Zwischen Realismus und Utopismus

Historische und theologische Erwägungen anlässlich des Angriffskrieges in der Ukraine
Foto: EVA Leipzig

„Jahrhundertelang haben Menschen einander verletzt und getötet, und nichts wird sie davon abhalten, es auch in Zukunft zu tun. Wir sind verletzungsmächtig und verletzungsoffen, und weil es so ist, müssen wir uns voreinander schützen: durch Konventionen und Regeln und durch Waffen, mit denen ihre Anerkennung jederzeit erzwungen werden kann. ... Wer also radikalen Gewaltverzicht fordert – die Abschaffung der Armee oder gar schon die der rechtserhaltenden Gewalt des Staates – fordert etwas Unmögliches. Er wird andere zu Gewalt provozieren und die Möglichkeit eines relativen Friedens gefährden. Insofern ist die erste Voraussetzung für Sicherheit ein realistisches Menschenbild.“

Das Zitat stammt aus einem Vortrag des Berliner Historikers Jörg Baberowski, den er im Rahmen des PaulinerFORUM am 22. Oktober 2020 in der Universitätskirche St. Pauli zu Leipzig unter dem Titel »Warum gibt es keinen Frieden?« hielt. Wie recht Baberowski damals hatte zeigt der russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Und doch gibt auch Baberowski zu, nicht geglaubt zu haben, dass Putin so weit gehen würde. Inzwischen schrieb er in der NZZ vom 4. April 2022: „Frieden wird es nur geben, wenn Menschen lernen, zu vergessen, wenn sie aufhören, sich gegenseitig ihre Helden und nationalen Mythen vorzuhalten. Auch wir haben uns von Hermann dem Cherusker und dem Bismarck-Kult vergangener Zeiten verabschiedet [...]. Erst wenn in Russland niemand mehr die Kiewer Rus und den Grossen Vaterländischen Krieg braucht, um Russe sein zu können, und wenn in der Ukraine der Holodomor nicht mehr unablässig als russische Tat beschworen werden muss, kann es einen Frieden geben, der den Tag überdauert. Die Geschichte ist der Grund, auf dem der Nationalismus wächst. Man muss vergessen lernen, die Geschichte ruhen lassen.“ Das Plädoyer dafür, die Geschichte ruhen zu lassen, ist für einen Historiker eine sehr bemerkenswerte Aussage.

Ich verstehe die Intention Baberowskis sehr gut. Gerade Geschichte wird mit Vorliebe ideologisch missbraucht. Dafür steht Putin par excellence. Trotzdem ist zu bezweifeln, dass Geschichtsabstinenz funktionieren kann. Und wäre das wirklich wünschenswert? War es nicht gut, dass wir Deutsche uns der Schuld am bisher schrecklichsten Krieg der Geschichte gestellt haben – wenn auch als Kriegsverlierer anfangs gezwungenermaßen?

Die Nachfolgestaaten der Siegermacht Sowjetunion hingegen haben weder die monströsen Verbrechen der Stalinzeit noch den Sowjetimperialismus des Kalten Krieges aufgearbeitet. Versuche dazu gab es, doch spätestens Putin hat sie inzwischen alle vollständig erstickt. Nimmt man zur Kenntnis, dass derzeit der Zuspruch in der russischen Bevölkerung für die „Spezialoperation“ Russlands in der Ukraine steigt und inzwischen bei etwa 80 Prozent liegt, kann man das nur bedauern. Und man muss sich fragen, wie denn die Ukrainer in dieser Situation nicht wollen sollten, dass der Holdomor – die große von Stalin in den 1930er-Jahren absichtlich und gewaltsam ausgelöste Hungersnot – als Völkermord anerkannt wird, wie es Tschechien kürzlich getan hat? Mindestens 3,5 Millionen Ukrainer fanden den Tod, wobei sich Stalin nicht auf Mord durch Hunger beschränkte. Gleichzeitig ließ er große Teile der in seinen Augen halsstarrigen ukrainischen Intelligenz direkt ermorden: Lehrer, Priester, Wissenschaftler, Ärzte, Politiker.

