Afghanistan hat die welthöchste Quote an Drogenabhängigen, rund drei Millionen sollen es sein. Laila Haidari holt Drogenabhängige in Kabul von der Straße und gibt ihnen neue Hoffnung. Jordan Siegel und Andrea Jeska sind nach Afghanistan gereist.
Unter der Charai-Mazari-Brücke liegt das Schattenreich von Kabul. Im Halbdunkel des niedrigen Brückenbogens hausen jene, die das Leben in einer Kriegszone ausgespuckt hat. Der langsam dahinkriechende Kabul-Fluss trägt Schlamm, Müll und Fäkalien heran. Im Schlamm liegen Männer, auf ihren Gesichtern der Schorf von Hautkrankheiten und in ihren Augen die Qual der Sucht. Die meisten scheinen uralt und sind doch noch jung. Wer hier landet, ist verdammt. Es sei denn, Laila Haidari kommt. Wenn sie zu den Junkies von Kabul unter die Brücke kriecht, dann rufen sie: „Liebe Mutter.“ Sie reichen ihr die Hand, vorsichtig führen sie sie ins Halbdunkel, bevor sie sie umringen mit ihren Klagen von Hunger, Ekzemen, Erschöpfung, Verzweiflung. „Hab doch Mitleid“, bitten sie, wenn Laila ihnen unter dieser Brücke wieder mal eine Standpauke hält, warum sie ihr Leben nicht ändern, nicht zu ihr kommen, um endlich frei zu sein von der Sucht nach Heroin und Crystal. Fort von diesem Ort der Verdammten, der Fäkalienbrühe, in der sie leben. Oder wenn sie schweigend ihren Entschuldigungen zuhört, warum sie wieder rückfällig wurden.
Afghanistan hat die welthöchste Quote an Drogenabhängigen, rund drei Millionen sollen es laut einer Schätzung der Vereinten Nationen sein, das sind drei Prozent der Bevölkerung. Fast die Hälfte davon sind Frauen. Eine Dosis Heroin kostet zwei Dollar, so viel wie ein Brot. Seit Beginn des Krieges, den die Amerikaner gegen die Taliban führen, hat die Opiumproduktion im Land am Hindukusch einen Höchststand erreicht, ist dort einer der weltweit größten Absatzmärkte entstanden. Mit dem vornehmlich im Süden – in den von den Taliban kontrollierten Provinzen Helmand und Kandahar – angebauten Schlafmohn finanzieren diese ihren Terror, den sie gegen die Amerikaner und gegen die Bevölkerung ausüben. Sie erheben auf den Anbau Steuer und Schutzgelder. Der amerikanische Geheimdienst schätzt die jährlichen Einnahmen auf 200 Millionen Dollar. Doch auch die Regierung verdient kräftig mit am Opiumhandel, korrupte Strukturen und Clanwirtschaft begünstigen ein mafiöses Netzwerk.
Laila Haidari ist vierzig Jahre alt. Eine kleine Frau mit einem runden Gesicht und energischen Bewegungen. Es kommt vor, dass sie beim Autofahren lauthals Männer beschimpft, die rücksichtslos drängeln. Wenn es sein muss, beschimpft sie auch Abgeordnete und Minister, am liebsten die von Kabuls Ministerium für Drogenbekämpfung. In regelmäßigen Abständen, meist, wenn sie rettungslos verschuldet ist, bittet sie dort um Geld und Hilfe. Doch beides erhält sie selten. Fast fünftausend Drogenabhängige hat Haidari in den vergangenen zehn Jahren aus der Hölle unter der Brücke und von den Straßen der afghanischen Hauptstadt Kabul geholt, ungefähr fünfzig pro Monat. Sie hat sie in ein Haus gebracht, in dem sie sich waschen und schlafen können, sie hat ihnen die verlausten Haare scheren lassen, ihnen saubere Kleidung, Essen, Gebete, Aktivitäten, vor allem aber eine neue Würde und so etwas wie Liebe gegeben, die einer strengen Mutter. Fordernd und beschützend zugleich. Die meisten, die ihr aus dem Halbdunkel unter der Brücke in ihr Haus folgten, waren nach ein paar Tagen wieder weg. Doch die, die blieben, hatten eine gute Chance, wenigstens den Entzug zu schaffen, wenigstens zu der Einsicht zu gelangen, im tiefsten Morast des Lebens zu stecken.
