„Wir geben die Hoffnung nicht auf“

Wie eine Familie mit der Demenzkrankheit der zwölfjährigen Tochter lebt
Familie Marquard in Hamburg: „Für uns zählt nur, Sarah soll glücklich sein.“
Fotos: Jörg Böthling
Familie Marquard in Hamburg: „Für uns zählt nur, Sarah soll glücklich sein.“

Etwa siebenhundert Kinder in Deutschland leiden an der unheilbaren Krankheit „Neuronale Ceroid-Lipofuszinose“ (NCL), im Volksmund Kinderdemenz genannt. So auch Sarah Marquard aus Hamburg, deren Geschichte der Journalist Thomas Pfundtner erzählt.

Als Sarah im September 2007 auf die Welt kam, war sie ein quietschfideles Baby mit wachen Augen und unbändiger Energie, erzählt ihre Mutter Yvonne, 36. Auch Bruder Fynn, der gut 16 Monate zuvor das Licht der Welt erblickt hatte, war von seinem Schwesterchen begeistert. Und Papa Mika, 37, sowieso. Das Glück schien perfekt, als 2011 Mikko geboren wurde. „Drei gesunde Kinder, Herz, was willst Du mehr?“, erzählt Yvonne. „Es war eine heile Welt“, sagt Mika.

Sarah hörte mit Begeisterung CDs von Bibi Blocksberg oder dem kleinen Vampir. Bilderbücher schaute sie voller Freude mit ihren Eltern an. „Im Kindergarten hatte Sarah viele Freundinnen, die bei uns ein und aus gingen“, erzählt Mika Marquard, „wir hatten immer ein offenes Haus.“

Bevor Sarah mit sieben eingeschult werden sollte, ging sie, wie alle anderen Kinder auch, zur Vorschule. Und plötzlich fing es an: „Alles begann damit, dass Sarah immer schlechter sehen konnte“, erinnern sich die Eltern. Sarah musste die Buchseiten immer näher an die Augen halten: „Ich dachte, sie sei kurzsichtig, weil ihr Vater es auch ist“, erzählt Yvonne Marquard. Schnell ging es zum Augenarzt. „Als ich erzählte, dass Sarah bei Kindersendungen im Fernsehen sich immer direkt neben das Gerät stellte, um sehen zu können, hieß es, sie hätte sich das falsch angewöhnt. Der Arzt sagte: ‚Sie müssen ihr Kind hinten auf die Couch setzen.‘“ Das klappte aber nicht. „Sarah kroch zwar nicht mehr zum Fernseher, aber sie schaute auch nicht, sondern lauschte in das Gerät hinein. Das konnte doch nicht sein.“

Der nächste Augenarzt schickte Mutter und Tochter zum Psychologen, denn er vermutete, dass Sarah mit einer vorgetäuschten Blindheit auf sich aufmerksam machen wolle. „Das konnte ich mir zwar nicht vorstellen, ging aber dennoch mit Sarah zum Kinderpsychologen.“ Doch der konnte nicht helfen.

Zauberwort Inklusion

Es wurde immer schlimmer: „Sie stieß sich an Möbeln, rannte gegen die Tür oder kleckerte ungewohnt viel beim Essen.“ Also wieder zum Augenarzt. Wieder Sehtests. Wieder Gespräche. Und endlich eine Diagnose: Makuladegeneration. Sarahs Sehvermögen betrug nur noch zehn Prozent. „Das wird so bleiben“, erklärte der Arzt und meinte, dass Sarah trotzdem ein glückliches Leben führen könne. Für die Familie war die Diagnose ein schlimmer Schlag, doch ans Resignieren dachte niemand: „Wir unternahmen noch mehr mit Sarah. Sie sollte, so lange es noch ging, so viel wie möglich mit ihren eigenen Augen sehen und als Erinnerungen in ihr Herz schließen.“

Auf Drängen der Schulbehörde wurde Sarah in einer Grundschule eingeschult. „Inklusion war damals das pädagogische Zauberwort“, sagt Yvonne Marquard. Aber das funktionierte nicht. Sarahs Freundinnen zogen sich zurück und Sarah kam mit dem Stoff nicht zurecht. „Ich dachte, es würde an ihrer Erblindung liegen“, sagt die Mutter, „deshalb meldete ich sie auf der Blindenschule an.“ Während dieser Zeit begann die unsichtbare Krankheit „Neuronale Ceroid-Lipofuszinose“ (NCL) schleichend von Sarah Besitz zu ergreifen. „Mir fiel auf, dass Sarah immer öfter wegzutreten schien und träumte. So, als ob sie in einer eigenen Welt leben würde. Sie war ganz weit weg und nicht zu erreichen. Niemand kam in diesen Momenten an sie ran. Wenn ich jemanden fragte, auch den Kinderarzt, hieß es immer, dass Sarah träume, weil sie nicht mehr sehen kann. Sie schaffe sich ihre Welt.“

Die Hilfe kam dann von einer Lehrerin der Blindenschule, die Verständnis zeigte und die Beobachtungen der Mutter bestätigte. Die Lehrerin hatte ebenso wie Sarahs Mutter bemerkt, dass sich der Gang der Kleinen stark verändert hatte. Auch bei Sarahs schulischen Leistungen waren Mutter und Lehrerin der gleichen Meinung: Das Kind verlor von Tag zu Tag den Anschluss, sie vergaß den gesamten Stoff nach ganz kurzer Zeit.

