Immer ein Stückwerk

Wer Freiheit sagt, muss ihre Geschichte meinen
Foto-Collage am Brandenburger Tor
Foto: picture alliance/SZ Photo/Rolf Zöllner
Anlässlich des Bürgerfestes zur Deutschen Einheit 2018 erstellte der Street-Art-Künstler JR diese dreidimensionale Foto-Collage am Brandenburger Tor in Berlin.

Freiheit ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Diese These entfaltet Andreas Arndt, emeritierter Professor für Philosophie an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, unter Bezug auf Hegel und Marx. Und er kommt zu dem Schluss: Befreiung muss immer wieder neu ansetzen, weil die  Bedingungen des Handelns sich ändern.

Freiheit, die ich meine ...“ – Die Freiheit, die Max von Schenkendorf in seinem bekannten, 1815 publizierten Lied meint, ist in erster Linie die Befreiung der deutschen Staaten von der napoleonischen Fremdherrschaft. Um politische und persönliche Freiheiten in und gegenüber diesen Staaten geht es in diesem Text nicht. „Freiheit“ kann überhaupt Vieles meinen; das Wort ist vieldeutig, und es wird auch vielfach missbraucht – vom dümmlichen „freie Fahrt für freie Bürger“ bis hin zu dem abscheulichen Zynismus „Arbeit macht frei“ an den Toren zur Hölle der Vernichtungslager. Fast scheint es, als sei es besser, auf dieses Wort, das offenbar zu Vieles meinen kann, ganz zu verzichten.

Indessen: „Freiheit“ ist nicht nur ein Wort, sondern zumeist und vor allem ein emotional besetztes Ziel des Wünschens und Handelns. Wer unter Zwängen leidet, strebt nach Freiheit. Das Wort bezeichnet ein elementares Bedürfnis, das sich – wie Hunger und Durst – nicht leugnen lässt: das Bedürfnis nach der Abwesenheit von Zwang und Leid. Aber lässt sich „Freiheit“ auch als Begriff bestimmen? Mit der emotionalen Besetzung des Wortes „Freiheit“ verbindet sich ein intuitives Verständnis seiner Bedeutung. Freiheit wird wesentlich negativ bestimmt, als Befreiung von etwas. Mehr oder weniger deutlich ist, was nicht sein soll und nicht gewollt wird, weniger klar hingegen, was stattdessen sein soll. In den philosophischen Diskussionen zum Freiheitsbegriff hat sich daher auch die Unterscheidung von „negativer“ und „positiver“ Freiheit eingebürgert. Die negative Freiheit bezieht sich auf das Woher der Befreiung, das Nichtseinsollende, die positive Freiheit auf das Wozu, das Ziel als das Seinsollende. Tatsächlich trägt diese Unterscheidung jedoch wenig dazu bei, Prozesse der Befreiung zu erklären. Der Impuls geht fast immer von dem aus, was nicht gewollt wird, und nicht von einem gewollten Ideal. Und allzu oft dient die Frage nach dem Positiven nur dazu, die Legitimität des Widerstands zu bestreiten und Unfreiheit zu perpetuieren.

Freiräume des Handelns

Das Verständnis von Freiheit als negativer Freiheit ist gleichwohl unzureichend, auch wenn die These, Freiheit meine Selbstbestimmung statt Fremdbestimmung – also: nicht in der Abhängigkeit von Anderen oder Anderem zu stehen –, intuitiv auf breite Zustimmung stoßen dürfte. Unzureichend ist dieses Verständnis deshalb, weil es die Vorstellung mit sich führt, jede Form von Fremdbestimmung sei Unfreiheit. Niemand dürfte ernsthaft behaupten, dass die Abhängigkeit von Naturgesetzen (einschließlich des Faktums der Sterblichkeit der Menschen) uns unfrei mache, anders sieht es schon mit der Abhängigkeit von Gesetzen des gesellschaftlichen Lebens aus, denen wir alle unterworfen sind. Diese gelten – wie etwa auch in der Philosophie Rousseaus – vielfach als Fremdbestimmung, als Entfremdung vom wahren menschlichen Wesen. Daran ist so viel richtig, dass die Gesetze des gesellschaftlichen Lebens, anders als die Naturgesetze, in hohem Maße geschichtlich variabel sind (auch wenn es unaufhebbare Gesetzmäßigkeiten gibt, wie etwa den Selbsterhalt durch Arbeit als Stoffwechsel mit der Natur).