„Stalin neu auf dem Sockel“

Und nun will ein russischer Despot, der Stalin neu auf den Sockel setzt, die Ukraine „deukrainisieren“ und die Ukrainer, die seit den 1830er-Jahren versuchen von Russland loszukommen, neu zu „Kleinrussen“ machen. Die Ukraine als Nationalstaat sei unmöglich und könne nur zum Nationalismus führen. Die Ukraine sei eine antirussische Konstruktion ohne zivilisatorischen Inhalt, ein untergeordnetes Element fremder Macht (des Westens). Die Entstaatlichung der Ukraine würde nicht ausreichen, notwendig sei ihre Enteuropäisierung. Und da „Umerziehung“ nicht möglich sei, müsse die Elite der jetzigen Ukraine „eliminiert“ werden, wie es vor einigen Wochen der Kremlpropagandist Timofey Sergeytsev in einem erschütternden Text niederlegte. Den Worten lässt Putin inzwischen entsprechende kriegsverbrecherische Taten folgen.

In dieser Situation hörte ich am 11. April wie gewohnt die Andacht im Deutschlandfunk . Der evangelische Sprecher – vom Niederrhein stammend – outete sich als Friedensbewegter des letzten Jahrhunderts, plädierte für „Frieden schaffen ohne Waffen“, beschwor die „gelebte Freundschaft“ zu russischen Partnern und erklärte voller Stolz, dass er damals schon – in den 1980er-Jahren – auf die kritische Frage, was er tun wolle, wenn die Russen kämen, provokativ geantwortet habe: Dann mache ich einen Tee. Prima! Fast möchte man ihn bedauern dafür, dass Brandts Friedenspolitik zusammen mit der Stärke der bundesdeutschen Armee und Reagans Hochrüstung diese Gastfreundschaft verhindert hat. Denn wahr ist doch: Nur beides zusammen – die ausgestreckte Hand des Westen und seine wirtschaftliche wie militärische Stärke – haben die Voraussetzung zum Fall der Mauer geschaffen. Das Verdienst der ostdeutschen Bürgerbewegung war es dann, diese einmalige Chance mit viel Mut, aber anfangs auch im Schutz der Kirche ergriffen zu haben. Dass dieser Kampf unter dem Ruf „ohne Gewalt“ erfolgreich sein konnte, war wiederum vor allem Michael Gorbatschow zu danken, der dem überalterten DDR-Regime die militärische Unterstützung versagte.

Für einen kurzen Wimpernschlag der Geschichte sah es so aus, als ginge die Welt auf eine globale Friedensära zu und Russland auf eine demokratische Ordnung. Doch Gorbatschow konnte sich nicht halten, Jelzin war seiner Aufgabe nicht gewachsen und der KGB-Mann Putin agierte von Beginn an gewaltförmig. Inzwischen zeigt er an Stalin anknüpfend unverhohlen sein faschistisches Gesicht: führerorientiert, antidemokratisch – und nationalistisch.

Der Sowjetimperialismus nach Stalin hatte sich immerhin noch ein pseudohumanistisches Mäntelchen umgehängt, und das Moskauer Politbüro kannte keine Alleinherrscher. Putin hingegen hat keinerlei Machtbeschränkung mehr. Von seiner Persönlichkeitsstruktur her eine Art Mafiaboss hat er sich das riesige Land zum Raub genommen und geriert sich als Imperator. Wie kann irgendjemand glauben, ihm mit Radikalpazifismus beikommen zu können? Wie getreu der diesjährigen Ostermarschparolen „Verhandeln! statt 3. Weltkrieg riskieren“ und „Wer Waffen liefert, wird Krieg ernten“ glauben, Waffenlieferungen an die Ukraine und Verhandlungsbemühungen seien alternativ? Putin will nicht verhandeln. Allenfalls eine starke Ukraine wird ihn dazu zwingen können. Wer davor die Augen verschließt, will die „Zeitenwende“ abwehren, um nicht umdenken zu müssen.

„Nicht ausrottbarer Antiamerikanismus“

Unterstützt wird diese Haltung durch einen offenbar nicht ausrottbaren Antiamerikanismus von links bis rechts. Dieser deutsche Dünkel reicht bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zurück. Die deutsche Kultur (samt der russischen) sei der bloß utilitaristischen Zivilisation der Angelsachsen an „Tiefe“ weit überlegen, meinte man. Mir begegnen heute noch Menschen, die ausdrücklich kundtun, nie in die USA reisen zu wollen, dort träfe man ja nur oberflächliche Menschen. Außerdem: Vietnam, Irak, Afghanistan. Wo sei da der Unterschied zu Putins Krieg? An diesem Punkt bräuchte es mehr Geschichtswissen und vergleichende Aufarbeitung. Übrigens: Viele derer, die nie nach Amerika reisen würden, lehnen auch einen Besuch in Israel ab.