Mutter mit 14 Jahren
Alle Versuche der amerikanischen und der afghanischen Regierung, den Anbau von Schlafmohn zu unterbinden, aus dem Opium gewonnen und im Land zu Heroin verarbeitet wird, sind bislang gescheitert, trotz vieler Milliarden, die vor allem die USA dafür ausgaben. 2018, im Jahr 17 des Krieges der Amerikaner gegen die Taliban und das Drogengeld, wuchs der Anbau von Schlafmohn um 63 Prozent.
Laila Haidari wuchs in Pakistan auf, dahin floh ihre Familie vor den Taliban. Mit zwölf Jahren wurde sie verlobt, mit 13 verheiratet, mit 14 Jahren Mutter. Nichts davon aus eigenem Willen. Mit 16 begann sie, sich politisch zu betätigen, half anderen afghanischen Flüchtlingen, nahm an Protesten gegen Menschenrechtsverletzungen und Korruption teil. Mit 18 landete sie im Gefängnis, ihr Mann, ein Mullah, holte sie nach vierzig Tagen dank seiner Verbindungen dort wieder heraus. Haidari hat die erfahrene Hilflosigkeit in Stärke verwandelt. Nach drei Kindern, einem Jurastudium und der Scheidung von ihrem Mann zog sie 2009 nach Kabul. „Ich wollte einfach kein Flüchtling mehr sein.“ Ihr Bruder Hamid lebte bereits in der afghanischen Hauptstadt, doch er war unauffindbar. Haidari wusste, er ist drogenabhängig. So beschloss sie, ihr eigenes Hilfswerk zu gründen. Sie nannte es „mothertrust“, entsprechend ihrer Überzeugung, dass Fürsorge, Liebe und Unterstützung schon der halbe Entzug sind. Sie mietete zwei Häuser: eines für Frauen, eines für Männer. Sie vernetzte sich mit Narcotics Anonymous, einer nach dem Prinzip der anonymen Alkoholiker aufgebauten Selbsthilfegruppe. Und benutzte deren Zwölf-Stufen-Programm für ihre Organisation.
Kräutertee gegen Kälte
Um all das finanzieren zu können, hat Haidari ein Restaurant eröffnet. Taj Begum heißt es, steht mitten in Kabul. Das Personal des Restaurants besteht aus ehemaligen Abhängigen. Haidari sitzt müde im Nebenzimmer und raucht zu viele Zigaretten, trinkt Kräutertee gegen die Kälte. Die Gäste kommen erst in ein paar Stunden, und sie hat den Ofen noch nicht angemacht. Sie muss sparen. Vor ihr auf dem Tisch liegt ein Block, auf dem sie Einnahmen und Ausgaben des Monats notiert. Wie meist überschreiten die letzteren die ersteren. Sie hat Schulden beim Lebensmittelhändler, beim Wasserwerk, beim Stromanbieter. Sie wird um einen erneuten Aufschub bitten müssen.
