Gut angekommen

Dreißig Jahre Mauerfall (II): Deutschland – das geteilte Land?
Foto: dpa/Johannes Vester
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Claudia Rusch wuchs auf der Insel Rügen und in Grünheide östlich von Berlin auf. Nach dreißig Jahren wird die Teilung in Ost und West überschätzt, schreibt die Schriftstellerin. Denn: „Wir sind längst wieder ein Land geworden. Breitgefächert, bunt, vielfältig.“

Vor zehn Jahren habe ich ein Buch veröffentlicht, das – so könnte man sagen – meine persönliche Bestandsaufnahme nach zwanzig Jahren Mauerfall zusammenfasst. Es ging um Unrecht in der DDR, Spätfolgen, Verluste, Befreiungen, Erinnerungen, Begegnungen. Um Wendesieger, Wendeverlierer und um die Frage, wie gut Ost und West zusammengewachsen sind. Trotz vieler ernster Töne war es insgesamt ein hoffnungsvolles, positives Buch. Natürlich. Ich bin Geschichtenerzählerin, keine tagespolitische Problemanalystin. Meiner Meinung nach lag der Hauptgrund für das Andauern von Ost-West-Ressentiments in einer Vielzahl nie wirklichkeitsüberprüfter Vorurteile und dem wohlfeilen Wunsch nach Schuldigen (wofür auch immer). Und zwar auf beiden Seiten.

Davon bin ich, ehrlich gesagt, immer noch überzeugt. So wie ich auch immer noch davon überzeugt bin, dass uns diesseits und jenseits der Elbe deutlich mehr verbindet als uns trennt. Denn abgesehen von fröhlich wiederaufbrechenden regionalen Vorbehalten, deren Bärte so lang sind wie der von Barbarossa (immerhin sind wir eine Föderation sehr alter, his-torisch ganz unterschiedlich geprägter Kleinstaaten – das hat mit vierzig Jahren DDR rein gar nichts zu tun), abgesehen von der Zwietracht säenden Scheuklappenmentalität, mit der sich Lokalpatrioten im ganzen Land ihre Welt vereinfachen, abgesehen von der banalen Wahrheit, dass der Mensch ein Gewohnheitstier ist, das neue Situationen und Fremdes nicht schätzt: Wie groß sind denn die Unterschiede zwischen uns wirklich? Ich würde hier eigentlich gern ein paar Ost-West-Klischees auseinandernehmen, deren leichtfertige Verwendung nach dreißig Jahren grob fahrlässig ist – und bei dieser Gelegenheit auch gleich auf die stets übersehenen Nord-Süd-Unterschiede verweisen. Ich könnte erklären, dass die viel bemühten Stereotypen vom Besserwessi und Jammerossi durchaus nicht aus der Luft gegriffen sind – und die Ursache beider, gleichermaßen unangenehmen Erscheinungen nicht in unterschiedlichen Charakteren (ganz im Gegenteil!), sondern lediglich in unterschiedlichen Sozialisierungen liegen. Wir sind schließlich in verschiedenen Ländern aufgewachsen. Das sollte langsam auch der letzte Ignorant verstanden haben.

Um das zu illustrieren, steht mir gleich ein ganzer Strauß charmanter Anekdoten aus den vergangenen dreißig Jahren zur Verfügung, die ich hier einbringen könnte. Sie würden beweisen, wie einfach die Begegnung zwischen Ost und West sein kann, wenn man offen aufeinander zugeht und sich zuhört. Wie überflüssig Voreingenommenheit im Leben ist und wie wenig bereichernd Konformität. Am Ende könnte ich eine schmissige Analyse abliefern und die ewigen Nörgler der Schwarzmalerei überführen... Wiedervereinigung? Läuft. Langsam und zwischendurch auch mal querfeldein – aber läuft. Nur die Ruhe, das wird schon. Ich hätte mit großer Freude einen solchen Text geschrieben. Vor allem, weil ich hinter all dem voller Überzeugung stehe.

Harmlosigkeit eingebüßt

Aber leider hat das Ost-West-Thema seit den Pegida-Aufmärschen einen Teil seiner Harmlosigkeit eingebüßt. Für Aufbau Ost kramte ich 2009 meine DDR-Fliegenklatsche aus dem VEB Sprengstoffwerk Gnaschwitz hervor, gedachte der in warmen Mocca Fix getauchten Teewurststullen meiner Oma und beschäftigte mich mit lustigen Ostwörtern wie Komplexannahmestelle oder Popgymnastik. Im Vorfeld des anstehenden Mauerfall-Jubiläums 2019 setze ich mich mit Wutbürgern, Wahlergebnissen und demographischen Erhebungen auseinander. Das ist ein ganz anderer Schnack. Und er ängstigt mich. Wo beidseits der Elbe dankbar des Sieges der politischen Freiheit gedacht werden sollte, steht plötzlich wieder latent die Drohung einer neuerlichen Diktatur im Raum. Ganz real – man muss den geifernden AfD-Führern nur mal richtig zuhören, und keineswegs allein den Rechtsradikalen unter ihnen. Dieser Umstand gibt mir, vorsichtig formuliert, sehr zu denken.

