Lobgesang, / lobsing ihm, meine Seele!

2. Gelobet seist du Gott der Macht, / gelobt sei deine Treue, / dass ich nach einer sanften Nacht / mich dieses Tags erfreue.

„Mein erst Gefühl sei Preis und Dank.“ Verstehen wir es nicht als eine Aufforderung, sondern als Einladung zum Dank, als eine Grundhaltung des Christen gegenüber der ihn tragenden Macht Gottes des Schöpfers. Denn Lob-und Danklieder sind eine wichtige Gattung jüdisch-christlicher Selbstexpression. Sie machen das Wesen des Glaubens aus. In ihnen tritt der Glaubende in Beziehung zu Gott, erschafft ihn gewissermaßen. Ihre Urtexte und Vorbilder sind die alttestamentlichen Psalmen, die zum ersten Liederbuch der Christen wurden. „Halleluja. Danket dem Herrn, denn er ist freundlich und sein Güte währte ewiglich.“ So beginnen die großen Dankpsalmen 106 ,107 und 118.

Im Lob gegenwärtig

Wir können Gott nicht beweisen, aber durch unser Lob können wir ihn wirklich machen. Indem wir zu Gott in Dank, Lob und Klage beten, erschaffen wir ihn sozusagen. Ein Gedanke, der für den älteren jüdischen Glauben zentral ist, wenn es im Psalm 22 heißt: „ Du bist heilig, der du thronst auf den Lobgesängen Israels“ (Vers 4). Gott thront auf den Lobgesängen Israels, was für ein Bild! Die Stimmen der Menschen als vokaler Thron des Allerhöchsten, das bedeutet: Wenn Israel Gott lobt, ist Gott gegenwärtig. Ohne das Lob und den Dank vergeht Gott, dann zieht er sich zurück.

Deswegen ist auch so wichtig, dass beim jüdischen Totengebet, dem Kaddisch, zehn erwachsene Juden anwesend sind und der eine fehlende ersetzt wird. Gottes Gegenwart soll nicht geschwächt werden. Deswegen ist der älteste Sohn des Toten verpflichtet, das Kaddisch für den Vater zu sprechen und dafür zehn Mitbeter zu gewinnen.

Ähnlich denkt auch der Islam. In einem seiner Bücher erinnert Navid Kermani an einen Satz des islamischen Mystikers Ibn Arabi: „Gott wird in den Gebeten erschaffen.“ Und er weist darauf hin, dass im Koran Unglaube, arabisch Kufr, Undankbarkeit heißt. Muslim sein heißt also dankbar für das Leben sein und mit Gott im Gespräch zu bleiben. Es ist die Dankbarkeit der Gläubigen, die Gott zu Gott macht. Die heutigen Kulturprotestanten sind im Gegensatz dazu der Meinung, es genüge, der Aufführung einer Bach-Kantate oder einer Bach-Passion beizuwohnen, um Gott zu danken und zu loben. Um dann ironisch wie der Philosoph Emmanuelle Cioran zu kommentieren: „Gott verdankt Bach viel.“

Sicher, durch Bachs Musik ist Gott auch noch bei den distanzierten Christen präsent. Aber ich denke, Gott wünscht sich die Lobgesänge von uns selber gesungen. Auch in Bachs Kantatengottesdiensten in der Leipziger Thomaskirche sang die Gemeinde die Choräle mit. Oder wie es in Bachs Adventskantate „Schwingt freudig euch empor“ (BWV 36) heißt: „Auch mit gedämpften schwachen Stimmen wird Gottes Majestät verehrt.“  Mein Kommentar: Weil die Choräle nicht mehr so gut bekannt sind, thront Gott auf den heutigen gottesdienstlichen Lobgesängen etwas wackelig. Aber immerhin, er thront noch!

Trotz Katastrophen danken

Der Zustand der Welt aber ist oft katastrophal: Klimakrise, Corona-Pandemie, Inflation, Hungersnöte, Ukrainekrieg … Wie spiegelt sich denn im Evangelischen Gesangbuch die Tatsache, dass der Mensch die Erhaltung wie die Zerstörung der Welt in die eigene Hand genommen hat? Soll man denn diese hoch getönten Danklieder noch singen angesichts der schrecklichen Ereignisse von Kriegen, Katastrophen und Naturzerstörungen? Ja, man soll! Vielleicht müssen wir es sogar tun. Denn wir wollen ja trotz der Katastrophen weiter für das Leben mit all seinen schönen Seiten danken, trotz der schrecklichen Dinge, die immer wieder geschehen – wie schlimme Krankheiten und Unglücksfälle. Deswegen wird der Wunsch nach gemeinsamer Erhebung im Lob- und Danklied weiter bestehen. Wir lernen unter Schmerzen und Enttäuschungen, dass das Leben schön und schrecklich zugleich ist; wir begreifen, dass Gott nicht das Gute, sondern das Ganze ist, der tragende Grund der Welt, zu der auch das Negativ-Zerstörerische gehört – das gehört zum Menschsein elementar dazu!

