pro und contra

pro und contra

Aus für den Begriff Dienstgemeinschaft?
Jürgen Klute
Foto: privat
Dieter Beese
Foto: privat

Die kirchliche Dienstgemeinschaft ist ein zentraler Begriff des Arbeitsrechts der Kirchen und ihrer Wohlfahrtsverbände in Deutschland. Ist dieser Begriff ein genuin nationalsozialistischer und gehört deshalb gestrichen? Ja, meint Jürgen Klute, ehemaliger Sozialpfarrer. Nein, erwidert Dieter Beese, Landeskirchenrat i. R..

Nationalsozialistisches Konzept

Der Begriff Dienstgemeinschaft lässt sich nicht entnazifizieren

Die Dienstgemeinschaft ist ein anti-gewerkschaftliches Konzept, das auf dem Führerprinzip und auf Rassismus basiert.

Im Mai dieses Jahres habe ich mit drei Kollegen aus der evangelischen Industrie- und Sozialarbeit eine Eingabe an die Leitung der Evangelischen Kirche von Westfalen verfasst, in der selbige aufgefordert wird, den Begriff „Dienstgemeinschaft“ aus dem kirchlichen Sprachgebrauch zu streichen.

Einen arbeitsrechtlichen Sonderstatus für Kirchen gibt es nur in der Bundesrepublik, während in der Weimarer Republik für die Kirchen das damalige allgemeine Arbeitsrecht galt. Und auch während der Nazi-Diktatur hatten die Kirchen keinen arbeitsrechtlichen Sonderstatus. Erst bei der Gründung der Bundesrepublik haben die Kirchen einen arbeitsrechtlichen Sonderstatus eingefordert. Wie die Erfahrungen anderer Länder zeigen, beschädigt ein säkulares Arbeitsrecht nicht die Inhalte, für die Kirchen stehen. Die lutherischen Kirchen sollten sich zudem daran erinnern, dass ein kirchliches Sonderarbeitsrecht nicht im Sinne reformatorischer Theologie ist. Aus Luthers Sicht ist jede Arbeit gleichermaßen Dienst an der Schöpfung Gottes, also gleichwertig.

Der entscheidende Punkt ist jedoch, dass es sich bei der „Dienstgemeinschaft“ um ein genuin nationalsozialistisches Konzept handelt. Es ist ein antigewerkschaftliches Konzept, das auf dem Führerprinzip und auf Rassismus basiert, wie Hermann Lührs in seinem Aufsatz „Kirchliche Dienstgemeinschaft. Genese und Gehalt eines umstrittenen Begriffs“ bereits 2007 nachgewiesen hat. Mit dem Begriff „Dienstgemeinschaft“ haben die Kirchen nicht nur einen nationalsozialistischen Begriff übernommen, sondern auch dessen antigewerkschaftlichen Kern: Die „Dienstgemeinschaft“ zielt darauf, wie bei Werner Kalisch (Grund- und Einzelfragen des kirchlichen Dienstrechts, 1952) nachzulesen ist, Gewerkschaften aus der kirchlichen Arbeitswelt auszuschließen. Alle Entnazifizierungsversuche des Begriffs seitens der Kirchen haben das nicht geändert. Das belegt, dass der Begriff sich nicht entnazifizieren lässt.

Es geht hierbei keineswegs nur um eine moralische oder historische Frage. Die Corona-Krise hat die Probleme im Pflege-, Sozial- und Gesundheitssektor offengelegt. Die Kirchen haben hier eine hohe gesellschaftliche Verantwortung. Denn mit rund 1,3 Millionen Beschäftigten dominieren kirchliche Einrichtungen diesen Sektor. Die kritikwürdigen Arbeitsbedingungen lassen sich ohne Gewerkschaften nicht verbessern – das zeigen die nordeuropäischen Länder. Erst wenn die Kirchen ihren arbeitsrechtlichen Sonderweg verlassen, sind die Voraussetzungen für wirksame gewerkschaftliche Organisationsstrukturen und für sozialpartnerschaftliche Verhandlungen auf Augenhöhe über die Arbeitsbedingungen in diesem Sektor geschaffen. In der EKD-Denkschrift von 2015 „Solidarität und Selbstbestimmung im Wandel der Arbeitswelt“ ist die Rede von einer „hohen Dignität“ des Streikrechts und zudem konstatiert die Denkschrift: „Ein allgemein verbindlich geltender Flächentarifvertrag Soziale Dienste ist eine … wichtige Option.“

Wenn die Kirchen nicht auf der rhetorischen und symbolpolitischen Ebene gefangen bleiben wollen, dann müssen sie handeln und sich von dem antigewerkschaftlichen, nationalsozialistischen Erbe namens „Dienstgemeinschaft“ emanzipieren. Das wäre zudem eine angemessene Geste angesichts der Schuld, die die Kirchen während der Nazidiktatur auf sich geladen haben. Kirchen haben sich heute anders als 1933 klar gegen rechts und für Menschenrechte positioniert. Das Festhalten am Nazi-Erbe der „Dienstgemeinschaft“ schwächt ihre Glaubwürdigkeit in diesem Punkt jedoch.