Verbreiteter als diese extreme Haltung ist die Überzeugung, dass Deutschland aufgrund seiner Geschichte eine Sonderrolle zukommt. Wenn andere auch Waffen an die Ukraine liefern, Deutschland dürfe das nicht. Doch wieso sollten die deutschen Kriegsverbrechen in Osteuropa Grund dafür sein, den Ukrainern heute nicht mit Waffen gegen einen Aggressor auszuhelfen? Logisch ist das nicht. Allenfalls zeigt es den Wunsch, Deutschland in erschütternder Kontinuität als Akteur einer historischen Sonderbeziehung zwischen Berlin und Moskau zu sehen.

Am 16. April 1922, am Ostersonntag (!) vor fast genau einhundert Jahren wurde der Rapallovertrag zwischen der Weimarer Republik und Sowjetrussland geschlossen. Vor dem Hintergrund des von vielen in Deutschland als ungerecht empfundenen Friedensvertrages von Versailles von 1919 war er durchaus verständlich, leider aber folgte 1939 der Hitler-Stalin-Pakt. Und das wiedervereinte Deutschland ab 1990 hat sich ganz schnell erneut der „Sonderrolle“ verschrieben. So nimmt es nicht wunder, dass sich Deutschland gegen den Rat der EU energiepolitisch in die Abhängigkeit von Russland begeben hat und dies als friedenserhaltende „Brücke zwischen Russland und Europa“ (Frank-Walter Steinmeier) verkauft wurde.

Kann man den Ukrainern verübeln, dass sie dieses antiwestliche Sonderrollengebaren der Deutschen als direkt mitverantwortlich für Russlands Krieg sehen? Die ukrainisch-deutsche Schriftstellerin Katja Petrowskaja schreibt in einem Offenen Brief an den Bundespräsidenten in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung am 15. April: „Als Kanzleramtschef von Gerhard Schröder und als Bundesaußenminister haben Sie eine Politik mitgeprägt, die im imperialen Blick Moskaus auf die Ukraine gefangen blieb.“

Verquere Logik

Begleitet wird dieser Blick häufig davon, besser wissen zu wollen, was für Völker unter Russlands Hegemonie gut ist. So wie DDR-Bürgern von manchen Westdeutschen erklärt wurde, wie gut sie es doch ohne Kapitalismus hätten, erklären nun Intellektuelle wie Alice Schwarzer, Dieter Nuhr und Martin Walser, die ich allesamt sehr schätze, das Leid der ukrainischen Zivilbevölkerung stände „in einem unerträglichen Missverhältnis“ zum „berechtigten Widerstand“ des ukrainischen Staates und die „Kosten an Menschenleben“ fielen nicht allein in seine Zuständigkeit, weil „moralisch verbindliche Normen“ „universeller Natur“ seien. Ja, was? Stehen diese Unterzeichner des „Offenen Briefes an Kanzler Olaf Scholz“ in moralischer Hinsicht für die „universale Natur“? Das würde ich mir nicht zutrauen. Zudem: Nach dieser Logik hätte kein Staat dieser Erde sich und andere gegen Hitlerdeutschland verteidigen dürfen.

Neben solche Überhebung und die Unwilligkeit, Russland von Stalin bis Putin realistisch zu betrachten, tritt ein illusionäres Menschenbild. Im Hintergrund dieses Menschenbildes steht der Aufklärungsoptimismus und ein auf „Höherentwicklung“ ausgerichtetes zielfixiertes Geschichtsbild Hegelscher und Marxscher Prägung. Sündenvergessenheit und Selbsterlösungsvorstellungen sind die Folge. „Gewalt und Krieg sind Teil unserer unerlösten Natur. Seine Aufgabe [die des homo sapiens] und die der gesamten Menschheit ist es, bei dem urtümlichen Trieb nicht stehenzubleiben. Sondern etwas Besseres daraus zu machen. „Alles, was es dazu baucht, ist bereits da: Erkenntnis, Einsicht, Anleitung und Wege“ schreibt der Journalist Gerd-Matthias Hoeffchen in der sächsischen Kirchenzeitung Der Sonntag am 10. April.

