„Der spinnt nicht, der Uhde“
Am vergangenen Sonntag endeten die Köthener Bachfesttage in Sachsen-Anhalt, dessen Anfang zeitzeichen-Chefredakteur Reinhard Mawick miterleben konnte (siehe hier). Er sprach dort mit dem Intendanten Folkert Uhde. Der 59-Jährige erzählt, wie er das Festival in den vergangenen Jahren verändert hat und berichtet über sein gesellschaftliches und politisches Engagement in Sachsen-Anhalt.
zeitzeichen: Die diesjährigen Köthener Bachfesttage sind bereits die fünften unter Ihrer Ägide als Intendant seit 2016. Was hat sich und was haben Sie verändert?
Folkert Uhde: Es war eine große Ehre, aber auch eine große Herausforderung, die Intendanz von Hans Georg Schäfer zu übernehmen, der sie 2015 mit 83 Jahren abgab. Damals bestand das Publikum der Bachfesttage größtenteils aus wohlhabenden Ruheständlern aus Westdeutschland, die auch ziemlich viel Geld in Form von hohen Ticketerlösen in die Stadt brachten. Aber die Ticketpreise waren so hoch, dass es sich die meisten Leute hier nicht leisten konnten. Auch waren die Bachfesttage in der Region gar nicht oder kaum bekannt, weil das Gefühl vorherrschte: Das ist nichts für uns, wir sind nicht gemeint, das ist was Elitäres. Hinzu kam: Köthen war bis vor gut zehn Jahren von Abwanderung geprägt und hat seit 1990 ein Drittel der Einwohnerschaft verloren. Es gab kaum mehr Industrie, nur ein paar kleine lokale Unternehmen. Und eben die fehlende Anbindung vor Ort – so gab es durchaus ernste Diskussionen darüber, ob die Stadt sich so ein Festival überhaupt leisten sollte.
Um Himmelswillen, es ist doch nach Leipzig der wichtigste Wirkungsort J.S. Bachs überhaupt!
Folkert Uhde: Ja, aber ich konnte diese Überlegungen durchaus verstehen. Denn wie soll man rechtfertigen, dass in einer Region wie Köthen Steuermittel dafür verwendet werden, damit Leute von außerhalb – die sich das sowieso leisten können – ihre Eintrittskarten etwas billiger kriegen? Das erste Festival meiner Ägide 2016 war schwierig, fast so wie ein Strömungsabriss beim Flugzeug: Das ältere Stammpublikum aus dem Westen kam nicht mehr, weil ich die ganzen arrivierten Stars nicht mehr eingeladen hatte, sondern andere, jüngere Künstler:innen, und ich wurde von einigen hart kritisiert. Zum Glück ist es dann schon 2018 sehr viel besser gelaufen.
Was haben Sie dafür getan?
Folkert Uhde: Wir haben 2017 ein Jubiläum genutzt, nämlich „300 Jahre Bach in Köthen“ – denn 1717 kam ja Bach hierher. Also haben wir eine Initiative mit einigen Dutzend Leuten hier aus der Stadt gestartet und überlegt, wie wir hier „vor Ort“ näher zusammenarbeiten könnten, das war die Kulturinitiative 17_23. Ich werde nie den Gründungsabend vergessen: Etwa 20 Leute waren versammelt, und ich habe sie gefragt, was sie an ihrer Stadt toll finden. Ich wollte gerade nicht auf das Defizitäre schauen, sondern auf die verborgenen Schönheiten und Chancen nach dem Motto: „Warum lebt ihr hier gerne, worauf seid ihr stolz, was mögt ihr?“ Nach eineinhalb Stunden war die Wand voll mit Ideen und Vorschlägen.
Und was war an der Wand zu lesen?
Folkert Uhde: Ganz vieles, zum Beispiel die hier recht gut funktionierende bürgerschaftliche Gemeinschaft, die kostbaren historischen Orte, die reiche kulturelle Geschichte, die schönen Parks, lebendige Kirchengemeinden … alles durcheinander, aber alles positiv. Das hat mich total beeindruckt, weil es ja oft so ist, dass die Leute immer gerne und schnell meckern.
… und nicht geschimpft ist genug gelobt.