„Nun danket alle Gott mit Herzen Mund und Händen, der große Dinge tut an uns und allen Enden, der uns von Mutterleib und Kindesbeinen an, unzählig viel zu gut bis hierher hat getan.“ Martin Rinckarts berühmtem Danklied (EG 321) ist das beliebteste und am häufigsten gesungene Danklied der Evangelischen Kirche. Besonders bei Taufen, Konfirmationen und Trauungen, bei Silbernen und Goldenen Hochzeiten, bei Festgottesdiensten, Einführungen und Verabschiedungen, bei Kirchentagen und anderen feierlichen Anlässen wird es gerne gesungen.

Angestimmt wurde es spontan vor dem Berliner Schloss im August 1914, als ein Offizier die allgemeine Mobilmachung bekanntgab. Schlimm! Aber es wurde auch im Jahr 1955, als im Durchgangslager Friedland die letzten Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion zurückkamen, deren Freilassung Bundeskanzler Konrad Adenauer zuvor bei seiner Moskaureise mit der sowjetischen Führung ausgehandelt hatte. Manche Angehörigen lassen „Nun danket alle Gott“ sogar bei Trauerfeiern singen, als Zeichen der Dankbarkeit für ein langes gemeinsames Leben.

Harte Anti-Theologie

Ein beliebtes Loblied ist auch das 1680 von Joachim Neander verfasste „Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren, meine geliebete Seele, das ist mein Begehren. Kommet zuhauf, Psalter und Harfe wacht auf, lasset den Lobgesang hören“(EG 316). Es gibt keinen Missklang in diesem Choral. Alles wird von dem herrlich regierenden Gott sicher geleitet. Er führt wie auf Adelers Fittichen, er breitet Flügel aus. Er garantiert Gesundheit, Notabwehr, sichtbaren Segen, regnet Ströme der Liebe. Es ist eine pietistische Begeisterung in diesem Lied. Das fromme Ich singt sich hier ungebrochen aus.

Ungebrochenes Lob lädt aber auch zur Parodie ein. Eine solche ist Bertolt Brechts Großer Dankchoral in der 1925 erschienenen Hauspostille, der so beginnt: „Lobet die Nacht und die Finsternis, die euch umfangen / Kommet zuhauf / Schaut in den Himmel hinauf. / Schon ist der Tag euch vergangen.“ Es ist eine Verkehrung des Gotteslobs. Der Blick in den gestirnten Himmel zeigt keine sinnhafte Weltordnung mehr, sondern nur die vergehende Zeit. Weiter heißt es bei Brecht: „Lobet von Herzen das schlechte Gedächtnis des Himmels. / Und daß er nicht / Weiß euren Nam’ noch Gesicht /Niemand weiß, daß ihr noch da seid.“

Das ist harte Anti-Theologie. Denn dass Gott unserer gedenkt, ist Zentrum jüdisch-christlichen Glaubens: „Fürchte dich nicht, ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.“ Dieser „große Dankchoral“, der sich zum Lobe der Sinnlosigkeit erhebt, ist ein eindrucksvoller Gegentext zu Neanders berühmten Loblied, das in feierlichen Stunden oft mit ebenso viel Gefühl wie Gedankenlosigkeit gesungen wird. Es hat daher auch etwas erheiternd Befreiendes, wenn man das Brecht-Lied gelegentlich singt gegen den volltönenden Neander-Choral.

Vom Staunen zum Dank

Auch wenn Menschen nicht mehr an Gott glauben, bleibt die Dankbarkeit als eine existenziell-fromme Haltung gegenüber dem Leben und der Welt. Der Dank gründet in dem Staunen darüber, dass man überhaupt ist, dass einem das Leben gegeben ist in einem grenzenlosen und kalten Universum. Wieso ist überhaupt etwas und nicht nichts? Auch der skeptische Zeitgenosse, der nicht mehr an einen fürsorglichen Weltschöpfer glaubt, kann doch für das Leben, seine Annehmlichkeiten und Belastungen, dankbar sein. Etwa so, wie es Hans Magnus Enzensberger formuliert:

Vielen Dank für die Wolken.