Hoffnung auf Selbsterlösung lautet also die Devise. Mit christlichem Glauben hat das nichts mehr zu tun. Wo sind Erkenntnis und Einsicht bei Putin oder den anderen Diktatoren dieser Welt? Oder nur bei den gewöhnlichen Verbrechern und Unzähligen, die ihre Mitmenschen legal übervorteilen? Oder bei uns „normalen“ Menschen, die wir uns zwar mühen gut zu sein, aber doch oft genug lieblos und eigennützig agieren? Nein: „Schluss mit Sünde!“ (Klaas Huizing) war eine sehr voreilige Devise. Nach wie vor gilt die christliche Überzeugung, dass erst die individuelle Anerkenntnis der Sünde den Menschen zur Menschlichkeit befreit (vergleiche Ingolf U. Dalferth, Sünde. Die Entdeckung der Menschlichkeit, Leipzig 2020).

Das jedoch ist nicht (mehr) Konsens im deutschen Protestantismus. Die Gründe sind verschieden und können sich auch überlagern. Zum einen lässt sich eine bestimmte Form pazifistischer Jesusfrömmigkeit beobachten, die ignoriert, dass Jesus in der Nachfolge Johannes des Täufers apokalyptisch geprägt war und vom unmittelbar bevorstehenden Einbruch des Gottesreiches ausging. Die Bergpredigt wie die Himmelreichsgleichnisse zeugen davon.

„Sozialtechnokratisch ausgerichteter Pazisfismus“

Doch das Reich Gottes im Irdischen blieb aus – und später auch die Wiederkunft Jesu. Die Parusieverzögerung ist der Grund dafür, dass Politik weiterhin gut daran tut, die Sündenverhaftetheit des Menschen und die Paulinische Theologie des „schon jetzt und noch nicht“ ernstzunehmen. Das „noch nicht“ ist der Grund, warum die Bergpredigt nicht als allgemeine politische Direktive taugt – ebenso wenig wie Bonhoeffers später gerade nicht weiterverfolgte anfängliche Überzeugung „Es gibt keinen Weg zum Frieden auf dem Weg der Sicherheit“ (Predigt auf der Ökumene-Konferenz in Fanö im August 1934). Zum anderen gibt es einen eher sozialtechnokratisch ausgerichteten Pazifismus. Seine Vertreter wollen globale Konflikte durch faire Weltwirtschaft, Konfliktprävention und -moderation und demokratische Vorbildwirkung entschärfen. Das ist natürlich immer richtig. Nur hilft es nicht im mindesten gegen Imperatoren, denen das Wohl ihrer Völker gleichgültig ist und die Konfliktmoderation generell ablehnen. Was will ich mit einem Landräuber, Hauseinbrecher oder Vergewaltiger verhandeln? Und was tun wir mit einer UNO, in der Russland und China Vetorecht haben?

Was aber sollen wir nun als Christen tun angesichts von Leid und Krieg? Tatsächlich sollten wir Jesu Friedensethik folgen, wo immer es geht, ohne Mitmenschen im Stich zu lassen. Denn die Verheißung von Gottes Versöhnung ist „schon jetzt“ in der Welt. Dabei müssen wir aber ernstnehmen, dass sein ewiger Frieden „noch nicht“ ist. Denn Gottes Reich ist nicht von dieser Welt. Die Idee einer gerechten und friedlichen Weltordnung muss Ansporn bleiben, ebenso wie die Himmelreichsgleichnisse und die Jesuanische Friedensethik. Beides aber verkommt zur Ideologie, wenn wir glauben, dass wir Gottes Frieden in dieser Welt verwirklichen können.

Insofern werden unsere Kirchen sich fragen müssen, ob die „Lehre vom gerechten Frieden“ nicht doch zu wenig, weil zu viel ist (vergleiche Uwe Steinhoff, Wir brauchen eine Kriegsethik, FAZ vom 23.4.2022). Pazifismus ist eine großartige individuelle Existenzform des Glaubens, funktioniert aber „nicht als politische Theologie“, befindet Reinhard Bingener in der FAZ vom 16.4.2022, und verweist auf Martin Luther: „Wenn du auch dessen nicht bedarfst, dass man deinen Feind strafe, so bedarf’s aber dein kranker Nächster. Dem sollst Du helfen, dass er Frieden habe.“ Weil das so ist, taugt das Wort Jesu an Petrus „Stecke dein Schwert an seinen Ort! Denn wer das Schwert nimmt, der wird durchs Schwert umkommen“ (Mt 26,52) nur als persönliche Haltung, nicht als pazifistische Gesellschaftsideologie. Es war Jesu persönliche Entscheidung, sich zu ergeben, weil die Schrift erfüllt werden muss.