Folkert Uhde: Genau. Aber hier war das Gegenteil der Fall, es kam immer mehr. Und das war der Startschuss, dass wir erst eine kleine Förderung aus dem „Fonds Neue Länder“ von der Kulturstiftung des Bundes (KSB) bekommen haben. Gleichzeitig haben wir unser großes Projekt „Transformation durch Kultur im ländlichen Raum“ ausgearbeitet – und wir haben uns für das Trafo-Programm der KSB beworben. Hier standen das Schloss und das Areal drumherum im Mittelpunkt, denn damit musste man sich ernsthaft befassen, weil es in Teilen ziemlich marode war und völlig unter seinem Potenzial gehandelt wurde. Dabei ist es ein Kraftzentrum und war es auch früher schon, nicht nur in den Jahren des Wirkens von J.S. Bach, sondern weil auch viele andere Persönlichkeiten hier gewirkt haben: Im 17. Jahrhundert wurde in diesem Schloss unter Fürst Ludwig die erste deutsche Sprachgesellschaft gegründet: Die „Fruchtbringende Gesellschaft“, ganz nach dem Vorbild der italienischen Akademien. Anfang des 19. Jahrhunderts hat Johann Friedrich Naumann die Ornithologie in Deutschland begründet. Bis heute ist im Köthener Schloss seine umfangreiche Sammlung von zum Teil längst ausgestorbenen Vogelarten zu bewundern. Etwa zur gleichen Zeit wirkte Samuel Hahnemann, der Begründer Homöopathie, als Leibarzt am Köthener Hof. Der kleine Ort scheint etwas Inspirierendes zu haben, was wir immer noch spüren, nicht nur bei den Bachfesttagen. Jedenfalls sind durch diesen Prozess ganz viele neue Kontakte geknüpft worden, ja eigentlich ist fast so etwas wie eine Bewegung entstanden und dankenswerterweise hat das Land Sachsen-Anhalt das unterstützt und unterstützt es bis heute.
Aber dann kam 2020 Corona …
Folkert Uhde: Ja, leider. Das hat uns zunächst ausgebremst, wir hatten gleich im Frühjahr die Köthener Bachfesttage abgesagt, aber schon im Frühsommer 2020 spürten wir: Irgendwie könnte es doch gehen, und siehe da, es ging, und die Köthener Bachfesttage waren in diesem verkorksten Sommer das einzige Bachfest, das stattfand. Natürlich ganz anders als sonst, mit weniger Publikum, mit kleineren Konzerten. Aber wir haben da auch unendlich viel gelernt (vergleiche https://zeitzeichen.net/node/8770 ). Ich war eigentlich schon immer ein einigermaßen politischer Mensch, aber hatte mich bis dahin nicht öffentlich geäußert. Doch in der Corona-Zeit ist dann vieles sehr schiefgegangen. Nicht in Bezug auf die Politik in Sachen Pandemiebekämpfung, das war jedenfalls nie mein Punkt, denn das ist eh kompliziert. Als Festival konnten wir die Lage gut meistern, haben viel gelernt und sind dafür sogar mit einem Preis der Ostdeutschen Sparkassenstiftung für Corona-konforme Kulturangebote ausgezeichnet worden.
Was war Ihr Ansatzpunkt in Bezug auf Corona?
Folkert Uhde: Es wurden bestimmte gesellschaftliche Verzerrungen sichtbar – gerade in Bezug auf Kunst und Kultur: Unser System von Sozialversicherung funktioniert nicht für freischaffende Menschen, egal ob das nun Künstler:innen sind oder andere Menschen, die freiberuflich arbeiten. Es gibt einfach zu wenig Wertschätzung für diese Arbeit, und es gipfelte 2020 darin, dass die damalige Kulturstaatsministerin Monika Grütters sinngemäß sagte: „Ach, mit Hartz IV fahrt ihr doch ganz gut.“ Man gewann den Eindruck, die deutsche Politik hat von KünstlerInnen ein Bild wie Carl Spitzwegs „Der arme Poet“: Der macht tolle Kunst, kann nicht davon leben, das ist aber kein Problem, weil er’s ja gerne macht
Was würden Sie dem entgegensetzen?
Folkert Uhde: Man muss dringend den Begriff der Arbeit zeitgemäß umdeuten. Ich bin selber schon lange SPD-Mitglied, hier im Ortsverein Köthen. Aber ich streite mich immer wieder leidenschaftlich, warum man denn bitte nicht von diesem Arbeitsbegriff mal wegkommen kann, der nur lebenslange Erwerbsarbeit im abhängigen Beschäftigungsverhältnis kennt. Die wird ja immer weniger, denn es gibt schlicht immer weniger feste Arbeitsplätze, aber immer mehr fluide und mobile Arbeitsformen. Dass hier die soziale Absicherung vernünftig funktioniert – darum muss sich die Politik dringend kümmern. Corona war jedenfalls für mich der Auslöser, auch öffentlich politischer zu werden.
