In Idar-Oberstein, einer beschaulichen Kleinstadt am südlichen Rand des Hunsrück, wurde am 18. September ein zwanzigjähriger Student aus blankem Hass ums Leben gebracht. Er arbeitete als Tankwart und wies einen Kunden mehrfach auf die Corona-bedingte Maskenpflicht hin. Der 49-Jährige beantwortete diese Aufforderungen, indem er den Studenten durch einen Schuss in den Kopf ermordete.
Die Tat weckte Entsetzen und Mitgefühl; doch hinter vorgehaltener Hand und in der Anonymität des Internets wurde sie auf vielfältige Weise unterstützt. Hinter solchen Gewalttaten versammelt sich immer wieder der Hass, der aus gesellschaftlicher Polarisierung erwächst. Hatespeech ist neben Cybermobbing und Online-Stalking eine der massivsten Formen digitaler Gewalt. Selbst wenn deren Opfer sich der suggestiven Kraft solcher Gewaltausübung zu entziehen versuchen, wirkt sie in vielfältigen Formen weiter. Verleumdungen, Verunglimpfungen und Drohungen, die sich im Internet ausbreiten, können von den Betroffenen nicht in all ihren Facetten wahrgenommen und in ihren Ausmaßen eingeschätzt werden. Gegen sie mit rechtlichen Mitteln vorzugehen, wie die Bundestagsabgeordnete Renate Künast dies mit bewundernswerter Beharrlichkeit versucht, kommt einer Sisyphusarbeit gleich. Der Unterschied ist nur, dass es sich nicht um einen Stein handelt, der den Berg hinaufgerollt wird. Vielmehr donnern viele Steine gleichzeitig den Berg hinunter.
Die Leichtigkeit, mit der Nachrichten verbreitet, Informationen geteilt und Daten aggregiert werden können, gehört zu den großen Stärken der Digitalisierung. Doch diese Fähigkeit der digitalen Technologie hat makabre Schattenseiten. Die digitalen Medien erweisen sich immer wieder als ein Ort, an dem sich der Hass verstärkt und Diskriminierung sich ausbreitet; die Hemmschwellen zur Ausübung von Gewalt werden abgesenkt.
Diese wechselseitige Verstärkung von Polarisierung und Digitalisierung entwickelt eine beunruhigende, ja gefährliche Dynamik. Die rechtlichen Schranken gegen diese Entwicklung müssen verstärkt werden; die Anbieter digitaler Plattformen müssen ihrer Verantwortung besser gerecht werden; die Nutzer müssen sorgfältiger mit ihren eigenen Daten umgehen; die Unterstützung durch Initiativen, die kostenlose Beratung und wirksame Rechtshilfe anbieten, ist unentbehrlich.
Dem christlichen Glauben ist ein Geist der Vergebung und der Versöhnung eingeschrieben. Das ist sogar ein überschwänglicher Geist, wie Jesu Antwort auf die Frage zeigt, wie oft man seinem Bruder oder seiner Schwester vergeben solle – „nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal“. Doch dieser Geist vertraut darauf, dass in der persönlichen Begegnung Hass überwunden und Streit beigelegt werden kann. Dort jedoch, wo menschenverachtende Verletzungen mit technischen Mitteln vervielfacht werden, reicht persönliche Vergebungsbereitschaft nicht aus. Die Digitalfirmen müssen den Hass aus ihren Plattformen verbannen, die Nutzer müssen mit ihren Daten verantwortlich umgehen, die Demütigung von Menschen muss mit den Mitteln des Rechts eingedämmt werden.
Wolfgang Huber
Dr. Dr. Wolfgang Huber ist ehemaliger EKD-Ratsvorsitzender, Bischof i. R. und Herausgeber von "Zeitzeichen." Er lebt in Berlin.