Veritable Option

Der Begriff Dienstgemeinschaft ist kein genuin nationalsozialistischer Begriff

Dienstgemeinschaft setzt nicht auf überkommene Kampfrituale zu Lasten unbeteiligter Dritter, sondern auf theologisch grundierte Kommunikation.

Die Begriffe diakonia und koinonia sind, wie beispielsweise die Kernbegriffe Evangelium oder Sohn Gottes, aus der kultischen, politischen oder sozialen Tradition Israels oder der griechisch-römischen Umwelt in den Sinnzusammenhang des christlichen Glaubens eingefügt worden. So hat sich der christliche Glaube seiner Zeit eingewurzelt. Auch Seelsorge, von Plato entlehnt, oder Theologie, auf Aristoteles zurückgehend, haben später so Eingang ins Christentum gefunden. Die Begriffe haben sich dabei verändert und zugleich den Glauben und die Kirchen geprägt. Keiner von ihnen war im Blick auf Herkunft und Wirkung harmlos oder unschuldig, am wenigsten der messianische Begriff Christus.

Mit der Dienstgemeinschaft verhält es sich ebenso. Das Wort bezeichnet im 19. Jahrhundert die Beziehung zwischen Lehnsherren und Vasallen (Retermeier 1803), einen erblichen politischen Stand (Eggo 1811), Schiffsbesatzung und Kapitän (Stoch 1827) oder einen militärischen Verband (von Stramberg 1860), im 20. Jahrhundert bis 1931 die gesamte Geschichte (Schaeder 1931) und, gleichbedeutend mit Solidarität, den Schweizer Kommunalkredit (Seemann 1931) oder Dienststellen der Eisenbahn (Becker 1931). Auch genuin theologischer Sprachgebrauch ist nachweisbar. Evangelisch wird der Kleine Katechismus Luthers erläutert: „Die innige Dienstgemeinschaft […], worin der Abendmahlsgenießer mit dem Geber, der sich selbst gibt, treten soll, wird in der heiligen Schrift mehrfach angedeutet (Harnisch 1840). In, mit und unter der irdischen Dienstgemeinschaft der Diakonie wirkt sich die himmlische Heilsgenossenschaft aus (ZWTh 1896). Auch der Wunsch, die Volksgemeinschaft solle sich zu einer Dienstgemeinschaft wandeln, in die der Autor sich freudig mit Leib und Leben einführt (Windisch 1931), ist belegbar. Die NS-Weltanschauung war ein Sammelsurium unterschiedlicher Versatzstücke im Dienst menschenfeindlicher, insbesondere judenfeindlicher Ressentiments. Das NS-Regime hat Begriffe wie Jugend, Volk, Bewegung, Arbeit, Dienstgemeinschaft (im Arbeitsrecht) entsprechend benutzt und inflationiert. Kirche und Innere Mission waren darin tief verstrickt. Wie gezeigt, hat der Nationalsozialismus den Begriff Dienstgemeinschaft jedoch weder geschaffen, noch ist Dienstgemeinschaft ein genuin nationalsozialistischer Begriff.

Anders als 1933 – 45 sollte künftig die Logik von Barmen für Konfliktbearbeitung und Zusammenarbeit in der Kirche gelten, nicht die Logik der politischen Macht oder des Antagonismus von Kapital und Arbeit. Juristen, Theologen und Politiker haben die Nachkriegszeit genutzt, um in einer freiheitlichen Gesellschaft den kirchlich-diakonischen Auftrag selbstbestimmt zu gestalten. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, des Bundesverfassungs- und des Bundesarbeitsgerichts hat festgestellte Mängel des Dritten Weges korrigiert, zum Beispiel Verbindlichkeit, Gewerkschaftsbeteiligung und Einstellungskriterien, erkennt jedoch Dienstgemeinschaft als kirchliches Leitbild ausdrücklich an (ausführlich BAG 2012).

Die Kirche der DDR hat sich als Zeugnis- und Dienstgemeinschaft verstanden (vergleiche auch Bonhoeffer, Kirche für Andere). Die internationale lutherisch-katholische Kommission beschrieb die kirchliche Einheit als Glaubens-, Sakraments- und Dienstgemeinschaft (1985). Die EKD bezog sich in ihrer Publikation über die Gestaltung des Christseins programmatisch auf den Begriff Dienstgemeinschaft (1986). Die Leuenberger Kirchen haben eine wachsende Gemeinschaft als Zeugnis- und Dienstgemeinschaft konstatiert (1994). Die Evangelische Kirche von Westfalen hat die Dienstgemeinschaft als interprofessionellen Kooperationsprozess akzentuiert (2018).

Dienstgemeinschaft erweist sich nach wie vor als produktiver Begriff. Er setzt nicht auf überkommene Kampfrituale zu Lasten unbeteiligter Dritter, auch nicht auf die ungebrochene Durchsetzung ideologischer, politischer oder finanzieller Interessen, sondern auf theologisch grundierte Kommunikation und paritätische Beratung mit verbindlichen Ergebnissen. In einer komplexen Kommunikationsgesellschaft ist dies eine veritable Option.

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