Folkert Uhde, Intendant der Köthener Bachfesttage, im zeitzeichen-Gespräch am 30. August 2024 in Köthen. Foto: Reinhard Mawick
Zurück nach Köthen: Haben Sie den Eindruck, dass Ihr Festival inzwischen wieder vollständig in der Region gelandet ist?
Folkert Uhde: Auf jeden Fall. Wir bekommen seit einigen Jahren einen verlässlichen Zuschuss aus Landesmitteln, die Lotto-Stiftung hilft, die Kreissparkasse Anhalt-Bitterfeld ist unser Hauptsponsor, wir haben lokale Unternehmen als Förderer und einige private Mäzene. Die Verantwortlichen in Sachsen-Anhalt haben verstanden, das dies ein anspruchsvoller Transformationsprozess ist, den wir da angestoßen haben, der noch lange nicht am Ende ist. Denn Transformation braucht Zeit, weil dafür viel Vertrauen nötig ist. Das geht nicht von jetzt auf gleich. Das hat man auch ein bisschen bei der Eröffnung der diesjährigen Bachfesttage gespürt. Ich habe wohl das erste Mal gesagt: Wir oder „unsere Stadt Köthen“, aber das stimmt auch, denn ich habe mich immer mehr mit dieser Stadt, dieser Region und ihren Menschen verbunden gefühlt und wohne auch einen Großteil des Jahres hier. Ich habe hier sehr viele Leute kennengelernt, die sich ohne Eigennutz für die Gemeinschaft engagieren: Sei es im Stadtrat, in Initiativen, Vereinen oder der Kultur. Das nötigt mir einen enormen Respekt ab. Ich glaube, viele Leute aus der Stadtgesellschaft haben inzwischen gemerkt: „Der spinnt nicht, der Uhde, das ist kein bescheuerter Wessi oder Berliner, der hier den Leuten erzählt, was Sache ist, sondern hier wird gemeinsam etwas bewegt, was gut für die Stadt ist.“
Sie sind vor einiger Zeit nach Köthen gezogen und wohnen in einem kleinen Haus in der Innenstadt, das Sie in jeder freien Minute selbst ausbauen und renovieren. Wie kam es dazu?
Folkert Uhde: Das mit dem Haus in der Innenstadt war einfach ein Riesenglücksfall. Ich wäre wohl nicht in ein Haus oder eine Wohnung irgendwo in der Peripherie Köthens gezogen, das hätte keinen Sinn gehabt. Aber so ein historisches Gebäude, das inspiriert mich total, mein Haus ist aus dem späten 16. Jahrhundert. Und ich kann ziemlich sicher sein, dass Johann Sebastian Bach hier jeden Tag auf seinem Weg zur Arbeit im Schloss vorbeigegangen ist. Gleich hier vorne um die Ecke hat er laut Aktenlage sein Bier geholt, denn dort war ein Brauhaus. Man könnte also sagen: Ich wohne gleich neben Bachs ehemaligem Bierkiosk. Und ich kann hier aus dem Fenster den Wendelstein sehen, also den Turm des Schlosses, in dem Bach hier in Köthen gearbeitet hat. Das fand ich toll. Das hat mich total fasziniert. So kam eins zum anderen, und ich fühle mich hier einfach wohl! Ehrlicherweise muss man aber auch sagen, dass man hier ein Haus für einen Preis kaufen kann, wofür man in Berlin nicht einmal eine Einzimmerwohnung bekommen würde.
Also setzen Sie das um, was unsere Bundesbauministerin Klara Geywitz jetzt kürzlich empfohlen hat: Zieht aufs Land, hier gibt es Raum?
Folkert Uhde: Was heißt hier aufs Land? Köthen ist einmal pro Stunde in beide Richtungen mit dem IC angebunden zwischen Leipzig und Hannover. Ich brauche 20 Minuten bis zur Schnellstrecke in Halle, um da einzusteigen. Ich bin also schneller in München als von Berlin aus. Und auch wenn man mit dem Auto fährt, gibt es eine sehr gute Anbindung zwischen den beiden Autobahnen, die nach Hannover und die über Leipzig gehen, und in eineinhalb Stunden ist man in Berlin. Ich finde, das ist ziemlich zentral.
Also: Zieht nach Köthen!