Falsch wird diese Auffassung dann, wenn im Umkehrschluss gefolgert wird, das ursprüngliche Wesen des Menschen sei die Freiheit als Fähigkeit zur Selbstbestimmung. Die modernen Vertragstheorien, etwa bei Thomas Hobbes, haben diesen Schluss gemacht und das vereinzelte Individuum als gesellschaftliches Atom angesehen, das ursprünglich von Natur aus frei sei und erst mit dem Eintritt in die Gesellschaft Freiheiten aufgeben müsse, um Sicherheit auch gegenüber der Willkür Anderer zu gewinnen. Der gesellschaftliche Rechtszustand gilt daher als wechselseitige Beschränkung der Freiheiten: Die eigene Freiheit endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt.

Dieser Auffassung hat in der philosophischen Tradition am nachdrücklichsten Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 – 1831) widersprochen. Für ihn ist das Recht nicht Begrenzung, sondern Dasein der Freiheit. Dem liegt eine radikal andere Sicht auf den gesellschaftlichen Lebensprozess zugrunde. Die Menschen sind, mit Aristoteles, schon immer gesellschaftliche Wesen und keine vereinzelten Atome. Freiheit ist nicht Ursprung und Voraussetzung, sondern Resultat des gesellschaftlichen Lebens. In ihrem Verhältnis zur Natur und zueinander – ein Verhältnis, das unhintergehbar ist – gewinnen sie Freiheiten im Rahmen des objektiv Möglichen. Freiheit bezeichnet Freiräume des Handelns, die durch gesellschaftliche und politische Institutionen – wie etwa auch das Recht – gefestigt werden. Dass das Individuum als solches, als Mensch, als frei gilt, ist Resultat eines langen Prozesses der Befreiung.

Karl Marx (1818 – 1883) hat Hegels Sichtweise übernommen und die Geschichte der gesellschaftlichen Entwicklung als zunehmende Gewinnung individueller Freiheiten im Rahmen des objektiv Möglichen verstanden. Friedrich Engels hat hierfür, in Anlehnung an Hegel, das Wort geprägt: Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit, das bedeutet das bewusste Verhältnis zu den Bedingungen und Möglichkeiten des gesellschaftlichen Lebensprozesses.

Gegen diese Theorie ließe sich offenbar einwenden, dass sie zwar konkrete Prozesse der Befreiung empirisch zu erklären vermag, dabei aber Freiheit als „Faktum der reinen Vernunft“ (Kant) voraussetzen müsse, denn erst das Verhalten zu den objektiven Möglichkeiten als Handlungsalternativen könne Freiheitsräume auch nutzen. Diese Position zielt auf die Willensfreiheit als Bedingung der Möglichkeit freien Handelns. In seinem Buch Das Handwerk der Freiheit hat Peter Bieri dem entgegnet, ein von allen Handlungsvollzügen und Handlungszielen losgelöster freier Wille sei eher ein „Albtraum“, denn er habe keinen menschlichen Inhalt und sei eine leere Abstraktion.

Die Konzepte der negativen Freiheit und Willensfreiheit abstrahieren von einer Reihe wesentlicher Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens und Handelns; sie lassen sich daher insgesamt als Theorien charakterisieren, die einen abstrakten Freiheitsbegriff zugrunde legen. Die Freiheitskonzepte bei Hegel und in der Hegelschen Tradition ließen sich demgegenüber als Theorien charakterisieren, die mit einem konkreten Freiheitsbegriff operieren, der die Bedingungen des Handelns und des Freiheitsbewusstseins umfassend in den Blick nimmt. Aus dieser Unterscheidung ergeben sich wesentliche Konsequenzen für das Verständnis von „Freiheit“.

Zuallererst besagt der konkrete Freiheitsbegriff, dass Freiheit kein Zustand, sondern ein Prozess ist. Wenn Freiheit kein Ursprung und nicht Voraussetzung, sondern Resultat des gesellschaftlichen Lebens ist, dann ist Freiheit immer geschichtlich bestimmt. Freiheit ist wesentlich die Geschichte der Freiheit. Diese Geschichte ist eine Geschichte der Befreiung, aber nicht als Geschichte eines unaufhaltsamen Fortschritts. Befreiung muss immer wieder neu ansetzen, weil die Bedingungen des Handelns sich ändern – und auch, weil errungene Freiheiten immer wieder verspielt werden können. Die Freiheitsgeschichte ist ein diskontinuierlicher Prozess. Sie beginnt mit der Aufhebung unmittelbarer Naturzwänge und mündet in fortgesetzte Versuche, gesellschaftliche Zwänge nach Maßgabe des Möglichen einzuschränken. Freiheit bemisst sich immer an den realen Möglichkeiten, gesellschaftliche und natürliche Abhängigkeiten aufzuheben. Da die Bedingungen dieser Möglichkeiten sich geschichtlich entwickeln, sind immer wieder erneute Anstrengungen zur Befreiung erforderlich.