International blieb ihr Engagement nicht unbemerkt. Der amerikanische Fotograf Steve McCurry war vor einigen Jahren bei ihr und hat sie fotografiert. Eine kanadische Filmemacherin hat eine Dokumentation über sie gedreht: Leila at the bridge. Auch afghanische Zeitungen berichten. Und doch behauptet Haidari, sie zahle bis heute alles aus eigener Tasche, was sich nicht überprüfen und nicht widerlegen lässt. Ob nun wahr oder nicht, wie groß die Aufgabe ist, die sie sich auflud, merkt man an dem Unsteten, Gehetzten, das sie umgibt, als müsse sie allen Dingen einen Schritt voraus sein, als müsse sie schnell genug laufen, bevor die Last sie erdrückt. Wo beginnt ein gescheiterter Staat? Für Laila Haidari beginnt er dort, wo es keine Hilfe für die Opfer gibt und für Menschlichkeit kein Raum bleibt. Für sie sind der Krieg und die Korruption innerhalb der Regierung verantwortlich für die hohe Zahl an Abhängigen. Viele in ihrer Obhut sind traumatisiert, wurden gefoltert oder verletzt. Viele sind HIV-infiziert. Viele haben eine lange Reihe von Gewalterfahrungen hinter sich. Immer wieder wird sie am Telefon oder in den sozialen Medien bedroht, entweder von Fundamentalisten, die behaupten, sie sei eine schlechte Frau, die sich mit Kriminellen und Prostituierten umgebe. Oder von der Drogenmafia, der ihre Öffentlichkeitarbeit nicht passt. 2013 hat sie daher ihre damals noch minderjährigen Kinder zu Verwandten nach Deutschland geschickt, nachdem ein religiös motivierter Mob ihr Restaurant angriff. Als unbegleitete Flüchtlinge gelangten die drei Geschwister über die Balkanroute nach Europa. „Natürlich hat es mir das Herz gebrochen“, sagt Haidari. „Aber sollte ich meine Arbeit hier aufgeben?“
In Haidaris Männerhaus ist Waschtag. Zwölf kahlköpfige, ziemlich hagere Männer schrubben im Hof in einem Bottich ihre Kleidung. Die besteht aus orangenen Anzügen, die aussehen, als seien sie von der Hare-Krishna-Sekte ausgeliehen. Das Männerhaus steht am Rande von Kabul, in einem Stadtteil, in dem die arme Bevölkerung wohnt. Die riesigen Protzvillen, die sich all jene bauen, die mit den Drogen Reichtümer verdienen, findet man hier nicht. Wer hier wohnt, weiß nur zu gut, wie das Leben am Rande des Abgrunds ist.
Spuren in den Seelen
Khadir M., 35 Jahre alt, ist einer der Bewohner. Seit drei Monaten ist er dort, er kam selber zu Haidari und bat um Hilfe. Elfmal hatte er zuvor den kalten Entzug geschafft – und wurde jedes Mal wieder rückfällig. Auch bei Haidari gibt es kein Methadon und keinen begleitenden Arzt für den Entzug, aber jeder, der in ihrem Haus wohnt, hat einen Mentor, einen Begleiter durch die schlimme Zeit. Dass er diesmal bislang clean blieb, schreibt Khadir M. der Tatsache zu, dass ihm Haidari das Prinzip der Abhängigkeit erklärte. Er habe seine Ängste erkannt und seine Schwächen. Zu Hause warten Frau und Kinder auf ihn, doch er glaubt, noch Zeit zu brauchen. Zwanzig Jahre Sucht, sagt er, hätten Spuren in den Seelen seiner Frau und der Kinder hinterlassen. Er wolle nur als geheilter Mann wieder mit ihnen leben.
Für das Zusammenleben im Haus gibt es strenge Regeln. Wer hinausgeht und wiederkommt, wird durchsucht. Diskriminierung oder gar verbale oder andere Gewalt sind Grund für einen Rauswurf. Jeden Morgen und jeden Abend sagen sie zusammen das Mantra der Selbsthilfe, von einem Gott, der ihnen die Gelassenheit geben soll, die Dinge zu akzeptieren, die sie nicht ändern können, und den Mut, zu ändern, was sich ändern lässt.
So einfach, wie es sich anhört, ist es allerdings nicht. Auch unter Laila Haidaris Schützlingen ist die Rückfallquote hoch. Nicht für jeden findet sie Arbeit. Nicht jeder wird wieder in seiner Familie willkommen geheißen, und ein Mann ohne familiären Rückhalt ist in Kabul ein verlorener Mann.
Haidari selbst hat nicht wieder geheiratet. Sie ist allein in all diesem, eine kleine Frau gegen eine große, schreckliche Welt. Am Anfang, wird sie irgendwann im Gespräch sagen, dachte sie, wenn sie die Elenden aufnimmt, wenn sie ihnen hilft, von der Droge loszukommen, dann werden sie nicht wieder alles kaputt machen. Doch sie habe erkannt, welch ein Irrtum dieser Gedanke sei. „Jeder Mensch hat das Recht, seinen eigenen Weg zu suchen.“ Für sich hat sie ein Bild gefunden, das diesem Ort entspricht, an den sie wieder und wieder zurückkehrt, um den Verlorenen wenigstens Barmherzigkeit, warmes Essen, Seife, Salbe gegen die Hautkrankheiten zu bringen. „Eine Brücke“, sagt sie, „ergreift auch keinen Menschen am Arm und zieht ihn auf die andere Seite. Er muss sie schon aus sich selber überqueren.“