Folkert Uhde: Ja, ich werbe sehr dafür, denn hier gibt es noch genügend Leerstand. Wobei das ein schrecklicher Ausdruck ist, denn Leerstand braucht keiner. Ich sage lieber: „Herrlich, hier gibt’s noch Raum!“ Es gibt hier Platz, um alle möglichen Dinge zu machen. In Großstädten geht das kaum noch, die platzen aus allen Nähten, nicht nur Hamburg, Frankfurt oder Stuttgart, sondern auf Sicht wird das in allen Großstädten schwieriger werden. Köthen hat eine ganz gute Infrastruktur, ich kenne inzwischen auch die Schulen, einige Lehrer:innen, es gibt sogar eine Hochschule. Das ist schon sehr stimmig, aber es gibt noch viel mehr Potenzial – nicht nur durch die bauliche Geschichte, sondern durch das, was jetzt schon entstanden ist. Also: Alles andere als hoffnungslos!
Steht dafür einer der drei Hashtag der Köthener Bachfesttage: #absolutgegenwärtig?
Folkert Uhde: Ja, und damit ist nicht abstrakt „die Gegenwart“ gemeint, sondern „das Gegenwärtige“, also das Gefühl, wirklich am Puls der Zeit zu sein. Denn das war Bach in seinen Köthener Jahren: Er hat das allererste Klavierkonzert der Welt hier komponiert und aufgeführt – wir kennen es heute als fünftes Brandenburgisches Konzert. Er hat sich Instrumente ausgedacht und bestellt, hat ständig mit Formen experimentiert, und am Ende standen Konzerte wie das zweite Brandenburgische, mit vier komplett unterschiedlichen Solo-Instrumenten – Trompete, Oboe, Violine und Blockflöte – verrückt! Er muss auf jeden Fall hier total gute Musiker gehabt haben. Übrigens wissen wir bis heute leider nicht genau, welche Instrumente die in einigen Fällen benutzt haben, und wie das so gut funktionieren konnte. Aber wir bleiben dran!
Folkert Uhde, Intendant der Köthener Bachfesttage, im zeitzeichen-Gespräch am 30. August 2024 in Köthen. Foto: Reinhard Mawick
Gegenwärtig sind Sie auch mit ihrem politisch-gesellschaftlichen Engagement am Puls der Zeit, nicht nur für die Interessen diejenigen, die in der Kultur freischaffend tätig sind. Wie kam es dazu?
Wir haben hier in Köthen das wirklich beeindruckende „Bündnis Offenes Köthen“ in dem sich viele Leute zusammengeschlossen haben, und ich bin natürlich dabei. Es hat mich sehr gefreut, dass man mich für die große Kundgebung Anfang März als Hauptredner eingeladen hat. Aus diesem Anlass hatte ich noch einmal sehr genau Texte von Björn Höcke und das AfD-Parteiprogramm gelesen und habe festgestellt, dass da wirklich all dieses völkische Zeug drinsteht, zum Beispiel im Hinblick auf das Bild der Frau. Wenn auf den AfD-Plakaten steht: „Wir setzen uns für Familien ein“, dann ist gemeint: Mutti bleibt zuhause und kriegt zehn Kinder, damit es mehr Deutsche gibt. Und gleichzeitig wird die Kinderbetreuung drastisch eingeschränkt, sie soll es erst für Kinder ab drei Jahren geben. Nach der Veranstaltung kamen Menschen zu mir und sagten mit Tränen in den Augen: „Das wussten wir nicht.“ Da kann ich nur sagen: Lest das, nehmt das ernst, es steht alles drin! Es graust mich, wenn ich dann lesen muss, dass unsere Bach- und Schütz-Festivals in Mitteldeutschland als Positivbeispiele für „deutsche Kultur“ aufgenommen sind. Schrecklich!
Sind schon einmal von Rechten bedroht worden?
Folkert Uhde: Nein, noch nie. Ich habe auch nicht im Ansatz jemals das Gefühl gehabt, dass da irgendwas ist. Ich setze mich hier in Köthen durchaus auch mit AfD-Stadträten auseinander, denn unsere Bachgesellschaft ist eine 100prozentige Tochter der Stadt.
Wie viele AfD-Stadträte gibt es in Köthen, und müssen Sie Angst vor denen haben?