Geschichtlich setzt sich dabei schrittweise das Bewusstsein durch, dass Freiheit Allen zukommen sollte. Ursprünglich war Freiheit zunächst ein Privileg: Der Freie hob sich aus der Masse der Unfreien heraus und gehörte zur herrschenden Schicht. Erst in der Moderne verbreitet sich langsam die Auffassung, dass alle Menschen – ungeachtet ihrer Herkunft oder ihres Geschlechts – frei und gleich seien. Menschen sind nicht schon immer frei, sondern sie befreien sich zur Freiheit und werden doch immer wieder in Abhängigkeiten verstrickt.

Damit hängt die Einsicht zusammen, dass es einen endgültigen Zustand der Freiheit nicht geben kann. Die Sehnsucht nach einer grenzenlosen Ungebundenheit bleibt eine unerfüllbare Utopie. Sie vergisst, dass Freiheit nicht abstrakt – bezogen nur auf das einzelne Individuum und seine subjektiven Interessen – bestimmt werden kann, sondern nur konkret, im Zusammenhang der Einzelnen mit Anderen und im Verhältnis zur Natur. In diesen Verhältnissen, in denen wir uns schon immer bewegen, unterliegen wir notwendigen Bindungen, die wir nicht ignorieren oder beliebig manipulieren können. Freiheit und Notwendigkeit sind immer zusammen zu denken; daher hat Freiheit auch immer Grenzen – und nicht nur an der Freiheit der Anderen. Freiheit überhaupt realisiert sich in Freiräumen, die vielerlei Bedingungen unterliegen, die nicht vollständig beherrscht werden können.

Krummes Holz

Ein Beispiel hierfür ist die im Verlauf der technischen und ökonomischen Entwicklung gewonnene Befreiung von unmittelbaren Naturzwängen. Was zunächst nach einer ungebrochenen Erfolgsgeschichte aussah, zeitigt, wie wir jetzt wissen, im globalen Ökosystem Folgen, die unsere Existenzgrundlagen in Frage stellen und eine nicht zu tilgende Abhängigkeit von der Natur vor Augen führen. Auch die Notwendigkeit der Arbeit und der Kooperation zur Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens bilden Grenzen der Freiheit, indem sie uns Tätigkeiten aufnötigen, die nicht aus unserer freien Selbstbestimmung hervorgehen. Und auch jenseits dieses „Reiches der Notwendigkeit“, wie Karl Marx es nannte, gibt es Grenzen der Selbstverwirklichung, um Leben und Freiheit Aller zu garantieren. Hier setzt das Recht Grenzen, die im Zweifelsfall auch von einer Sanktionsgewalt, dem Staat, erzwungen werden und, da der Mensch – nach einem Ausdruck Kants – nun einmal aus „krummen Holze“ gemacht ist, aus dem sich kein durch und durch moralisches Wesen herstellen lässt, besteht wohl auch keine Aussicht, auf diese Form des Zwanges verzichten zu können.

Daraus ist die Konsequenz zu ziehen, dass Freiheit immer Stückwerk bleibt. Sie kann nicht alle Lebensbereiche gleichermaßen durchdringen, sondern stößt immer wieder auf Grenzen. Diese Grenzen sind grundsätzlich von zweierlei Natur. Es gibt Grenzen, die durch nicht manipulierbare Naturgesetze – auch durch Naturgesetze des gesellschaftlichen Lebensprozesses – gesetzt sind, aber auch Grenzen, die nur einen historisch gewordenen Zustand bezeichnen, der nicht notwendig ist. Wo solche Zustände als drückend erfahren werden, kann das Bedürfnis nach Freiheit erwachen.

Befreiung aber ist nur dann möglich, wenn das, was für uns nicht sein soll, tatsächlich objektiv nicht notwendig ist. Sie braucht nicht nur subjektive Energien, sondern auch Einsicht in die Bedingungen des Handelns, zumal die bestehenden Zustände immer dazu tendieren, sich als alternativlose Notwendigkeit darzustellen. Befreiung und Kritik gehören daher zusammen.

Literatur:

Andreas Arndt: Freiheit. PapyRossa-Verlag, Köln 2019, 127 Seiten, Euro 9,90.

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Andreas Arndt

Andreas Arndt ist emeritierter Professor für Philosophie an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin.


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