In einem Kapitel von Aufbau Ost erzählte ich vor zehn Jahren, wie schwer es mir nach der Wiedervereinigung gefallen war, mich selbst als Teil meiner Nation zu verorten – zu groß war meine Panik vor dem erneuten Ausbrechen des großdeutschen Wahns. Am Ende dieser Geschichte schrieb ich versöhnlich: „Es ist ein Wesenszug der Deutschen […] immer alles richtig machen zu müssen. Jetzt kommt uns das zugute: Wir sind lupenreine Demokraten. Es gibt nichts zu befürchten, so lange wir dabei bleiben.“ Die ironische Anspielung hier mal ignorierend – ich sage es nicht gerne, wirklich nicht, aber ich bin inzwischen unsicher, ob ich mich in diesem Punkt nicht getäuscht habe. In jedem Fall fürchte ich, dass da noch einiges auf uns zukommt.

Der Aufschwung der Rechten in Deutschland lässt mich ratlos zurück. Ich verstehe nichts mehr. Das heißt, ich verstehe schon. Natürlich weiß ich sehr genau, wie Populisten auf Beutefang gehen. Diese Mechanismen sind weithin bekannt, und man hat es europaweit aufs Anschaulichste in den vergangenen Jahrzehnten beobachten können. Aber vermutlich will ich es gerade deshalb nicht glauben. Oder wahrhaben. Weil es so banal ist. Wie kann man denn ernsthaft auf derartige Stimmungsmache hereinfallen – und eine Partei wählen, in der es einen völkisch-nationalistischen Flügel gibt? Die vor Hass nur so sprüht und statt politischer Lösungsansätze nur leere Parolen bietet. Das verstehe ich einfach nicht – weder politisch, noch moralisch, noch emotional. Das grauenvolle vergangene Jahrhundert sollte uns doch alle eines Besseren belehrt haben!

Für mich persönlich waren die ersten zwei Jahrzehnte nach dem Mauerfall ein Versprechen. Ich war jung und die große freie Welt, zu der ich seit der Öffnung des Eisernen Vorhangs endlich Zugang bekommen hatte, lag vor mir wie eine Verheißung. Ich glaubte fest, dass nach dem Ende des Kalten Krieges eine ganz neue Zeit angebrochen sei. Die des Humanismus und der Liberalität. Sicher, die Geister der Vergangenheit rasselten weiter gelegentlich mit ihren Ketten – aber es drang nur noch verhalten empor aus den dunklen Kellern. Eine Frage der Zeit, bis sie ganz verschwunden sein würden. Die Auflösung der Grenzen Europas stand dafür in meinen Augen symbolisch. Ich war damals in aller Naivität davon überzeugt, wir hätten Rassismus, Ausgrenzung und nationale Selbstüberhöhung für immer hinter uns gelassen.

Deshalb erschienen mir die zuvor immer schamhaft ausgesparten deutschen Fahnen, die im Sommer 2006 während der Fußballweltmeisterschaft plötzlich sinnflutartig das Land überschwemmten, zunächst ein Zeichen von erfrischender Normalität. Dabei hätte es einen vielleicht alarmieren können, dass ein Teil dieser Flaggen nach dem Ende des Turniers nicht wieder im Schrank zwischen dfb-Trikots und Fanschminke verschwand… Hüben wie drüben. Und das war kein Zufall.

Wahl als Triebabfuhr

Es geht ja immer etwas unter, weil gern so getan wird, als sei der Wahlerfolg der AfD ein reines Ostproblem, aber tatsächlich ist der wiedererstandene braune Dreck leider ein gesamtdeutsches Phänomen. Der Rechtsruck ist im Osten lediglich besonders deutlich. Weil sich gesellschaftliche Auswüchse wahrscheinlich immer da am extremsten zeigen, wo die größte Unzufriedenheit herrscht und nicht etwa da, wo die Themen lichterloh brennen.

Vielleicht liegt ja genau hier der Hund begraben. Analysen zeigen, dass es sich bei den west- wie ostdeutschen Wählern der AfD keineswegs nur um ökonomisch Benachteiligte handelt. Das ist ein Klischee. Im Gegenteil, Mittelstand, Oberschicht – alle sind dabei. Es „protestieren“ auch die an der Wahlurne, denen es, zumindest finanziell, sehr gut geht. Was keinen anderen Schluss zulässt, als dass es sich beim Kreuzchen für die AfD eher um Triebabfuhr handelt. Aber auch das ist keine Neuigkeit.