Folkert Uhde: Es sind nach den Kommunalwahlen in diesem Jahr 6 von 38. Warum sollte ich Angst vor denen haben? Intellektuell muss ich das sicher nicht, und sie bedrohen mich auch nicht, und ich habe den Eindruck, die AfD-Abgeordneten sind im Rat ziemlich isoliert. In anderen Kommunen der Nachbarschaft, zum Beispiel in Bitterfeld, ist dagegen die CDU sehr gespalten zwischen denen, die sich eine Zusammenarbeit mit der AfD vorstellen können und denen, die sie – wie hier in Köthen – klar ablehnen.
Also ist es diesbezüglich eine günstige Lage in Köthen?
Folkert Uhde: Ja, denn es gibt es wirklich eine lebendige Stadtgesellschaft. Leute, die sich kümmern, die sich einsetzen, und das hat mich total beeindruckt, denn das sieht man anfangs nicht. Dafür muss man wirklich länger hier sein. Da reicht es nicht, wenn man weiß, wie die Leute heißen und wenn man sie auf der Straße begrüßt, sondern man muss ein Teil davon werden und sich auch mit engagieren. Dann kriegt man auch mit, was die anderen so alles machen, und das macht gegenseitig Mut und gibt Hoffnung für die Zukunft. Und ich bin der Überzeugung, dass medial viel mehr darüber berichtet werden sollte, was gut läuft – und das ist eine ganze Menge. Das Engagement für Demokratie und Vielfalt, für lebendige Stadtgesellschaften, Wiedergewinnung von Kulturorten, Festivals, Theater ist in den ostdeutschen Bundesländern viel stärker als im Westen. Wirklich beeindruckend. Im Juli habe ich anlässlich der Etablierung der Kreis- und Stadtparlamente nach den Regionalwahlen dazu einen Aufruf gestartet.
Könnte sich auf Sicht so auch die Basis der Interessierten am Ort und aus der Region für die Köthener Bachfesttage verbreitern?
Folkert Uhde: Natürlich. Das geht Hand in Hand. Unsere Bachfesttage sind zwar nur alle zwei Jahre. Trotzdem wissen die Hoteliers und Restaurants, dass die Stadt dann deutlich voller ist, und das freut alle. Und da das hier auf niedrigem Niveau startete, ist es für die Gastronomie durchaus etwas, was sich lohnt. Nächstes Jahr fangen wir an, hier Kurse anzubieten, dann beginnt unabhängig von den Festtagen die Köthener Bach-Akademie. Da beschäftigen wir uns mit zeitgemäßer Konzertkultur und analysieren, in welche Richtung sich die Gesellschaft entwickelt und wie wir als Kulturproduzierende darauf reagieren können. Alte und Neue Musik zu verbinden und neue elektronische Medien zu benutzen – das machen wir ja schon eine ganze Weile. Und vergessen wir nicht: Bach, also der junge Bach, der in Köthen wirkte, war ja auch ein Innovator in seiner Zeit. Er hat Instrumente bestellt und möglicherweise konzipiert, die es vorher noch nicht gab. Diesem Innovationsgeist wollen wir hier auch immer weiter nachspüren.
Die Konzerte sind hier anders als bei herkömmlichen Festivals, man könnte es auf den Nenner bringen: Durchaus viele am Tag, aber dafür kurz und prägnant. Welches Konzept steckt dahinter?
Folkert Uhde: Ich wollte auf jeden Fall weg von langen Konzerten. Ich war noch nie ein Fan davon, außer bei der Matthäus-Passion, da muss es halt sein. Aber auch die kann man unterbrechen und zwischendurch etwas anderes machen. Es ist ja oft so, wenn man ehrlich ist, dass Konzertprogramme häufig „aufgefüllt“ werden mit Musik, die dazu dient, dass man das Publikum erstmal eine Viertelstunde „aufwärmt“. In der Corona-Zeit haben wir gelernt: Wir müssen viel kürzer sein, schon aus praktischen Gründen und aufgrund der gesetzlichen Vorgaben. Da habe ich gelernt, dass 45 Minuten am Stück Musik zu hören und dann 75 Minuten Pause, viel besser ankommt, als 100 Minuten am Stück Musik zu hören mit zehn Minuten Pause – denn die meisten Menschen sind schlicht erschöpft. Das andere ist: Der Abstand, der zwangsläufig zwischen den einzelnen Plätzen des Konzertpublikums eingehalten werden musste, führte dazu, dass es meist mucksmäuschenstill war und zwar schon zehn Minuten vor dem Konzert. Zwei Meter Abstand machten es schlicht unmöglich mit dem Nachbarn privat zu reden und so haben sich die meisten total eingelassen auf den Raum und auf die Atmosphäre. So herrschte beim ersten Ton schon maximale Konzentration.