Wie kann man meinen, Jesus lege nahe, dass es für die Ukraine besser gewesen wäre, „sich mit den Mitteln der Gewaltlosigkeit“ zu verteidigen, „als das alles zerstörende Elend“ heraufzubeschwören, „das nun das Land überzieht“ (Matthias Kreck/Rolf Wischnath u.a. auf zeitzeichen.net)? Wo ist denn der gewaltlose Widerstand der Russen geblieben? Nahezu alle Widerständler sind im Gefängnis, im Ausland oder mundtot gemacht. Und so ist es in China, in Nordkorea, im Iran, in Syrien und so weiter. Die Gewaltherrscher dieser Welt haben die erfolgreichen friedlichen Revolutionen in Mittel- und Osteuropa genau studiert und den Schluss gezogen, schon den Anfängen kleiner Freiheiten wehren zu müssen, um an der Macht zu bleiben. Insofern geht die Wahrscheinlichkeit, „dass ein Mann, der die Welt über Jahre hinters Licht geführt hat, sich allein durch gewaltfreien Widerstand stoppen lässt“, tatsächlich gegen null (Heinrich Bedford-Strohm, unter anderem in DIE ZEIT). Dennoch ist militärische Gewalt nie „gerecht“ und Krieg „immer eine Niederlage“, wie Bedford-Strohm schreibt.

„Letztlich ist es Gott, der vergibt“

Christen wissen, dass wir alle in umfassende Schuldzusammenhänge verstrickt sind. Keiner kann dem ausweichen, gleich, ob er für oder gegen Waffenlieferungen ist, Zuschauer oder direkt Beteiligter. Weil das so ist, sind wir auf umfassende Versöhnung angewiesen, die über konkret geschehende oder auch gerade nicht geschehende zwischenmenschliche Vergebung hinausgeht. Der russische Soldat wird von dem durch ihn getöteten Ukrainer keine Vergebung mehr erhalten können. Und der ukrainische Soldat wird unter Umständen nicht einmal dem von ihm getöteten russischen Soldaten verzeihen können, geschweige denn dessen Vergebung erlangen wollen. Nach christlicher Überzeugung sind es aber nicht allein die Opfer, die vergeben können. Letztlich ist es Gott, der vergibt: den Lebenden wie den Toten.

Dem Vergeben voraus aber geht die aufrechte Reue des Täters und Gottes Gericht. „Es gibt keine Hoffnung auf Erlösung, keine Hoffnung auf einen neuen Himmel und eine neue Erde, ohne das göttliche Gericht.“ (Gabriele und Peter Scherle, FAZ vom 27.4.2022) Jesu Versöhnungstod am Kreuz setzt aber nicht nur das göttliche Gericht nicht außer Kraft, sondern fordert menschliche Gerichtsbarkeit – so irgend möglich – ein. Denn im Guten wie im Bösen tun wir das, was wir unserem Nächsten tun, Christus. Dass das allerletzte Wort Gott zukommt, schützt den Glaubenden vor Rachegelüsten und entlastet vom menschlichen Unvermögen zu umfassender Gerechtigkeit. Wer das letzte Wort nicht Gott anheimstellt, verwechselt schnell die Menschwerdung Gottes mit der Gottwerdung des Menschen und wird zum Dämon. Hören wir also auf, den Himmel auf die Erde ziehen zu wollen, sondern akzeptieren uns als das, was wir sind: Sünder. Der Himmel beziehungsweise Jesu neuer Äon reicht in unsere Welt als Trost und Ermutigung, aber diese Welt wird nie der Himmel sein.

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Annette Weidhas

Annette Weidhas, geboren 1960 in Rodewisch im Vogtland, ist promovierte Theologin und arbeitet als Programm- und Verlagsleiterin für die Evangelische Verlagsanstalt in Leipzig und ist Redakteurin der Theologischen Literaturzeitung.


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