Nun wurde Sarahs Gehirn per Magnetresonanztomographie (MRT) untersucht, das Ergebnis war ohne Befund. „Aber weil ich gegenüber den Ärzten darauf beharrte, dass mit Sarah etwas nicht stimmt, wurde auch noch ein Blutbild gemacht“, erzählt die Mutter. Unheilbare NCL lautete die erschütternde Diagnose. „Wir können Ihrem Kind nicht helfen“, sagten die Ärzte.

NCL, im Volksmund Kinderdemenz genannt, ist eine genetisch bedingte Krankheit, die nur dann auftritt, wenn beide Elternteile den Gendefekt an das Kind vererben. 1826 sei sie von dem norwegischen Arzt Otto Christian Stengel das erste Mal beschrieben worden, erklärt der Biochemiker und Molekularbiologe Dr. Frank Stehr, geschäftsführender Vorstand der Hamburger NCL-Stiftung. In skandinavischen Ländern komme NCL oft vor. Im englischen Sprachgebrauch wird NCL auch als Batten Disease bezeichnet. Frederic Batten war ein englischer Kinderarzt, der um 1906 ebenfalls NCL beschrieb. „Dank der Forschung wissen wir, NCL tritt in unterschiedlichen Arten auf. Mittlerweile kennen wir dreizehn unterschiedliche NCL-Formen, die sich immer in Kleinigkeiten unterscheiden“, sagt Stehr.

 

Allerdings führt die Krankheit in der Regel zum frühen Tod der Betroffenen, weil irgendwann auch der Schluckreflex aussetzt. Mit einer künstlichen Ernährung über eine Magensonde können die Kranken bis zu dreißig Jahre alt werden. „Mit Wissen um die Diagnose steht fest, dass die Kinder vor den Eltern gehen werden“, sagt Stehr. „Für Eltern und Angehörige bedeutet dies eine extreme psychische und physische Belastung.“

Was Yvonne und Mika in dem Moment, in dem Diagnose gestellt wurde, gespürt haben, können nur Menschen, die lieben und geliebt werden, in Teilen erahnen. Denn noch etwas kam dazu: Yvonne war im vierten Monat schwanger: „Wir waren in jeglicher Hinsicht gefordert und überfordert“, sagt das Ehepaar. „Aber wir wollten auch den Kampf annehmen und Sarah und unserer Familie ein lebenswertes Leben ermöglichen.“ Zuerst informierte sich das Ehepaar über Kinderdemenz. Sie sprachen mit Experten und Medizinern, recherchierten im Internet. Dabei fanden sie heraus: Das Universitätsklinikum in Hamburg-Eppendorf ist das deutsche Zentrum für Kinder, die an NCL erkrankt sind. Hier gibt es eine spezielle Station für die erkrankten Mädchen und Jungen. Hier wird geforscht, hier wurden erste Behandlungserfolge erzielt.

Brisanter Gendefekt

Darüber hinaus bekam die Familie Unterstützung von der NCL-Stiftung, die ebenfalls ihren Sitz in der Hansestadt hat. „In den ersten Tagen war eine ganz wichtige Frage, ob auch unser ungeborenes Baby mit dem brisanten Gendefekt auf die Welt kommen würde. Es wurde ein Test gemacht, der dies ausschloss“, erzählt Mika Marquard. Am 16. Januar vergangenen Jahres kam Baby Nick auf die Welt.

Tag für Tag stellte sich die Familie auf das Leben mit einem Demenz-Kind ein. „Wenn Sarah Zähne geputzt hat, steht sie kurz darauf wieder auf der Matte und sagt, sie muss noch ihre Zähne putzen. Früher haben wir ihr erklärt, dass sei bereits geschehen. Dann wurde Sarah traurig und weinte. Sie spürte, es stimmt etwas nicht mit ihr. Heute putzen wir auch fünfmal Zähne. Hauptsache, Sarah ist nicht traurig.“

Auch beim Essen hat sich alles geändert: Während die Jungs das essen müssen, was auf den Tisch kommt, genießt Sarah Narrenfreiheit. „Will sie zum Frühstück Bratkartoffeln, kriegt sie die. Auch bei Süßigkeiten setzen wir keine Grenzen. Natürlich wissen wir nicht, ob das richtig oder falsch ist. Aber wir haben auch noch nie ein Demenz-Kind erzogen. Für uns zählt nur, Sarah soll glücklich sein.“