Wenn wir jedoch nicht über den deutlich geringeren Wohlstand der Ostdeutschen sprechen, worüber reden wir dann? Warum kann die AfD mit ihren Plattitüden im Osten fast doppelt so viele Wähler mobilisieren? Ganz ehrlich: Ich weiß es nicht. Ich verstehe diese Unzufriedenheit nicht. Ich habe mich über die Jahre oft beschäftigt mit Gleichheit und Ungleichheit, Gewinnen und Verlieren, mit mangelnder Wertschätzung und Interesse, ostdeutscher Vergangenheitsbewältigung, nicht stattgefundener Naziaufarbeitung, Wünschen, Enttäuschungen und auch dem fehlenden ostdeutschen Diskurs im Hauptnarrativ unserer Gesellschaft – das mit Kleinigkeiten beginnt wie dem Umstand, dass im MDR-Tatort nicht mal das Fußpersonal sächseln darf – obwohl gleich zwei Hauptdarsteller selbst aus Dresden stammen…

Das sind alles Gegebenheiten, über die man sprechen kann und sollte. Aber nichts davon ist ein Grund, wütend die AfD zu wählen oder antisemitischen Ausfällen nachzugeben. Natürlich sehe ich das unleugbare, ökonomische Ungleichgewicht zwischen Ost und West, das übrigens nicht so sehr an der Höhe der Löhne hängt, sondern vor allem in nicht vorhandenem Privatvermögen liegt, dem eklatanten Ost-West-Gefälle in Sachen Eigentum und Erbschaften. Natürlich entgeht mir nicht, dass sich die blühenden Landschaften keineswegs auf die strukturarmen ländlichen Regionen erstrecken, in denen es keinerlei Zukunft und oft nicht einmal mehr eine Dorfkneipe oder einen Bäcker gibt. Natürlich weiß ich, dass Treuhand und Rückgabe-vor-Entschädigung auch die letzten funktionierenden Reste auf DDR-Gebiet endgültig verbrannt haben und die neuen Länder an diesen Folgen bis heute tragen.

Geschenkte Demokratie

Aber ich weiß auch, dass die ehemaligen DDR-Bürger keine Opfer der Wiedervereinigung sind. Die Demokratie mag nicht immer leicht sein, aber sie ist ein Geschenk. Wir haben heute die Freiheit, selbst über unser Leben zu entscheiden. Wir haben unabhängige Medien, ein verlässliches Rechtssystem, endlose Bildungschancen, Reisemöglichkeiten, Zugang zu Konsum und Internet. Wir haben ein nicht immer sehr komfortables, aber absturzsicheres Sozial- und ein funktionierendes Gesundheitssystem. Niemand indoktriniert uns. Wir werden nicht bedrängt, unsere Mitmenschen zu überwachen. Und wir können in der Öffentlichkeit lautstark unserem politischen Unmut Luft machen, ohne festgenommen zu werden. Das alles allein ist schon viel mehr, als wir vorher hatten. Mit dieser Einschätzung bin ich als Ostdeutsche offenbar nicht allein. Denn nicht der Osten wählt die AfD. So wie nicht der Osten Anglerhütchen in Nationalfarben trägt und die Presse anpöbelt. Es ist eine Minderheit. Die meisten von uns sind in der Freiheit glücklich angekommen. Das Aufrunden von irgendwas unter dreißig Prozent auf glatte hundert entbehrt jeder mathematischen Grundlage. Die große Mehrheit der Ostdeutschen ist, genau wie im Westen, gegen Rassismus, Gleichschaltung und rechtspopulistisches Gebaren.

Wie gesagt: So groß sind die Unterschiede zwischen uns nicht. Nach dreißig Jahren sollte auch endlich Zeit sein, den gesellschaftlichen Fokus auf die Dinge zu legen, die uns einen, als auf das, was uns gegeneinander abgrenzt. Wir haben wirklich ernstere Probleme. Wenn man mich fragt, wird die Teilung überschätzt. Wir sind längst wieder ein Land geworden. Breitgefächert, bunt, vielfältig. Und ganz ehrlich: Ich finde das wunderbar. Lasst uns gemeinsam dafür sorgen, dass das nicht in Gefahr gerät.

Hier geht es zum ersten Teil unserer Serie zum Mauerfalljubiläum:

Ellen Ueberschär: Später Sieg der SED? Die protestantische Revolution in der DDR

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Foto: privat

Claudia Rusch

Claudia Rusch ist Autorin. Sie studierte Germanistik und Romanistik, arbeitete sechs Jahre als Fernseh-Redakteurin und lebt als Autorin in Berlin. 2003 erschien ihr Bestseller "Meine freie deutsche Jugend".  Sie lebt in Berlin.


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