Vielen Dank für das Wohltemperierte Klavier

Und warum nicht, für die warmen Winterstiefel.

Vielen Dank für mein sonderbares Gehirn

Und für allerhand verborgene Organe,

für die Luft und natürlich für den Bordeaux…

Vielen Dank für die vier Jahreszeiten,

für die Zahl e und für das Koffein

und natürlich für die Erdbeeren auf dem Teller,

gemalt von Chardin, und für den Schlaf,

für den Schlaf ganz besonders,

und damit ich es nicht vergesse,

für den Anfang und das Ende

und die paar Minuten dazwischen

inständigen Dank,

meinetwegen für die Wühlmäuse draußen im Garten auch.

Dies Gedicht eines nun alles andere als fromm geltenden Schriftstellers steht in der Tradition der biblischen Dankpsalmen und von Luthers Erklärung zum ersten Artikel des Glaubens im Kleinen Katechismus. Vor dem Hintergrund der Dankbarkeit für das Leben nennt Enzensberger wie Luther Großes und Kleines, Natürliches und Kulturelles in bunter Mischung, ironisch gebrochen. Das, was er nennt, verrät einen bildungsbürgerlich-intellektuellen Hintergrund, einen ausgewählten Geschmack – der Danksager hört(oder spielt sogar?) das Wohltemperierte Klavier, er trinkt Bordeaux, und er dankt nicht einfach für Erdbeeren, sondern für gemalte Erdbeeren von dem großen französischen Maler des 18.Jahrhunderts Chardin. Er dankt für den Schlaf und bedenkt die Kürze des Lebens zwischen Anfang und Ende. Auch das Ärgerliche und Zerstörerische, die Wühlmäuse im Garten, schließt Enzensberger in den Dank ein.

Retour a l’expediteur

Sicher, Enzensberger hätte in seinem Dankpsalm auch die lästigen Krankheiten wie etwa die Erkältungen mit Schnupfen und Reizhusten nennen können. Gott redet er nicht mehr an, aber er schließt ihn als Empfänger des Danks nicht ganz aus, wenn Enzensberger das Gedicht nennt: Empfänger unbekannt. Retour a l’expediteur. Es ist wie eine auf den weiten Ozean des Lebens geschickte Flaschenpost.

In der Kirche von Nebel auf der Insel Amrum liegt, wie in vielen anderen Kirchen, ein Buch, in das der Besucher Dankgebete, aber auch Gebetsbitten eintragen kann. Ich habe darin ein wenig geblättert, denn es berührt mich, was Menschen vor Gott bringen (und ich habe auch selber schon in solche Bücher Dank und Bitten eingetragen).

Ich finde es anrührend, wie Menschen ihre Anliegen vor Gott ausdrücken: Kinder, die für die Aufnahme ihres gestorbenen Haustiers in den Himmel beten; Paare, die um Gelingen ihrer Beziehung bitten, Ältere, die ihre Trauer um den Verlust des geliebten Partners dem Buch anvertrauen; andere, die für ein langes Leben mit dem Ehepartner danken; manche, die nur sagen ,dass eine Sorge von ihnen genommen wurde; viele, die einfach dafür danken, dass sie auf dieser schönen Insel ein paar Tage verbringen durften, die für das gute Wetter danken oder ihre Freude über die schöne Kirche zum Ausdruck bringen, für ein bewegendes Konzert danken und vieles mehr.

Auf schlichte Weise wird Gott gelobt. Das, was im anstrengenden Alltag verlorengeht, das Innehalten und Sich-Vergewissern, kann im Urlaub wieder zutage treten. Dazu gehören Naturerfahrungen wie der Blick auf das weite Meer und das Gebirge, das Erlebnis des Sonnenuntergangs und des Aufgangs des Mondes. Ja: Gott sei Dank dafür!

(Der Text erschien in gekürzter und leicht veränderter Form bereits im Juni beim Onlineportal feinschwarz.net)

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Foto: privat

Hans-Jürgen Benedict

Hans-Jürgen Benedict war bis 2006 Professor für diakonische Theologie an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie des Rauhen Hauses in Hamburg. Seit seiner Emeritierung ist er besonders aktiv im Bereich  der Literaturtheologie.


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