Natürlich wissen Sarahs Eltern, dass dies nicht leicht für Fynn und Mikko ist, und auch die Mehrbelastung geht nicht spurlos an den Söhnen vorbei. Nur Fynn, der Älteste, weiß, dass seine Schwester todkrank ist. Sein Gymnasium sammelt regelmäßig Geld für NCL-Kinder. Als er über die Krankheit informiert werden sollte, sagte er nur: „Ich weiß darüber Bescheid, meine Schwester hat NCL.“ Prompt erhielt Familie Marquard einen Anruf und wird seitdem unterstützt. Sarah selbst scheint zu fühlen, dass mehr mit ihr nicht stimmt. „Manchmal stellt sie Fragen, was mit ihr los ist, oder ist traurig, weil sie wieder mal etwas vergessen hat“, erzählt ihre Mutter. „Dann wiege ich sie in meinen Armen, streichele ihr über das Haar und versuche, mein liebes Mädchen zu trösten, ihr Halt zu geben. Es zerreißt uns das Herz, wenn Sarah dann mit ihren blinden Augen ins Leere blickt und sagt, dass sie noch nicht in den Himmel will.“

 

Von Anfang an setzten die Eltern auf einen „normalen“ Umgang mit der Krankheit, sprachen mit Verwandten, Freunden und Bekannten darüber. Aus dieser Offenheit heraus entstand schnell ein Netzwerk rund um die Wohnung in Wandsbek, das für Sarah und die Familie da ist – rund um die Uhr, wenn es sein muss: Oma Sonja, hilfsbereite Nachbarn, junge Frauen vom Kinderhilfsdienst, die als Freundin einspringen, wenn Sarah mit anderen Mädchen spielen möchte. Eine Kinderärztin um die Ecke, die immer für Sarah da ist, wenn Probleme oder Fragen auftauchen. „Sie ist zusätzlich Palliativmedizinerin, und das wird leider Gottes irgendwann sehr wichtig für uns“, sagt Mutter Yvonne leise.

Doch soweit möchte das Ehepaar nicht denken: „Wir wissen, wenn es eines Tages so weit ist, werden viele Tränen fließen und, wir alle werden sehr traurig sein. Aber noch ist das kein Thema.“

Es geht jetzt darum, die Zukunft zu planen: „Sarah soll nie in einem Pflegeheim leben, sondern immer bei uns!“, haben sich ihre Eltern auf die Fahne geschrieben. Das bedeutete aber auch einen Umzug. Sarahs Mini-Zimmer, das bereits von einem medizinischen Pflegebett „erschlagen“ wird, liegt im ersten Stock. Ein Treppenlift nach oben kann nicht eingebaut werden – der Flur ist zu eng. Selbst ein Rollstuhl, der irgendwann für Sarah zwingend nötig wird, passt nicht durch den Wohnungsflur.

Nachdem die Suche nach einer größeren Wohnung oder einem Haus zur Miete scheiterte, entschlossen sich die Marquardts vor gut einem Jahr zu bauen.

Nach langem Suchen fanden Sie ein kleines Grundstück in der Nähe der bisherigen Wohnung und konnten im vergangenen Jahr Richtfest feiern. In diesen Wochen soll der Umzug vonstattengehen. Ein kleiner Bungalow, alles auf einer Ebene für Sarah. Und auch hier hat ihr Netzwerk gegriffen: Eine Firma baut das Haus extrem günstig, ein Radiosender möchte das Zimmer von Sarah einrichten. Und über die Hamburger Stiftung Rautenherz wurde ausreichend Geld für eine Küche gesammelt

Das Treffen mit der Familie, bei dem auch die hier gezeigten Fotos entstanden, fand vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie statt. Sarah, die gerade von der Blindenschule nach Hause gekommen war, machte einen fröhlichen und glücklichen Eindruck, begrüßte alle freundlich, bevor sie – ohne irgendwo anzustoßen – in ihrem Zimmer verschwand. „Ich will eine CD hören, die mit der Geschichte, wo ein Hund bellend auf Bibi zukommt.“ „Welche meinst du?“, fragt ihre Mutter.„Erzähl das etwas genauer, du hast über dreihundert Hörspiele ...“ „Na, die mit dem Hund …“ Geduldig zieht Yvonne Marquard eine CD nach der anderen aus dem Regal, liest die Klappentexte vor. Dann, endlich das richtige Hörabenteuer. Gespannt lauscht Sarah den Stimmen.

„Vielleicht bleiben diese Hörspiele später fest verankert in ihren Erinnerungen“, hofft Yvonne. NCL-Forscher sind davon überzeugt, dass sich Demenz-Kinder Erinnerungsinseln bewahren. Meist Kleinigkeiten: ein Hobby, ein bestimmtes Lied oder eine bestimmte Berührung. Bei Sarah könnten dies ihre CDs sein. Vielleicht aber auch das Fell einer kleinen Ziege oder der Geschmack von Pommes Frites.

Sarahs Weg scheint medizinisch vorherbestimmt: Depressionen und Aggressionen in der Pubertät, eine weitere Verschlechterung des körperlichen Zustands bis zur völligen Hilflosigkeit und zum frühen Tod. Gefasst schaut sich Sarahs Mutter um, sagt dann: „Wissen Sie, wir geben die Hoffnung nicht auf. Vielleicht finden die Forscher in den nächsten Jahren auch einen Weg, um Sarahs NCL-Form zu heilen. Daran klammern wir uns, auch daraus ziehen wir Kraft ...“

 

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