Vermag das Publikum durch die kürzere Dauer möglicherweise auch das Dargebotene mehr zu schätzen?
Natürlich, das ist ein wichtiger Punkt. Besonders beim „Corona-Festival“ 2020 gab es bei vielen das dankbare Gefühl: „Es ist Corona, aber wir kriegen trotzdem so etwas geboten …“. Diese besondere Situation hat bei vielen das Bewusstsein geschärft, dass diese 45 Minuten total kostbar sind, auch durch die zeitliche Limitierung. Oft setzt man sich in ein Konzert und weiß nicht, wie lange das dauert. Es kann bis zwanzig vor Zehn gehen oder aber auch bis zwanzig nach Zehn. Das schafft eine innere Unruhe. Wenn die Sachen aber klar getimed sind, dann herrscht eine ganz andere Konzentration auf die Musik. Dass mit dem Timing habe ich in London gelernt: In Covent Garden steht auf die Minute genau drin, wie lange die erste Hälfte dauert und wann die zweite Hälfte endet, und man weiß, wie lange die Pause ist, und in der Pause sagen Sie dann irgendwann durch: „Ladies and Gentleman, the interval ends in 5 minutes…“ und dann kann man überlegen, stelle ich mich noch schnell am Getränkestand an oder gehe ich lieber nochmal zur Toilette.
Klingt nach Überregulierung …
Folkert Uhde: … ist aber letztlich ein Stück Lebenshilfe für das Konzertpublikum. Außerdem setzt diese angesagte Kürze eine ganz andere Energie frei und zwar auf beiden Seiten – auch bei den Ausführenden. Es ist wie beim Fußball, wenn Verlängerung ist, und Du weißt: Jetzt muss es sein. Da ist nichts mit langsam reinkommen, da musst Du auf den Punkt sein. Bamm! Und aus dieser Haltung entstehen sehr intensive Konzerte. Es macht auch die Musiker:innen noch besser, denn sie wissen: Jetzt muss es auf den Punkt passieren, und dann riskieren sie auch mehr.
Dass Sie sich auf Bach fokussieren liegt natürlich nahe, weil er in Köthen wirkte. Aber was ist inhaltlich der Kern Bachscher Musik, was ist bei Bach das Besondere für alle Völker und Zeiten? Wie würden Sie es in Worte fassen?
Folkert Uhde: Vielleicht ist die Musik Johann Sebastian Bachs tatsächlich die einzige Musik, die alle Menschen auf der Welt inspiriert. Wenn ich wüsste, warum das so ist, dann würde ich wahrscheinlich reich werden. Die einen sagen, es ist das mathematische an seiner Musik, die anderen meinen, es wäre eher das rhythmische oder das lyrische Element. Ich glaube, es ist die Gleichzeitigkeit von Einfachheit und Komplexität. Dazu kommt, dass Bach kaum Dynamik oder andere Vortragsbezeichnungen in seine Noten geschrieben hat. Insofern ist Bachs Musik wie die geniale Konstruktion eines Hauses, aber man kann selber entscheiden, in welcher Farbe man die Wände anstreicht und wo die Küche hinkommt. Bachs Musik ist ein Formgebäude, was diese formale Strenge hat, aber gleichzeitig voll mit Emotionen ist, es gibt bei ihm keinen Ton, bei dem es um nichts geht, sondern es geht immer um alles im Leben und um das Geheimnis.
Das Gespräch führte Reinhard Mawick am 30. August 2024 in Köthen.
Intendant Folkert Uhde spricht zur Eröffnung der Köthener Bachfesttage am 28. August 2024 im Johann-Sebastian-Bach-Saal des Köthener Schloss. Foto: Henner Fritzsche/Köthen
Folkert Uhde
Folkert Uhde, Jahrgang 1965, gründete nach Stationen als Techniker, Barockgeiger Konzertagenturbetreiber und Orchestermanager gemeinsam mit Jochen Sandig 2006 die Veranstaltungsstätte Radialsystem V in Berlin. Der gebürtige Wilhelmshavener ist unter anderem Programmgestalter des Festivals „Zwischentöne“ in Feldkirch/ Österreich, leitet seit 2015 die Köthener Bachfesttage und unterrichtet unter anderem an der Zeppelin Universität Friedrichshafen und der Musikhochschule Trossingen.
Reinhard Mawick
Reinhard Mawick ist Chefredakteur und Geschäftsführer der zeitzeichen gGmbh.