„Mach weiter!“
Es ist noch keine Woche her, da hat Reinhard Kardinal Marx, Erzbischof von München und Freising, dem Papst in einem spektakulären Schritt seinen Rücktritt angeboten. Das hat die römisch-katholische Kirche hierzulande zum Beben gebracht. Nun die erneute Überraschung: Franziskus nimmt diese Demissionsbitte nicht an, was sehr unüblich ist. Marx soll weiter machen. Wie das alles zu verstehen ist und was dahinterstecken könnte: eine Analyse.
Da hat Papst Franziskus aber etwas geflunkert … und eigentlich gehört es sich ja nicht, dem Pontifex Maximus fehlende Texttreue beim Zitieren der Bibel vorzuwerfen. Aber der kirchenpolitisch-seelsorgerliche Kniff von Franziskus ist bezeichnend. Denn so begründet er seine überraschende (und rasche) Weigerung, das erst kürzlich vorgebrachte Rücktrittsgesuch von Reinhard Kardinal Marx von seinem Amt als Erzbischof von München und Freising abzulehnen: „Mach weiter, so wie Du es vorschlägst, aber als Erzbischof von München und Freising. Und wenn Du versucht bist, zu denken dass dieser Bischof von Rom (Dein Bruder, der Dich liebt), indem er Deine Sendung bestätigt und Deinen Rücktritt nicht annimmt, Dich nicht versteht, dann denk an das, was Petrus im Angesicht des Herrn hörte, als er ihm auf seine Weise seinen Verzicht anbot: ‚Geh weg von mir, denn ich bin ein Sünder‘ – und die Antwort hörte ‚Weide meine Schafe‘.“
Nun, das demütige „Geh weg von mir, denn ich bin ein Sünder“ des Petrus hat der Apostel laut Lukas-Evangelium in einer ganz anderen Situation gesagt als die angebliche Antwort Jesu „Weide meine Schafe“ aus dem Johannes-Evangelium: Das eine steht am Anfang der Berufung von Petrus, das andere fast am Ende – und bis dahin hatte „der Fels“ seinen Herrn schon mehrmals ganz schön genervt und bereits dreimal in Todesangst sogar auf mieseste Art und Weise verleugnet. Also hatte Petrus eigentlich am Ende seiner Zeit mit Jesus viel mehr Grund, sich als unwürdiger Sünder zu präsentieren. Aber dieses Zusammenraffen der biblischen Geschichten zum Zwecke eines warmherzigen „Mach weiter“ ist typisch Franziskus: ungewöhnlich, herzlich – aber auch ein wenig tricky. Denn wie soll man da Nein sagen? (Abgesehen davon, dass dies das strikt hierarchische römisch-katholische Kirchenrecht wohl auch nicht wirklich vorsähe.)
Vielfache Not
Die Weigerung von Papst Franziskus, das Marx’sche Rücktrittsgesuch anzunehmen, ist aber auch in anderer Hinsicht bezeichnet – denn es zeigt eine vielfache Not, in der sich Franziskus, die hiesige katholische Kirche, ja die Weltkirche insgesamt befindet. Zum einen wird deutlich, dass der Papst den reformwilligen und durchsetzungsstarken Marx braucht, und zwar sowohl für die katholische Kirche in Deutschland wie für die römische Weltkirche insgesamt. Franziskus hat ganz offensichtlich in seinem Reformprogramm, das in den vergangenen Jahren so schwach geworden war, nur noch wenige Getreue, auf die er sich verlassen kann. Marx gehört sicherlich dazu, er hat sich der fast vergessenen Sache des Papstes aus Argentinien verschrieben, mit Haut und Haaren. Scheitert der Papst, scheitert auch Marx – und vielleicht gilt das sogar ein wenig vice versa.
Der Papst weiß zudem: Die Stimme des kraftvollen Westfalen auf dem Münchner Bischofsstuhl wird für den Synodalen Weg in Deutschland gebraucht, wenn dieser Gesprächs- und Reformprozess nicht völlig in die Binsen gehen soll. Es ist offensichtlich, dass Franziskus diesen Prozess hierzulande in bestimmten Grenzen befürwortet, denn er könnte eine Blaupause für die Synodalität darstellen, die Franziskus seit Jahren und nun mit einer geplanten Bischofssynode auf Weltebene als neues Bild der Weltkirche vorschwebt – zumindest, wenn man seinen Worten Glauben schenken will. Natürlich wäre der Rücktritt von Marx aus der Einsicht in das eigene Versagen bei der Aufarbeitung des Skandals um sexualisierte Gewalt ein starkes Zeichen gewesen. Aber wenn die Gegenspieler von Marx wie der Kölner Erzbischof, Kardinal Rainer Maria Woelki, am Ende nicht auch gehen sollten oder zumindest gestutzt würden, wäre der Reformflügel der deutschen katholischen Kirche de facto geschwächt. Das umso mehr, wenn Marx einen neuen Job in der römischen Kurie bekäme, wie zuletzt spekuliert wurde, also weit weg wäre.
Und natürlich zeigt die Nicht-Annahme des Rücktritts von Marx, wie dünn mittlerweile die Personaldecke für die Toppositionen im deutschen Katholizismus ist: Angesichts von Priestermangel seit Jahrzehnten fehlt auf die Schnelle und wohl auch für längere Zeit schlicht das Personal, um ein so großes, wichtiges und reiches Erzbistum wie das in München ordentlich zu besetzen. Hier rächt sich, dass die Kurie in Rom und alle Päpste bis Franziskus etwa seit 1978, also seit Papst Johannes Paul II., am liebsten und überwiegend Marien-treue Duckmäuser und konservative Karrieristen gefördert und in Bischofsämter gehoben haben. Mit den meisten dieser Leute oft zweifelhafter Standhaftigkeit ist kein Staat zu machen, noch nicht einmal ein Bistum zu führen, das wird immer deutlicher.
Angst vor der Spaltung
Ganz bitter droht die Sache schließlich noch zu werden, wenn am Ende der Schritt des Papstes ein Vorzeichen dafür wäre, was in ein paar Wochen oder wenigen Monaten in Köln passieren könnte: Nach Abschluss der gegenwärtigen Visitation des katastrophal geführten Erzbistums durch Woelki wäre es zwar möglich, dass auch der umstrittene Kölner Kardinal seinen Rücktritt anbietet – in aller (scheinbaren) Demut. Dann aber wäre es denkbar, dass Franziskus nach dem Marx’schen Vorbild auch diese Demission ablehnt, um dem konservativen Flügel zu signalisieren, dass man auch sie brauche. Das wäre ebenfalls typisch Franziskus: Nur nicht zu deutlich zeigen, wo man steht. In der großen Angst, die katholische Weltkirche könnte es zerreißen.
Vielleicht ist dieser Schritt des Papstes aber auch eine weitere Demutsübung für Marx, auch in diese Richtung wurde am Donnerstag von Freund und Feind des Münchner Erzbischofs spekuliert: Soll Marx durch sein erzwungenes Bleiben im Amte genötigt werden, das für dieses Jahr erwartete unabhängige Gutachten zur sexualisierten Gewalt in seinem Erzbistum selbst entgegen zu nehmen – samt der voraussichtlich sehr unschönen Dinge, die dann über sein Agieren darin stehen werden? Das ist, zugegeben, Spekulation. Aber auch das würde zu Franziskus passen.
P.S. Ein kleiner Absatz des Papstes in seinem Schreiben an Marx ist als ziemlicher Fehlgriff zu werten, auch wenn er ihn zugleich ein wenig einschränkt. Franziskus schreibt an Marx: „Der Herr hat sich niemals auf eine ‚Reformation‘ (ich bitte um Erlaubnis für diese Formulierung) eingelassen: weder auf das Projekt der Pharisäer, noch auf das der Sadduzäer, der Zeloten oder der Essener.“ Mit einem solchen Satz diskreditiert der Papst, gewollt oder ungewollt, sowohl die Kirchen der Reformation - als hätten sie die wahre Botschaft Jesu nicht verstanden -, als auch die Reformbewegung innerhalb der katholischen Weltkirche, nämlich als irgendwie zu radikal, zu parteiisch oder die Botschaft Jesu verfälschend. Hat Papst Franziskus das wirklich so gemeint?
Philipp Gessler
Philipp Gessler ist Redakteur der "zeitzeichen". Ein Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Ökumene.